Kitabı oku: «Perlen und schwarze Tränen», sayfa 3
Feuer
Meine Phantasie gewann wieder einmal die Oberhand. Ich sah Jane, im Nebel verirrt; von unfreundlichen Negersoldaten belästigt, einen dicken Mantel hurtig über den Kopf geschlagen und fort mit ihr – geraubt. Ich sah ihren zermalmten Körper unter den Rädern eines Autobusses oder fortgespült in den Wassern der Themse, wo er zu einem elenden Ende unter den scharfen Schneiden einer schwarzen Schiffsschraube kam.
Der Arbeiter stellte sich vor mich und sagte mit hohler Stimme:
»Sie haben noch nicht zu hassen gelernt.« »Nein«, sagte ich. »Warum sollte ich auch?« Worauf der Mann seine eigenen Erlebnisse zu erzählen begann.
Er war augenscheinlich vor kurzer Zeit ganz zufällig in
eine Versammlung geraten. Dort wurde er sofort von einer Menge junger Frauen umringt, die alle eifrig der Rede einer offenbar erwachsenen Frauensperson auf der Rednerbühne lauschten.
Diese Frau, sagte der Arbeiter, sei gut angezogen gewesen und alles in allem recht angenehm anzuschauen. Sie erzählte ihre Lebensgeschichte; wie sie das erstemal geheiratet hatte, einen Fliegeroffizier, der im Jahr 1943 von den Deutschen über Frankreich abgeschossen wurde; baldigst heiratete sie dann einen Major, der für eine Kandidatur als Abgeordneter der Arbeiterpartei in Aussicht genommen war und bei Arnheim von den Boches getötet wurde. Die Frau sprach eindringlich, doch ohne besondere Erregung, und sie bestand darauf, daß ohne Haß der Krieg unmöglich zu einem entscheidenden siegreichen Ende gebracht werden könne; auch würde es ganz und gar unmöglich sein, die neue Welt, für die man kämpfte, aufzubauen – ohne Haß. Sie sagte, sie sei bereit, »Schulen des Hasses« für junge Damen zu eröffnen. Ob sie sich mit dem Gedanken trug, auch ihren nächsten Gatten aus den Wehrkräften Großbritanniens zu wählen, ward nicht erschlossen.
Der Arbeiter, der genau so verwirrt dreinsah wie die jungen Frauen, verließ den Versammlungssaal. Er fühlte sich außen durstig und innen traurig, denn er hatte soeben entdeckt, daß er die einzige königliche Krawattennadel verloren hatte, die er je sein eigen genannt. Sie war ihm von dem verstorbenen Herzog von Kent verliehen worden für tapferes Verhalten vor Wilddieben, die in königlichen Besitz einzudringen versucht hatten. Der Mann hatte also jetzt sein einziges Unterpfand königlicher Huld und Dankbarkeit verloren, zwischen Buckingham Palace und Victoria. Und der Name des Mannes war Sweeney, ein klassischer Name.
Da Sweeney seine Krawattennadel zurückhaben wollte, begab er sich auf eine Polizeistation. Er fand dort eine Menge Konstabler um einen Ofen geschart; ein Polizeioffizier mit einem schönen Bart verbreitete sich über den Krieg. Der Offizier erklärte, persönliche menschliche Tragödien seien unvermeidlich im Krieg, während doch der Arbeiter bisher immer geglaubt hatte, der Krieg selbst sei eine menschliche Tragödie. Ein anderer Polizist, der gemütlich beim Feuer saß, behauptete, der Krieg werde geführt, um uns die Chance zu geben, eine bessere Welt aufzubauen. »Schon gut«, sagte Sweeney, »doch wie steht’s mit meiner königlichen Krawattennadel?« Alle kehrten sich ihm zu; einige runzelten die Stirne, andere zuckten die Achseln. Niemand schien besonders interessiert zu sein an dieser oder irgendeiner anderen Krawattennadel. Der schöne Bart warf so nebenbei hin, Krieg mache uns müde und habe uns unmanierlich gemacht. Der Arbeiter schrie seine Zustimmung heraus; alle grinsten wie Schafe, doch der Fall der königlichen Krawattennadel wurde nicht aufgenommen.
