Kitabı oku: «Andersfremd», sayfa 5

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Vieles liegt im Dunkel

Mein Vater, den Fußstapfen seines Vaters folgend, gleichfalls ein Nazi der ersten Stunde, hatte unter Hitler eine führende Funktion in der Kulturpolitik inne. 1936 zur Olympiade in Berlin hielt er sich in unmittelbarer Nähe von Leni Riefenstahl auf. Was ihn mit ihr verband, womit er ihr zu Diensten sein konnte, darüber hat er ebenso wenig gesprochen wie über seine guten Kontakte zu fast allen damaligen Filmgrößen der Ufa. Dank seiner Zuverlässigkeit und Unbescholtenheit, dank seines in Königsberg, Berlin und Jena absolvierten Studiums der Geschichte, abgeschlossen mit einer nationalistisch orientierten bravourösen Dissertation, wie es hieß, zum Thema des Deutschen Ritterordens, winkte ihm eine Reichskarriere, das um so mehr, als der Existenz meines Großvaters der Rang eines erstklassigen Leumundszeugnisses zukam.

Vordamm, wo mein Vater geboren worden ist, war der äußerste, nach Osten vorgeschobene Posten der Provinz Brandenburg. In diesem Grenzbewusstsein ist mein Vater aufgewachsen. Der Weg zum Deutschen Ritterorden mag so zu erklären sein. Sein Doktorvater, Erich Caspar, den sparsamen väterlichen Informationen zufolge Halbjude, hat sich 1935 das Leben genommen. Als mein Vater 1949 in Halle ein Diplom als Gymnasiallehrer erwarb, reichte er, was einer gewissen Dreistigkeit nicht entbehrte, die Dissertation, die von seinem Professor, der sich später gleichfalls das Leben nahm, hoch bewertet wurde, als Examensarbeit ein.

Die zehner, dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts sind gepflastert mit zig Millionen von Kriegstoten, Vergasten und Selbstmördern. Fast hätte sich auch mein Vater direkt oder indirekt am wahnsinnigen Massenmorden beteiligt. 1939 erhielt er einen Ruf ins Reichssicherheitshauptamt, wo er als Historiker die nationalsozialistischen Ordensburgen für den Nachwuchs der Reichselite ideologisch stärken sollte. Meine Mutter, die Ehestreit nicht kannte, beschwor ihn, sich nicht vor den Karren der SS spannen zu lassen. Die rassistischen Parolen der SS waren ihr verdächtig. Sie machte ihren Mann darauf aufmerksam, dass sich der Speer eines Tages auch gegen sie richten könnte, schließlich sei die eigene arische Abstammung als geborene Pietraszewski, zu deutsch: die Ängstliche, allein schon wegen ihres Namens nicht unangreifbar, aber auch die Herkunft seiner Mutter, einer geborenen Wroblewski, könnte bei arischen Rassenfanatikern Anlass zu Stirnrunzeln geben. Wroblewski, zu deutsch der Sperlinghafte, was für ein deutscher Name!

Meine Mutter, die ein Jahr zuvor in Berlin ihren ersten Sohn zur Welt gebracht hatte, war in ihrer unerschütterlichen Liebe stark genug, ihren Mann vor einer törichten Entscheidung, die sich zu einem grandiosen Verbrechen entwickelt hätte, zu bewahren.

Großvater, dem der Entschluss seines Sohnes, sich dem Ruf der Reichselite zu versagen, missfiel, hatte einen Grund mehr, der ungeliebten Schwiegertochter zu misstrauen. Solcher Einfluss, wie ihn meine Mutter, stets ein sanftes Lächeln auf den Lippen, als ruhender Pol und emotionales familiäres Machtzentrum ausübte, sei Deutschen fremd. So etwas gebe es nur in semitischen Verbänden. So etwa könnte mein Großvater gedacht haben.

Großvater Friedrich, stechender, beobachtender Blick, wie er auch einem seiner Enkel eignet, von nicht eben arischem Wuchs, war als ehemaliger Deutschnationaler und Prokurist eines in den zwanziger Jahren in Konkurs gegangenen Betriebs, der seine Bautätigkeit im ganzen Deutschen Reich ausübte, erst bei der Zollbehörde und schließlich bei der Gestapo gelandet, um dort Karriere zu machen. Dieser eines Deutschen, wie er meinte, würdige Weg, erfüllte ihn mit Stolz.

