Kitabı oku: «Chronik eines Weltläufers»
CHRONIK EINES
WELTLÄUFERS
DIE REISEN
VON OLD SHATTERHAND
ALIAS KARA BEN NEMSI
AUS DEN TEXTEN KARL MAYS ZU EINEM
REISETAGEBUCH ZUSAMMENGESTELLT
UND ERGÄNZT
VON
HANS IMGRAM
KARL-MAY-VERLAG
BAMBERG • RADEBEUL
Bedeutung der unterschiedlichen Schriftarten:
Adobe Garamond kursiv:
Text aus Karl May’s Gesammelten Werken
Adobe Garamond:
verbindender Text zu Schilderungen in den Gesammelten Werken
Arial:
eigene Einschübe des Verfassers zu Reisen, bei denen kein Karl-May-Text vorlag, bzw. erläuternde Hinweise
Arial kursiv:
Einleitung zu In Mekka von Franz Kandolf
Herausgegeben von Bernhard Schmid
© 2015 Karl-May-Verlag, Bamberg
Alle Urheber- und Verlagsrechte vorbehalten
Deckelbild:
Kostümfotos von Karl May: Alois Schießer, Max Welte
Kolorierung und Artwork: Torsten Greis / pinta
ISBN 978-3-7802-1624-3
INHALT
ICH – Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi
Wer bin ICH?
ICH bin der Abenteurer und Weltläufer Karl May, nicht zu verwechseln mit dem Schriftsteller Karl May, der nur mein geistiger Vater war. Er hat mich erschaffen, da er nie das war, das sein und das vollbringen konnte, was er in seinen Gedanken mit mir, seinem zweiten ICH, zu tun vermochte. ICH war der ‚Superman‘, der Held, der eine riesige Körperkraft besaß und der nicht nur viele Sprachen beherrschte, sondern auch gleichzeitig ein Gelehrter und Mediziner war. ICH ragte über die gewöhnliche Größe hinaus, war aber keineswegs ein Riese.1
Als er mich 1860 auf meine erste Reise nach Amerika schickte, hatte ICH bereits studiert, hatte mir außerordentliche Kenntnisse (z. B. Feldmesserei) und Fertigkeiten (Schießen, Reiten, Fechten) angeeignet und beherrschte mehrere Sprachen, darunter auch das Arabische, denn der Professor, der mein Lehrer im Arabischen war, galt für den größten Arabisten Deutschlands.2 ICH studierte Hebräisch, Aramäisch, Griechisch, um die Heilige Schrift im Urtext zu lesen. ICH studierte den Koran, die Vedas, den Zaratustra und Cong-futse.3 ICH müsste also älter als der Schriftsteller Karl May sein, bin es aber nicht, denn ICH zählte achtzehn Jahre, als ich über die See nach Amerika kam4, weil unerquickliche Verhältnisse in der Heimat, der Wunsch, meine Kenntnisse zu erweitern, und ein angeborener Tatendrang mich über den Ozean in die Vereinigten Staaten getrieben hatten5, wo ich Winnetou kennenlernte. Wenn man das Leben des Schriftstellers kennt, so konnte er nie ICH sein, denn sein Leben verlief ganz anders, als er es in seiner Fantasie ausleben konnte. Mit mir reiste er in die weite Welt, mit mir erlebte er das, was sich einer nur wünschen konnte, der das Fernweh und die Abenteuerlust in sich verspürte. –
Bekannt wurde ICH als Old Shatterhand und als Kara Ben Nemsi in Karl May’s Gesammelten Werken. Der Schriftsteller Karl May war nicht Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi, wie seine Leser glaubten, weil er mir seinen Namen, nämlich auch Karl May, gegeben hatte. Und weil seine Leser glaubten, dass er selbst der Held seiner Erzählungen sei, glaubte er es letztendlich auch. Und er musste es ihnen beweisen, indem er Bilder von Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi anfertigen ließ, in deren Kostüm er geschlüpft war, und er erzählte seinen begeisterten und manchmal auch enttäuschten Zuhörern, dass er alles selbst erlebt habe. Warum betrieb er nur diese Maskerade und diese ‚Märchenstunden‘, denn sein klarer Menschenverstand musste ihm doch sagen, dass er vom Wuchs, von seiner Körperkraft, von seinem sächsischen Dialekt und auch von den Sprachkenntnissen her niemals diese beiden Figuren ausfüllen konnte? Also musste ICH ein anderer sein als dieser Karl May, obwohl ICH denselben Namen trug. –
Und noch etwas: Die Konfession Karl Mays war evangelisch-lutherisch, mich aber ließ er als Katholiken durch die ganze Welt reisen. ICH bezeichne mich nicht als fromm, aber ICH besaß einen fundierten christlichen Glauben, den ICH überall vertreten konnte. –
Doch eines muss ICH noch sagen: ICH bin dem Autor Karl May für seinen Old Shatterhand und für seinen Kara Ben Nemsi sehr dankbar, denn ohne ihn gäbe es sie nicht, also gäbe es auch mich nicht. Und die Welt wäre ohne meine fantastischen Abenteuer ein kleines bisschen ärmer, denn er hat ganze Generationen mit seinen Büchern begeistert.