Auf dem Heimweg dachte Sweeney über den Vorschlag, zu hassen, nach und legte sich die Frage vor, warum er nicht die ganze Welt hassen sollte. Seine Frau hatte ihn bestimmt enttäuscht durch ihr Nichterscheinen bei dem Rendezvous, und seine Kinder hatten sich wahrscheinlich im Nebel verirrt. Der Arbeiter fühlte sich ganz krank und bat in das nächste Krankenhaus gebracht zu werden. Eine Frau mit Pelzmantel sagte mit rauher Stimme: »Aber Sie sind ja nicht verwundet: Wie können Sie es nur wagen?!« Der Arbeiter Sweeney öffnete einfach Mantel und Brust und zeigte ihr sein Herz, das entzweigerissen war.
Er wurde in eine Abteilung des Hospitals geschafft, die voll war mit deutschen Kriegsgefangenen. Es waren junge Burschen, die unter Netzen gehalten wurden; sie sahen alle ungeheuer läppisch und ungeheuer elend aus. In seinem Bericht verglich sie der Arbeiter mit Insekten, mit Larven zum Beispiel oder mit Fliegen und Motten. Der Arbeiter schob ihnen ein paar von seinen Zigaretten hinein, und ein Bursche dankte ihm auf englisch. Ein anderer Bursche war an einem mächtigen, ganz einfachen Apparat aufgehängt, der wie ein Kreuz aussah. Der Bursche hing dort still und regungslos. Sweeney schüttelte zwei anderen Burschen die Hände, drehte sich einem der Ärzte zu und sagte voll Stolz: »Ich hoffe, meine Handlung läßt in Deutschland ein Licht aufgehen.«
Doch der Arzt, der ein Jude war, bemerkte voll Trauer: »Und damit die Juden zu brennen.«
Der Arbeiter wurde seiner Krankheit entsprechend behandelt; man gab ihm eine Medizin, die er mit größtem Widerwillen schluckte. Der Krankenwärter, der ihn zum Haupteingang zurückbrachte, war ein Musterexemplar britischen Mannestums, breitschultrig und fast unschuldig. Er bot dem Arbeiter einen Waggon Konserven an, und Sweeney fragte, wie er, der Krankenwärter, in ihren Besitz gekommen sei. »Wir waren in Neapel«, sagte das breitschultrige Baby und lachte herzlich. »Wir haben mit der Ortsbevölkerung gute Geschäfte gemacht. Sie überfielen die Lastwagen. Wir nahmen uns, was darauf war. Wir haben in sechs Wochen zweiundzwanzig Italiener umgebracht.«
Da erglühte der Arbeiter vor Seligkeit, weil er so weit fort war von den Mißlichkeiten der Front. In der Ferne erblickte er im Dunkel Piccadillys das Abbild eines reizenden Mädchens in Pelz, mit einem rostroten Armband am Handgelenk ihrer Rechten. Der Arbeiter sagte sich, es wäre schon der Mühe wert, jemanden umzubringen, um dieses Mädchens willen. Als er dann bei Glasshouse Street um die Ecke bog, wurde er überfallen. Drei andre Mädchen entstiegen dem Nebel. Eine hielt ihn mit dem üblichen Angebot auf, die zwei andern packten ihn an den Armen. Ein Mädchen schlug ihm ins Gesicht und erwischte seine Brieftasche. Die Mädchen waren gut gekleidet und dufteten nach Parfum. Das Erlebnis machte ihm nichts aus, aber die Medizin, die man ihm im Krankenhaus gegeben hatte, begann jetzt Folgen zu haben.