Im Laufe von Generationen gibt es im Leben einer Familie Entwicklungen, deren intime Kenntnis nicht für die Außenwelt bestimmt ist. Einen Teil unserer Familiengeschichte habe bisher nicht nur ich wie ein Staatsgeheimnis gehütet. Ich fühle mich schuldig, obwohl keiner persönlichen Schuld bewusst, weil ich genetisch, zu einem Teil zumindest, das Leben von Menschen fortsetze, mit deren Handeln ich nicht einverstanden bin, schlimmer, das ich verabscheue. Besonders die Taten eines Menschen, meines Großvaters, den ich verachte, vor dem ich schon als Kind eine unbestimmte Angst hatte.

Dass mein Vater als Sohn eines Gestapo-Offiziers glänzende Voraussetzungen gehabt hätte, in die Führungsclique der SS aufzusteigen, ist unstreitig. Dass er diesen Weg nicht gegangen ist, hatte er vor allem dem seiner Frau angeborenen sicheren Instinkt für Unrecht zu verdanken, aber auch dem eigenen inneren Anstand.

Nach dem Kriegsende 1945 brach mein Vater physisch und psychisch zusammen. Von seinem verheerenden Irrtum hat er sich nie mehr erholt. Geredet über seinen Irrtum und den einer ganzen Generation hat er in den ihm verbleibenden sechsunddreißig Jahren kein einziges Wort. Jedenfalls nicht im Kreis seiner Familie. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass er an einem Gymnasium Geschichte, Geografie, Deutsch und Gegenwartskunde unterrichtete. Auch nicht sein Aufstieg zum Hochschullehrer und auch nicht seine Blindheit, die ein Symbol dafür gewesen sein könnte, dass er von all dem um ihn her nichts mehr sehen wollte, auch nichts von der Inhaftierung seines Sohnes, die er ebenfalls wort- und klaglos ertrug.

Warum wohl mag ich so renitent geworden sein, wie meine Mutter zu sagen pflegte? Ist es das väterliche oder das mütterliche Erbteil? Vermutlich keines von beiden. Es muss etwas anderes sein. Etwas, das mich innerlich treibt.

Väterlicherseits fühlten sich mehrere Vorfahren sowohl dem Deutschtum als auch Polen besonders verbunden. Zwei meiner damals in Warschau lebenden Tanten unterrichteten an einem Gymnasium Polnisch. Zwar sprachen sie auch deutsch wie ihre Schwester, meine Großmutter, aber sie begriffen sich ebenso als Polinnen wie die Großmutter als Deutsche. Obwohl ich von ihrem blutrünstigen Deutschtum noch gar nichts wusste, fühlte ich mich als Kind auch in ihrer Nähe stets unbehaglich.

Als die beiden Tanten nach Auschwitz deportiert wurden, empfand es Großvater als seine Pflicht, sie vor dem fast sicheren Tod zu bewahren und sie aus dieser Hölle herauszuholen, indem er nachwies, dass es sich hier um ein Versehen der deutschen Behörden handeln müsste, da seine Schwägerinnen weder Polen noch Juden sein könnten. Schließlich war seine Frau mit dem polnischen Mädchennamen nachgewiesenermaßen Deutsche, also Arierin. Und arisches Recht blieb arisches Recht. Tatsächlich.