Reise-Erzählungen und Reise-Tagebuch
Der Schriftsteller Karl May hat mich fast durch die ganze Welt reisen und Abenteuer bestehen lassen, doch er tat das ganz wahllos, ohne bestimmtes Zeitgefüge. Manche dieser Reise-Erzählungen beginnen oder enden anders, als ICH sie erlebt habe. Einige meiner Reisen hat er nur angedeutet, ohne einen eigenen Bericht darüber zu schreiben; manche frühere Abenteuer hat er erst nachträglich in spätere Erzählungen eingeflochten. ICH musste jetzt im Nachhinein lange überlegen, wann ICH wo war und wie meine Erlebnisse zusammengehören, die er oft nur als Einzelgeschichten ohne näheren Zusammenhang aufgeschrieben hatte und die dann in verschiedenen Zeitschriften gedruckt wurden. Das kam sicher daher, dass er am Anfang noch nicht recht wusste, was er mit mir wollte. Als er dann später die Gelegenheit gehabt hätte, das in der Buchausgabe in die richtigen Bahnen zu lenken, nahm er sich nicht die Zeit dazu. Doch jetzt kann ICH das alles in meinem Reise-Tagebuch richtig stellen. Wer dieses liest und dann mit den Reise-Erzählungen vergleicht, wird hin und wieder auf Widersprüche im Handlungsablauf stoßen, eben weil Karl May meine Erlebnisse nicht chronologisch aufgeschrieben und sich dadurch manchmal geirrt hat. –
Wer den geistigen Wandel im Schaffen des Autors nicht kennt, wird sicher erstaunt sein, dass meine neunte Orientreise plötzlich in Basra endet und nicht, wie beabsichtigt, nach Persien fortgesetzt wird. Das hat folgenden Grund: Hinter Basra ließ mich Karl May plötzlich mitten in der Gegend stehen und kümmerte sich nicht mehr um mein Abenteuerleben. ICH war ihm vollkommen egal geworden, denn sein Denken erfuhr nach seiner persönlichen Orientreise einen totalen Wandel: Er wurde zum Mystiker, zum Symbolisten, zum Philosophen.6 Er schuf eine andere, eine mystische Gestalt, der er aber genau denselben Namen gab wie mir, nämlich Kara Ben Nemsi, und die er bei seiner persönlichen Reise nach Nordamerika auch Old Shatterhand nannte. Aber dieser ‚neue‘ Kara Ben Nemsi und dieser ‚neue’ Old Shatterhand bin nicht ICH – das ist ein ‚Edelmensch‘, der mit mir, dem Abenteurer und Weltläufer, nichts zu tun hat. Das möchte ICH gleich zu Beginn meines Reise-Tagebuchs festhalten, damit kein Leser glaubt, ICH würde einen Teil meines Lebens und meiner Reisen unterschlagen.
Reise-Tagebuch
0. IN AMERIKA (1854)
Nachtrag zu meinem Reise-Tagebuch, Sommer 1854:
Ob man es mir glauben wird oder nicht: Ich war schon während meiner Schulzeit in Amerika! Natürlich ist damit nicht der Kontinent Amerika gemeint, sondern die Ansiedlung eines Spinnereibetriebes, die teils zu Penig, teils zu Arnsdorf in der Amtshauptmannschaft Rochlitz gehörte. Der Sohn unseres Nachbarn arbeitete in der dortigen 1836 gegründeten Kattunfabrik. Er hatte da eine Braut und wollte demnächst heiraten. Da er von zu Hause von seinen Eltern als Aussteuer Bettgestell, Strohsack, Zudecke und einige andere Gegenstände bekam, sollten diese auf einem kleinen Leiterwägelchen zu ihm hingeschafft werden. Seine Mutter fragte mich, ob ich ihm diese Sachen nach Amerika bringen und dann das Wägelchen wieder mit nach Hause nehmen würde, wofür ich drei Kreuzer erhalten sollte. Das war fast ein Vermögen für mich. Natürlich sagte ich zu.