»Warum auch nicht?« fragte sich Sweeney, der Tägliche Arbeiter, während er weiterwandelte, aber ohne Brieftasche. »Warum nicht einen Mord begehen? Das tut doch jeder.«
Der Schlüssel fiel ihm ein, den ihm die Dame in der Nachbarstraße gegeben hatte. Er hatte sie bei einer Gesellschaft am Silvesterabend getroffen, da schon alle stockbesoffen waren, und er erinnerte sich jetzt, daß ihm die Dame gesagt habe, sie führe ein Doppelleben, in Bayswater und in Mayfair. Das paßte ihm ausgezeichnet; und er suchte mit der Taschenlampe die Namenstafeln an den Haustoren ab.
Er öffnete beide Türen und betrat die luxuriöse Wohnung. Die Dame vom Silvesterabend lag auf einem Diwan, völlig bekleidet, im Halbschlaf. Er stürzte sich auf sie, doch sie wachte nicht auf. Arbeiter Sweeney dachte, er müsse sie an ihrer Doppelpersönlichkeit packen; er umarmte sie also mit größter Leidenschaft. Plötzlich entdeckte er, daß er sie bereits getötet hatte – erstickt in seinen Umarmungen. Er leuchtete ihr mit der Taschenlampe ins Gesicht und bewunderte ihren makellosen Teint. An ihrem Hals waren keine Würgspuren zu sehen, doch leichte Abschürfungen hinten an ihren wohlgestalteten Beinen.
Der Arbeitsmann der Ewigkeit saß auf der Anklagebank, bevor er noch ein Vaterunser beten konnte. Er erklärte, nicht schuldig zu sein, und stellte einen abträglichen Vergleich her zwischen seinem eignen Schicksal und dem eines Hundes. »Während Menschen«, sagte er zu den Geschworenen mit weinerlicher Stimme, »die einen Hund im Haus haben, ihm eine Menge zu essen geben und ein hübsches Lager, um drauf zu schlafen, und ihm ein Bad geben – hätte ich eigentlich ›Pechvogel‹ heißen sollen und nicht Smith –«
Aber wo war die Dame Smith, auf die ich wartete, Miß Jane Smith? War auch sie erdrosselt? Auch sie hatte einen tadellosen Teint und führte ein Doppelleben!
Sweeney sagte: »Ich weiß nur, daß einige Hunde um einiges besser leben, als einige Menschen heute leben –«
Die Geschworenen begannen zu zittern und zu weinen, und der Vorsitzende unterdrückte einen Seufzer. Ein andrer Mordfall wurde aufgerufen, und der schien viel interessanter zu sein als der Fall der ermordeten Dame mit tadellosem Teint. Vor vierundzwanzig Jahren war eine Frau zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden wegen Mordes an einem wohlhabenden Bergwerksbeamten, dessen Leiche in einer versiegelten Gruft unter einer Kirche gefunden worden war. Die Freundin dieser Frau glaubte an ihre Unschuld; diese Frauenfreundin kämpfte jahrelang um die Freiheit der Frau – frei wollte sie sie haben. Nach achtzehn Jahren wurde Mrs. Judson, die angebliche Mörderin, unter Polizeiaufsicht entlassen. Doch jetzt hatte man die entkleidete Leiche der Freundin im Garten von Mrs. Judson ausgegraben, und Mrs. Judson war des Mordes an der Freundin angeklagt.