Dass polnische Männer auf seinen Befehl hin an den Füßen aufgehängt wurden, weil man sie der Rassenschande überführt hatte, war ihm eine derartige Genugtuung, dass er sich voller Stolz angesichts des Vollbrachten unter den sterbenden Körpern fotografieren ließ. Wie schaffte er es, die familiären Widersprüche und seine Rolle als Hüter arischer Moral in seinem Kopf zu ordnen? Hatte er eine Ahnung von der Abstammung der Schwiegertochter, deren Ahnentafel nicht nur väterlicherseits, sondern auch mütterlicherseits verdächtige Namen aufwies? Bis hin zu ihren Ururgroßeltern kam nur ein einziger echter deutscher Name vor: Utecht. Die Ururgroßmutter Martha Hauer hatte einen Herrn Ignaz Katz geheiratet. Die Tochter Rachel Katz, geboren 1857 in Galizien, ließ sich taufen, um den Milchhändler Utecht heiraten zu können. Aus Katz wurde im Kirchenbuch Kaatz. So wurde aus altem mosaischem Adel eine unverdächtige Deutsche. Tochter Utecht aber, meine Großmutter mütterlicherseits, heiratete einen Herrn Pietraszewski, einen Kantor und Volksschullehrer in Neubrück, einem deutschen Dorf, das bereits 1917 an Polen gefallen war. Das aber hat mein Großvater mütterlicherseits mit dem gleichfalls wenig deutsch klingenden Namen Leo Pietraszewski nicht mehr erlebt. Wohl ein Gegner von Impfungen, hatte er 1915 bei Verdun sein junges Leben nicht einmal auf dem Feld der Ehre sinnlos opfern müssen, nein, eine Typhusepidemie hatte ihn dahingerafft. Für seine Familie vielleicht etwas, was ein Tod zur rechten Zeit genannt werden könnte, auch wenn seine dreieinhalbjährige Tochter und die junge Witwe das anders empfunden haben mochten. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte Großvater Pietraszewski zwei Wochen zuvor seinen neunundzwanzigsten Geburtstag gefeiert, befand sich auf der bescheidenen Höhe seiner beruflichen Laufbahn und der weniger bescheidenen Höhe seiner privaten Karriere, die ihn als erfolgreichen Schürzenjäger ausgewiesen hatte.

Die Rolle der Großmutter als einer bis an ihr Lebensende treuen Witwe erwies sich für die seelische Entwicklung der Tochter als wohltuend. Jedenfalls erzählte die uns Kindern später, kein Mann habe eine Chance gehabt, sich ihrer Mutter in zweifelhafter Absicht zu nähern, weil sie unmissverständlich signalisiert habe, dass sie einem ernsthaften Bewerber die Augen ausgekratzt haben würde. Was sie später zutiefst bedauerte, zumal mit einem Mann an Großmutters Seite, deren Tragödie vielleicht hätte verhindert werden können. Bis an ihr Lebensende quälten meine Mutter Schuldgefühle. Hätte sie sich nicht auf den Weg nach Hartha gemacht, in dessen Nähe sie unseren Vater vermutete, der sich in Wirklichkeit in einem amerikanischen Gefangenenlager bei Fulda befand, wäre der frühe Tod meiner Großmutter Meta zu verhindern gewesen. Und auch mir hätte sie nicht ein Leben lang verschweigen müssen, dass ich nach einem amerikanischen Granatwerferangriff von den Wirtsleuten unter den Trümmern halbtot hervorgezogen werden musste. Vieles liegt im Dunkel.

Ein Schnippchen geschlagen

Die Bindungen an meine Geburtsstadt haben sich zu verschiedensten Zeiten und aus verschiedensten Gründen immer wieder erneuert. Als ich 1968 jenes Land, das DDR geheißen hat, verließ und ihm voller Glücksgefühle keine einzige Träne nachweinte, nahm ich in Leipzig Abschied vom Grab Georg Dertingers, vom früheren Generalsekretär der christlichen Blockpartei CDU und ersten Außenminister der DDR, der Anfang 1953 verhaftet, 1954 als angeblicher Spion zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt und 1964 begnadigt worden war. Sein dorniger Weg hatte ihn ebenso in den Hafen eines katholischen Leipziger Verlags einlaufen lassen wie mich. Abschied nahm ich auch von Inge, Assistentin von Ernst Bloch, auf Anraten der Organe gefeuert, als Lektorin in einem katholischen Verlag untergekommen, bis zu Ernst Blochs Tod 1977 immer wieder von der Stasi vorgeladen, um nach dem Philosophen befragt zu werden, Abschied von einer mütterlichen Freundin also, die mir zwei Dinge mit auf den Weg gab: Zum einen solle ich viel deutsch lesen, um das muttersprachliche Gespür für die Sprache nicht zu verlieren, und zum anderen solle ich ihr ein ungarisches Buch vorschlagen und ins Deutsche übersetzen.

Schnell hatte ich mit Hilfe ungarischer Freunde einen hervorragenden ungarischen Autor und dessen neuesten Roman entdeckt: Saulus. Ein gewagtes Buch, für die DDR ein trojanisches Pferd, geht es doch in Miklós Mészölys Roman um nichts weniger als um die Frage, ob aus einem Verfolger, sprich: einem Staatssicherheitsdienstler, wenn er auf der Suche nach der absoluten Wahrheit seinen Irrtum erkannt habe, ein Verfolgter werden könne. Inge, die Miklós in Budapest kennenlernt und sowohl vom Autor als auch von dessen Buch, von dessen Format ihr andeutungsweise eine Vorstellung vermittelt wird, begeistert ist, erkennt die Chance, unter dem Aushängeschild eines religiösen Romans in Leipzig brisante Literatur verlegen, der Zensurbehörde ein Schnippchen schlagen zu können.

1970 erscheint der Roman auf Deutsch. Das Ostberliner Büro für Urheberrechte hat die Attacke gegen die sozialistische Literatur verstanden, wenn auch verspätet, und mich davon in Kenntnis gesetzt, dass ich als Übersetzer von nun an in der DDR unerwünscht sei. 20.000 in Kirchen und kirchlichen Buchhandlungen verkaufte Exemplare und das Erlernen der ungarischen Sprache während der Arbeit an dem Buch haben sich gelohnt.

Der Bestrafung entzogen

Als Väterchen, Großvater Friedrich, 1959 starb, fuhren meine Eltern zur Beerdigung in den Westen. Wir Kinder hatten auf der Beerdigung nichts zu suchen. Oder gab es Probleme mit der Reisegenehmigung für die ganze Familie? Mussten wir drei Geschwister als Faustpfand zurückbleiben?

Nach seiner Rückkehr brachte mein Vater an der Wand neben dem Schreibtisch ein Bild seines Vaters an. Nach wenigen Wochen entfernte er es ebenso kommentarlos, wie er es kommentarlos aufgehängt hatte. Väterchen war einen zweiten Tod gestorben.

Hatte die Gefahr bestanden, dass Fliege, der Direktor der Oberschule, der uns gelegentlich besuchte, genauer gesagt, seinen Besuch ankündigte und realisierte, denn außer Verwandten luden wir so gut wie nie jemanden ein? Hatte die Gefahr bestanden, dass Fliege den Großvater erkennen könnte? Fliege war Jude. Aber das erfuhr ich erst Jahre später, ebenso wie davon, dass er in seiner Zeit als Direktor zu einem ganzen männlichen Abiturientenjahrgang recht ungewöhnliche Beziehungen unterhalten haben soll, bevor er bei Nacht und Nebel verschwand, um sich der drohenden Bestrafung durch die Faust des Proletariats zu entziehen, indem er kurzerhand „vom sozialistischen Friedenslager ins imperialistische Lager der Kriegstreiber“ überwechselte.

Gummigeruch

Mit meiner für die DDR ungewöhnlichen Künstlermähne und den Jesuslatschen, in denen ich sommers wie winters barfuß ging, hatte ich keine Chance gehabt, die Sympathie des ehemaligen Offiziers der NVA zu erringen. Marlene schon eher. Dafür aber stand das Kennenlernen mit dem Pfarrer unter einem glücklicheren Stern. Auf Rädern fuhren Marlene und ich in das etwa acht Kilometer entfernte Löcknitz. Der Pfarrer, eine imposante Erscheinung, grauhaarig, stattlich wie ein nordischer Kleiderschrank, umarmte Marlene und auch mich, wobei er die Zigarre kurz aus dem Mund nahm. Bequem in den Sessel zurückgelehnt, die Beine übereinandergeschlagen, in eine dichte Rauchwolke gehüllt, unterhielt er sich mit mir, dem Neunzehnjährigen, als wären wir gleichaltrig.