»Sehr interessant«, sagte der Mörder-Arbeiter und verließ den Gerichtssaal. Er war froh, nicht gehängt zu werden, war aber verwundert und fühlte sich ein wenig vernachlässigt. Es war ein herrlicher Sonnenaufgang über Fleet Street und der Mann wollte ein Frühstück. Er betrat eine Milchtrinkhalle, aufrecht und stolz, denn er hatte ja das Geld bei sich, das er in der Wohnung der Dame mit dem Doppelleben gefunden hatte. Neben ihm saß auf einem der hohen Barstühle eine junge Mutter, die ihr Knäblein mit Kaffee und mürbem Gebäck fütterte. »Ein Kind ist besser zu Hause zu nähren«, sagte Sweeney. »Haben Sie noch nicht gehört, wie herrlich es in der Natur eingerichtet ist, die jede Mutter mit ausreichenden Nährmitteln versorgt?« Und er zwickte die Mutter in die Brust. »Was unterstehn Sie sich?!« schrie die Mutter, und das Kind brüllte. Es war ein abstoßend häßliches Kind und hielt ein abstoßend häßliches Spielzeug auf dem Schoß. Der Arbeiter wollte die Mutter wieder versöhnen und begann das Kinderspielzeug zu bewundern. Das war ein Reiter, hoch zu Roß, aus Holz mit ein paar farbigen Flecken Stoff um Haupt und Brust, um ihn kriegerischer aussehen zu machen. »Was für ein prachtvoller Soldat!« sagte Sweeney und riß dem Kind den Holzreiter weg. Das Kind brach in wildes Geheul aus, und der Arbeiter rannte davon, ohne Frühstück gegessen zu haben. Er dachte, das Kind sollte ihm lieber dankbar sein. Übrigens könnte er ja den Spielzeugraub von Dreijährigen planmäßig betreiben und das Spielzeug an bedürftige Spielzeughändler weiterverkaufen; danach war große Nachfrage, heutzutage, im sechsten Kriegsjahr.
Ein uralter Mann tippte ihn auf die Schulter, als er gerade den Strand kreuzte. Der alte Kerl sagte mit seiner leisesten Stimme: »Marschall für Hof gesucht. Gutes Quartier, gute Bezahlung und Urlaub.«
»Fein!« sagte der Arbeiter und lächelte. »Ich komm mit Ihnen.«
Der Marschall wurde auf einen großen, leeren Hof geführt. Dort wurde er allein gelassen und ihm die Erlaubnis erteilt, unbehindert alle Gebäude und Räume zu durchstreifen. Er sammelte ein Heer im Stall und marschierte mit ihm ins Schlafzimmer des Schloßherrn. Im Schlafzimmer standen keine Betten; es gab also keine Möglichkeit, strategische Stützpunkte zu besetzen. Die Armee rückte in das Badezimmer ab und der Arbeiter befahl seinen Traumsoldaten, ihre Stiefel und Uniformen abzulegen und ins Wasser zu springen. »Sachschaden: Null. Verluste: Null«, sagte der Arbeiter. »Ein schöner Krieg. Besser ein Marschall an einem Hof als bei einem Heer.«
Dann öffnete er die Türe zur Tenne, wo er mehrere hochgestellte Zivilisten vorfand. In den vier Ecken des Raumes saßen junge Burschen an Schreibmaschinen. Die gesetzteren Mitglieder der Gesellschaft flüsterten ihm zu: »Psst – wir sind gerade dabei, die Entscheidung zu treffen.« »Entscheidung – worüber?« fragte Sweeney, der Arbeitsmann, und richtete sich auf den Hinterpfoten auf. »Marschall bin hier ich – Entscheidung, wer daran Schuld trägt.«
»Ich – ich kann Ihnen das sagen!« schrie ich. »Ich – Johnny Truck auch Hans Flesch genannt. Ich kann Ihnen sagen, wer daran schuld ist und mich hier so lange warten läßt.« Meine Wangen waren purpurrot, meine Stirne glühte, und ich schwenkte die Zeitung vor Sweeneys Gesicht. Ich war sehr aufgeregt. »Schau auf die Uhr! Fast eine Stunde zu spät! Nachrichten in Schlagzeilen! Daß ich nicht lach’! Sie sind verantwortlich!«
»Wer sind sie?« fragte der Mann, und an seiner Seite stand die Frau. Sie wenigstens war nicht zu spät gekommen.
»Sie sind wir. Wir selbst. Wir sind verantwortlich.«
»Nicht ganz«, sagte der Portier des Lokals. »Wollen der Herr vielleicht mit mir kommen, bitte?! Der Mann in der Herrentoilette hat Ihnen etwas zu bestellen.«
»Oh«, sagte ich. »Ich habe ganz vergessen.«
Ich ging in die Herrentoilette. Ich hatte die Vorstellung, daß Jane nicht komme, weil meine Schuhe so schmutzig waren.