Sein Sohn und seine Schwiegertochter waren kurz vor dem Mauerbau in den Westen gegangen, wo beide journalistisch tätig waren, er als Musikkritiker und sie als Sprecherin beim Deutschlandfunk. Täglich hörte der Pfarrer die Stimme der geliebten Schwiegertochter und des Öfteren auch die seines einzigen Sohnes im Radio. Besuchen durfte er sie nicht. Allerdings war ihm vom Rat des Kreises mehrfach nahegelegt worden, einen Ausreiseantrag zu stellen. Die Behörden wären den unbequemen Pastor, der kein Blatt vor den Mund nahm, gern losgeworden. Auch von der Kanzel herunter wetterte er gegen das materialistische Weltbild der ostdeutschen Kommunisten.

Er besaß Narrenfreiheit, durfte aussprechen, wofür andere wegen staatsfeindlicher Hetze längst ins Gefängnis gewandert wären. Ihn zu verhaften, das wagte man nicht. Man scheute sich, gegen jemanden vorzugehen, der zu den Verfolgten des Naziregimes gehörte, ja, sogar eine entsprechende Rente bezog.

Als Diakon einer kirchlichen ‚Anstalt für Schwachsinnige‘ hatte er sich aktiv der Euthanasie widersetzt, hatte eine Weile erfolgreich gegen den Abtransport seiner Schützlinge nach Hadamar gekämpft. Ein katholischer Bischof hatte 1941 von der Kanzel gegen die praktizierte Euthanasie protestiert. Erfolgreich. Drei Wochen später wurde dieses Programm zur Vernichtung unwerten Lebens eingestellt, zumal der Predigttext sich auch unter den Soldaten verbreitete, die offensichtlich Angst hatten, als Verwundete gleichfalls in die Kategorie des Unwerten zu geraten. Zu einem Protest gegen die Judenvernichtung allerdings ließ sich Bischof Graf von Galen nicht bewegen.

Den Fall des rebellischen Diakons löste die Gestapo schließlich, indem sie ihn wegen Abhörens von Feindsendern kurzerhand vor Gericht stellte und ins KZ Buchenwald verfrachtete. Nach der Befreiung belohnte ihn seine Kirche für die bewiesene Zivilcourage mit einer Pfarre, obwohl er kein Theologiestudium absolviert hatte. Mit der Jungen Gemeinde hatte er viele junge Leute um sich versammelt. Jung und Alt vergötterten ihn gleichermaßen. Mit seiner rheinländischen Art verströmte er Lebensfreude und -kraft, etwas, das im protestantischen Osten fremd und anziehend zugleich wirkte. Nie schien er genug Menschen um sich haben zu können. Auch außerhalb seiner Gemeinde knüpfte er Kontakte. Vor allem die Welt des Theaters hatte es ihm angetan.

Bevor er Anfang der zwanziger Jahre in den kirchlichen Dienst getreten war, hatte er sich als Schauspieler versucht. Allerdings, wie er bereitwillig zugab, mit mäßigem Erfolg. Marlene, die er auf der Bühne in einer kleinen Rolle gesehen hatte, hatte er im Hotel Uckermark im Restaurant angesprochen und ihr sein Leid geklagt, dass seine zehn Jahre ältere Frau im Krankenhaus lag. Waren sich Seelenhirt und Schäfchen begegnet oder ein alternder Mann und eine junge Blondine?

Vom Gummigeruch in meiner Nase werde ich mich wohl nie befreien können. Er ist unlöslich verbunden mit Marlenes Körper. Warum sie sich mir ohne jede Vorankündigung hingegeben hatte, verstand ich nicht. Wollte sie einfach wissen, ob ich tatsächlich so ein toller Liebhaber war wie der mir vorauseilende Ruf? Jedenfalls kam es keineswegs, wie es hatte kommen müssen, sondern vielmehr überraschend und unerklärlich. Nach einem anregenden Gespräch über meine beabsichtigte Wehrdienstverweigerung lehnte sie sich auf dem Bett in ihrem Untermieterzimmer zurück und gab mir zu verstehen, dass die Unterhaltung jetzt beendet sei und sie mich für die vielen schönen Gespräche belohnen wolle. Sich mit den Händen auf dem Bett abstützend, den Oberkörper nach hinten neigend, die gespreizten Beine von der Bettkante herabhängen lassend, warf sie den Kopf in den Nacken und ließ mich gewähren. Es ging alles mehr als schnell vonstatten. Ebenso unvermittelt, wie es begonnen hatte, war es auch zu Ende gegangen. Sehr geschickt hatte ich mich nicht angestellt. Sie fragte mich nur noch, ob ich sie heiraten würde, sollte sie ein Kind von mir bekommen.

Gesehen haben wir uns danach nur noch selten. Geblieben ist die Erinnerung an eine intensive Unterhaltung, an eine eigenartige Liebesaffäre und an den muffigen Gummigeruch, der sich von ihrem Büstenhalter auf den ganzen Körper übertragen hatte.

Hassliebe

Am 26. März 1963, einem Dienstag, sollte ich auf dem Wehrkreiskommando zur Musterung erscheinen. Nun galt es, unter Beweis zu stellen, dass ich nicht nur gefaselt hatte und tatsächlich den Wehrdienst verweigern würde. Was war mir nicht alles durch den Kopf gegangen, wie die Sache in Angriff zu nehmen sei! Nie wieder sollte ein Krieg von deutschem Boden ausgehen, so hatte ich im Geschichtsunterricht gehört. Der Gedanke gefiel mir, auch wenn ich ihn sicher anders verstand als der Geschichtslehrer, ein junger Lehrer, der gerade die Pädagogische Hochschule absolviert hatte und voller Elan war, die Kinder für den Sozialismus zu gewinnen.

Er war ausgesprochen sympathisch, auch wenn ich das Gefühl hatte, dass seine Fragen stets nur eine einzige richtige Antwort zuließen. Ein Philosophieren über Geschichte, über die Entstehung von Kriegen war nicht möglich. Dabei glaubte ich schon als Elfjähriger nicht an die Unvermeidbarkeit militärischer Auseinandersetzungen, deren Minimuster ich meinte, in den Konflikten der Klassengemeinschaft zu erkennen. Eher schon war ich davon überzeugt, dass eine schmale Herrschaftselite die Bauern auf dem Schachbrett nicht unbedingt einsetzen müsste. Trugen doch die Möchtegernfeldherren in der Schulklasse den Machtkampf immer unter sich aus. Blutige Nasen entschieden darüber, wer als Klassenstärkster anzuerkennen sei. Die verfeinerten Methoden setzten erst mit der Pubertät ein.

Politisch durfte ich vor der Kommission nicht argumentieren. Meine mangelnde Bereitschaft, gegen den kapitalistischen Feind in Westdeutschland die Waffe in die Hand nehmen zu wollen, wäre einer Selbstanzeige wegen staatsfeindlicher Hetze gleichgekommen. Eine solche Begründung hätte mich zu einem Antikommunisten abgestempelt, was von der Wahrheit nicht weit entfernt, jedoch ziemlich gefährlich gewesen wäre. Stattdessen wälzte ich die Bibel, bemühte die alttestamentarischen Gebote und rechtfertigte meine Haltung mit einer vegetarischen Lebensweise. Auf der Suche nach glaubwürdigen Erklärungen vertraute ich mich wildfremden Menschen an. Gelegenheiten ergaben sich auf meinen Anhalterfahrten quer durch die Republik reichlich. In meinem Mitteilungsbedürfnis lag etwas Zwanghaftes. Denn mein Entschluss stand ohnehin fest. Vielleicht war es nur ein Kampf gegen das Ungewisse, gegen die eigene Angst vor den Konsequenzen. Was würde an dem Tag, da ich vor der Musterungskommission stehen würde, passieren? Würden sie mich verhaften oder aber Verständnis für meine pazifistische Haltung zeigen? Schließlich war in der Verfassung das Recht auf Gewissensfreiheit verankert. Und darauf wollte ich mich berufen.