Hinrichtung
Ich habe vorher gesagt, daß der Diener in der Herrentoilette ein Neger war, doch seine Haut war nicht ausgesprochen schwarz. Die Farbe war eher gelblich, an den Wangen dunkler und um Augen und Mund lichter. Er beugte sich mit großer Würde nieder und begann, meine Schuhe zu bearbeiten. Er war nicht gesprächig, und ich fühlte mich vereinsamt. Ich sagte etwas über den schrecklichen Nebel, doch der Mann bürstete drauflos, in unbeirrbarer Berufsmäßigkeit. Plötzlich bemerkte ich, daß auf dem Oberleder meiner Schuhe weiße Flecken und Punkte erschienen. Buchstaben formten sich, und bald konnte ich zwischen Schuhspitzen und Absätzen in winzigstem Druck Schlagworte wahrnehmen. Ich las: »GATTE LIEGT OST, GATTIN LIEGT WEST«; und: »EIN ALTER KLASSIKER«; und: »MR. BROWN, FAKTOTUM DES LEDIGEN BISCHOFS«; und: »HOAMG’FUNDA!« – eine Inschrift, die mir besonders widerlich erschien, ich mußte mich vor Scham und Schmerz nahezu erbrechen. Wir waren völlig allein in der Herrentoilette, ich fragte also den Mann sofort, was das zu bedeuten habe; ob er sich nicht darauf verstehe, richtig Schuhe zu putzen oder ob das ein Reklametrick sein sollte für dies oder jenes. Er gab keine Antwort und arbeitete weiter.
Ich zwang mich, nicht hinunterzusehen, und blickte mich um. Ich lauschte auf die langsam fließenden Bäche, die die Marmorplatten hinabströmten, eine Zeitlang in regelmäßiger Spärlichkeit, dann auf einmal in stärkerem Strom, wie ein Wasserfall brausend und zischend, als müsse das Wasser in einem einzigen Schwung den aufgespeicherten Schmutz der Jahrhunderte wegspülen. Ein zweiter Kunde trat ein; und hinter einem Vorhang trat ein zweiter Schuhputzer in Erscheinung, ein Mann von weißer Hautfarbe, der teuflisch grinste und sich an das zweite Paar Schuhe machte.
Ich warf einen verstohlenen Blick hinüber und bemerkte dort dieselbe Erscheinung. Dort konnte ich lesen: »FRONT VORSPRUNG WIRD ABGESCHRIEBEN« und: »FRAU DES DOPPELMORDES ANGEKLAGT« und: »ICH SAH JUNGE BURSCHEN IN EINEM NETZ« und: »TAUBSTUMME FUSSBALLMANNSCHAFTEN«. Ich fühlte mich erblassen, mit einem Schwarzen konnte ich es in der Hautfarbe bestimmt nicht aufnehmen. Ich mußte weiß sein wie Elfenbein, fast so weiß wie die Marmorfliesen des Pissoirs. Der Schwarze war mit der Arbeit fertig. Ich deutete auf meine Schuhe, die ihre Schlagworte deutlicher zeigten denn je. »Was soll das heißen?« fragte ich recht verärgert. »Schluß mit diesen Dummheiten! Für Eure billige Reklame zahle ich nichts.«
Der Neger kümmerte sich nicht um meine Worte. Er bürstete jetzt meinen Überrock ab, mit graziösen Gebärden, fast zärtlich. Er fuhr mit der Bürste über meine Ärmel und dann über meine Brust. Ich las: »WEIBLICHE GANGSTER IN PICCADILLY« und: »DU MUSST LERNEN ZU HASSEN« – das war über meinem Herzen eingeschrieben und auf meinem rechten Ärmel: »KÖNIGLICHE KRAWATTENNADEL VERLOREN« und auf meinem linken: »SPIELZEUGRAUB AN KLEINKIND«.