In Ostberlin suchte ich den Direktor des Sprachenkonvikts auf, einen jungen Pfarrer, der nach dem Mauerbau den im Osten verbliebenen Teil der KIHO, der Kirchlichen Hochschule, leitete, wo Theologen ausgebildet werden sollten. Der Pfarrer, dessen Frau gerade ihr zweites Kind erwartete, brachte mich mit seinen Studenten zusammen, von denen die meisten den Wehrdienst bereits verweigert hatten. Passiert war ihnen nichts. Die Behörden taten einfach so, als sei nichts geschehen. Die Narrenfreiheit, die vielen DDR-Pfarrern gewährt wurde, übertrug man offensichtlich auch auf Theologiestudenten. Die Atmosphäre in diesem Kreis war beeindruckend. Hier wehte ein freier Geist. Und Mut schienen diese jungen Männer auch zu haben. Sie gingen zur Musterung und legten der Kommission einen Brief auf den Tisch, worin sie ankündigten, dass sie im Fall einer Einberufung unter Berufung auf ihre Gewissensfreiheit den Dienst mit der Waffe verweigern würden.

Der Staat verhielt sich abwartend, berief die Querulanten einfach nicht ein. Vielleicht dachten die Verantwortlichen, die würden ohnehin nur Wehrzersetzung betreiben.

Ich aber empfand bereits die Musterung selbst als entwürdigend und inakzeptabel. Denn damit, so meinte ich, indirekt das Recht des Staates anzuerkennen, mich für einen eventuellen Krieg ausbilden zu dürfen. Welchen Sinn sollte es haben, mich mustern zu lassen, wenn ich einer Einberufung ohnehin nicht Folge leisten wollte? Im Neuen Testament ist davon die Rede, dass man dem Staat geben solle, was des Staates sei. Aber was ist das: Staat? Wer ist der Staat? Ich? Und kalt kriecht die Lüge aus seinem Mund: Ich, der Staat, bin das Volk? Zweifellos bin ich ein Teil dieses Organisationsgebildes. Dennoch bin ich vor allem ich selbst. Ein Teil meiner Familie. Und die ein Teil der nächstgrößeren Gemeinschaft, ein Teil des Dorfes, ein Teil der Stadt, des Landes, der Nation, der Sprachgemeinschaft, der Menschheit, des Universums, des ewigen Geheimnisses, das man Leben heißt, Gott. Das Leben, Gott, steht also an oberster Stelle, was bedeutet, dass sich alles andere dem Leben unterzuordnen hat, nicht aber ich mich dem Staat. Nicht ich habe dem Staat zu dienen, sondern der Staat mir. Also kann es auch nicht rechtens sein, dass ich mich als Einzelner im Kriegsfall dem Staat, dem Vaterland, der Heimat aufzuopfern habe. Der Teufelskreis zwischenstaatlicher Gewalt muss durchbrochen werden. Die Gewalt dient nicht dem Interesse der Menschheit, vielmehr ist sie geeignet, dem Interesse Einzelner zu dienen, individueller Machtgier, andere zu beherrschen, in ihre Gewalt zu bekommen.

Mit der DDR hat mich, ohne dass ich mir dessen damals bewusstgeworden wäre, stets eine Art Hassliebe verbunden. Geglaubt habe ich den marxistischen Religionslehrern so gut wie nichts. Trotzdem haben sie mich stark beeinflusst. Die von ihnen propagierte Friedensliebe ist ein Teil meiner selbst geworden, ich habe sie verinnerlicht, wörtlich genommen. Sie freilich versuchten, Friedensliebe und Friedenssehnsucht mit der Idee eines gerechten Krieges zu verbinden. Darin konnte ich ihnen nicht folgen. Meine kindliche Seele mochte gedankliche Geradlinigkeit. Sie konnte und wollte nicht um die Ecke denken. Zu viel Leid hatten die Deutschen, denen ich mich gezwungenermaßen zugehörig fühlte, über andere Menschen gebracht. Menschen, denen ich durch verwandtschaftliche Bindungen nahestand, waren auf die eine oder andere Weise an unvorstellbaren Gräueltaten beteiligt gewesen. Diese Verflechtungen waren nicht, wie ein gordischer Knoten, durch das Schwert zu durchtrennen, nein, ein Neubeginn war nur durch ein absolutes Nein zu allem Vorangegangenen vorstellbar. Eine Fortsetzung, eine Kontinuität durfte es nicht geben, es sei denn, Kontinuität wäre im totalen Anderssein zu begreifen, das sich dem Samen des Hasses widersetzen und aus dem mit Blut gedüngten Boden wie eine Saat aufgehen würde.

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