Ich wandte mich dem andern Kunden zu, der mit dem zweiten Diener ein lebhaftes Gespräch angeknüpft hatte; sie sprachen über Pferderennen. An seine Brust war geschrieben: »SCHULARBEITEN VERLESEN IN BEWEISVERFAHREN«; sein Rücken wies die Inschrift: »PROBLEM DER WOCHE!« mit einem großen Ausrufungszeichen dahinter. Weiß Gott, welche Mahnworte in meinem Rücken eingegraben waren.
»Aber das ist doch einfach Blödsinn«, rief ich und zeigte auf meine Schuhe. »Können Sie denn nicht lesen? Bezahlt man Sie dafür?« Der Schwarze zuckte mit den Achseln. Er sagte: »Es ist die Wahrheit. Es steht in der Zeitung. Wir sind von Zeitungen eingewickelt.« Mein Negerdiener streckte die Hand hin, ganz wie ein alter Bettler, der alte Ansprüche hat. Ich mußte ihm was geben. Ich fischte aus der Tasche einen Schilling, doch der alte Neger schüttelte den Kopf. »Geben Sie mehr und ich zeige Ihnen auch mehr«, sagte er. Ich war wütend, mußte aber seine Würde bewundern. Als ich ihm dann eine halbe Krone gab, schien er endlich zufrieden zu sein. »Sehen Sie mal zu, was jetzt passiert!« sagte der andre Kunde. »Ich habe meinem Mann nur zwei Schillinge gegeben. Der ist dabei wenigstens ein Christenmensch.« Ich war schwindlig, als sei ich auf einem Ringelspiel gefahren. Die Marmorplatten traten in den Hintergrund zurück. Das Wasser fiel in einem gewaltigen Sturz nieder und hörte dann plötzlich auf zu fließen. Meine Augen öffneten sich, und mein Mund schrie: »Ich weiß! Oh, ich weiß! Es ist ihre Schuld! Die Journalisten!«
Vor der wässerigen Fläche, in verschiedenen Stellungen und Gestalten, erschienen die Journalisten. Sie waren aneinandergekettet und schoben Arme und Beine in ruckartigen Bewegungen hin und her. Sie brüllten und schrien mit hohen Stimmen, und mit ihren Händen schienen sie unsichtbare Worte in die Luft zu schreiben. Dort stand ein alter Mann mit einem langen, grauen Bart, der ihm die halbe Brust bedeckte. Dieser da sah bleich drein; ein andrer war frech und fesch; jener wieder hatte einen kecken Schnurrbart. Auch eine junge Frau stand mitten unter ihnen, ein kleines Reptil mit einer schlanken Figur und abgebissenen Fingernägeln. Überhaupt hatten alle was an ihren Fingernägeln in Unordnung. Es waren unnatürliche Nägel, im ganzen zu kurz, schmutzig und mit Tintenflecken bis zum zweiten Fingerglied hinauf. Sie wanden sich alle, als fühlten sie Schmerz, doch aus ihrem Geschrei konnte ich einen Ton höllischen, triumphierenden Gelächters heraushören.
Als ich auf sie zu schießen begann, brachte auch mein Kollege eine Maschinenpistole zum Vorschein und untermalte die Salven meines Maschinengewehrs mit den härteren Tönen der kleineren Waffe. Ich lief ihre Reihe ab, von rechts nach links; und dann kehrte ich mich um und nahm sie von links nach rechts unter Feuer. Zuerst schienen sie unverwundbar zu sein; sie setzten einfach ihre frühere Tätigkeit fort, wobei sie bloß ein wenig lauter schrien und noch herausfordernder lachten. Mein Zorn wuchs, und ich versuchte, sie zu überschreien. Mein Kollege grinste und tat seine scheußliche Arbeit.
Denn scheußlich wurde sie. Als ich ihre Reihe zum drittenmal abgelaufen hatte, schien ich endlich Blut zu ziehen. Als erster fiel der junge Mann mit dem bleichen Gesicht – er konnte wegen seiner Ketten den Boden nicht berühren, so hing er also da, schwebend zwischen den Gestänken in der jauchigen Luft. Und als dann der Greis mit dem grauen Bart zum fünftenmal getroffen wurde, da mußte auch er aufgeben; er platzte mit einem Lachen heraus und ließ den Kopf in den Tod fallen.
Damit hatte es noch nicht sein Bewenden. Zwischen den Beinen der Sterbenden kamen andere zum Leben. Sie sahen aus wie Zwerge, doch nicht verkrüppelt oder unnatürlich; eher wie Liliputaner. Meistens waren es Frauen, alte und grauhaarige Frauen, aber auch junge und frische, mit Kindern dazwischen, die noch winziger und lächerlicher aussahen. Alle begannen ein ungeheuerliches Weinen und Heulen; und ich konnte sie ganz gut verstehen, wenn sie schrien: »Erbarmen! Gnade! Wir sind unschuldig! Wir haben nichts verbrochen! Schont uns! Wir sind die Witwen und Waisen! Gnade! Erbarmen!«
Ich schonte sie nicht. Ich hielt nicht inne, die Bösen zu töten, die verantwortlich waren für die Schlagworte auf meinen Schuhen, und für die Schlagzeilen, und für die Bilder zu dem Text, und für die Wirklichkeit zu den Bildern und für das Elend in der Geschichte dieser Welt. Ich erkannte die Lebenden unter den Sterbenden und erledigte sie. Auf jeden schoß ich mehrere Male, meine Munition war unerschöpflich. Ich schoß sie in den Kopf und ins Gesicht, in die Brust und in den Bauch. Ich sah ihr Hirn heraussickern aus der zerschmetterten Schädeldecke und ich sah, wie sich ihre guten Anzüge unter meinen Kugeln zu elenden Fetzen verwandelten. Ich lächelte über die sonderbaren Verdrehungen ihrer zerbrochenen Gliedmaßen, und mein Kollege sagte zu mir: »Das ist recht! Lächle und die Welt lächelt mit dir –«
Draußen in der Vorhalle war ein Lautsprecher angebracht, und dieser Lautsprecher fiel dröhnend ein mit dem bekannten Schlager. Die Musik war laut, doch das Gebrüll und Geschrei der Frauen und Kinder und das Todesröcheln der hingerichteten Journalisten war noch lauter.
Der Gestank des Blutes überstank den Geruch des Desinfektionsmittels und der Exkremente. Die ganze Zeit hatte ich mich gefragt, wann wohl die berühmten Blutlachen auftauchen würden, doch dann sah ich an meinem Überrock hinab und sah meine Schuhe an, wo jetzt die Inschriften verschwunden waren, und ich trocknete mir das Gesicht mit einem Taschentuch, denn ich litt unter der Hitze und dem Staub, und da entdeckte ich, daß zwar kein Blut floß, aber etwas viel Böseres: eine blaue, klebrige Flüssigkeit, die ich nicht kannte. Die Luft wurde damit gesättigt, und verwandelte sich rasch in eine dunkle und klebrige Masse. Ich konnte kaum aus den Augen sehen, doch ich schoß weiter drauf los, und mein Nachbar tat das gleiche. Die beiden Schuhputzer hatten uns schon lang verlassen. Ich schoß, und die anderen lachten und schrien und weinten, und so ging es weiter.
»Seid Ihr unsterblich?« schrie ich und ließ mein MG fallen und sprang vor, um den Rest mit nackten Händen zu erwürgen, Frauen und Kinder und alle.
Doch ich berührte sie nicht. Als ich meine Hände dicht vor ihren Hälsen hielt, verstummte die Musik in der Halle, und eine klare Stimme sagte: »Ihre junge Dame ist soeben eingetroffen. Beeilen Sie sich, sonst verfehlen Sie sie. Sie ist bereits auf der Treppe zur Bar.«