Als es so weit war, machte ich mich am Morgen auf den Weg. Da ich ja das Handwägelchen hinter mir herzog, musste ich den weiteren Weg über Penig und die Peniger Brücke nehmen und nicht den kürzeren mit dem Kahn über die Mulde. Es war schon ziemlich später Nachmittag, als ich dort bei dem Sohn unseres Nachbarn ankam. Da er sich aber noch bei der Arbeit befand, musste ich warten, bis es fast dunkel wurde. Er nahm mich mit zu seinen zukünftigen Schwiegereltern, wo auch seine Braut wohnte. Hier bekam ich zuerst ein tüchtiges Abendbrot, was ich von zu Hause in dieser Menge überhaupt nicht kannte. Ich glaube, so satt gegessen wie an diesem Abend hatte ich mich noch nie. Hier erfuhr ich auch auf meine Frage, warum dieses kleine sächsische Amerika überhaupt so hieß: Weil man diese Ansiedlung und die Fabrik nur über die Zwickauer Mulde erreichen konnte, musste man ein kleines Fährboot besteigen, das an einem Seil von einem zum anderen Ufer, also über den Teich gezogen wurde. „Über den Teich“ aber zogen damals diejenigen, die nach Amerika fuhren, also nannte man die Ansiedlung einfach „Amerika“. Ich durfte in dieser Nacht bei den Schwiegereltern unseres Nachbarsohnes, die ein eigenes kleines Häuschen besaßen, schlafen. In diesem Haus würde auch später das junge Paar wohnen. Am nächsten Morgen, nachdem ich Kaffee getrunken und zwei große Stücke Brot mit Marmelade gegessen hatte, machte ich mich mit dem Leiterwägelchen wieder auf den Rückweg. Für die braven Leute schien es selbstverständlich zu sein, mir auch noch ein belegtes Brot mit auf den Heimweg zu geben, denn der war ja für einen Schuljungen doch sehr lang und anstrengend.
Und so war ich tatsächlich schon während meiner Schulzeit in Amerika gewesen.
1. ERSTE NORDAMERIKA-REISE (1860-1861)
Dienstag, 28. Februar 1860:
An einem kalten Wintertag, es war Samstag, der 28. Januar 1860 gewesen, hatte ich meinen verschneiten Heimatort am Rande des sächsischen Erzgebirges verlassen, und genau vier Wochen später landete ich in New York.1
Samstag, 31. März 1860:2
Unerquickliche Verhältnisse in der Heimat, der Wunsch, meine Kenntnisse zu erweitern und meine Angehörigen besser unterstützen zu können, hatten mich über den Ozean in die Vereinigten Staaten getrieben. Ich hätte in den Oststaaten recht wohl ein gutes Unterkommen gefunden, aber es zog mich nach Westen. Bald auf diese und bald auf jene Weise für kurze Zeit tätig, verdiente ich mir so viel, dass ich heute in St. Louis ankam.
Freitag, 20. April 1860:
Schon zwei Tage nach meiner Ankunft in St. Louis wurde ich in einer deutschen Familie Hauslehrer. Dort verkehrte ein gewisser Mr. Henry, ein Sonderling und seines Zeichens Büchsenmacher, mit dem ich mich gut verstand. Er bastelte an einem neuen Gewehr, von dem er behauptete: „Es wird ein Stutzen, ein Mehrlader mit fünfundzwanzig Schüssen.“
Dienstag, 15. Mai 1860:
Heute Abend war ich wieder einmal in seiner Werkstatt. Wir diskutierten über den Zweck und die Auswirkungen eines mehrschüssigen Stutzens. Danach begann er mich nach meinen Fertigkeiten und Kenntnissen auszufragen.
Mittwoch, 16. Mai 1860:
Bevor heute Morgen mein Unterricht als Hauslehrer begann, prüfte er mich auf einem Schießstand und er schien mit dem Ergebnis einigermaßen zufrieden zu sein. Dann schleppte er mich noch zu einem Reitstall, wo ich einen Rotschimmel bändigen musste.
Freitag, 18. Mai 1860:
Gestern und heute Morgen vor dem Unterrichtsbeginn war ich im Reitstall, um den Rotschimmel weiter einzureiten.
Samstag, 19. Mai 1860:
Mr. Henry führte mich heute Nachmittag in ein Geschäft, von dem ich nur kurz die Worte ‚Office‘ und ‚Surveying‘ lesen konnte. Drei Herren empfingen uns recht freundlich und das Gespräch mit ihnen drehte sich hauptsächlich um Feldmesserei, wobei mich die drei immer wieder mit Fragen konfrontierten, die ich nach bestem Wissen und Gewissen beantwortete. Ich war ganz unbefangen und merkte nicht, dass man mich dabei einer ausgedehnten Prüfung unterzog.
Sonntag, 3. Juni 1860:
Zwei Wochen nach unserem sonderbaren Besuch in der Vermessungskanzlei wurde ich zu einem ‚dinner‘ eingeladen. Anwesend war auch ein Westmann, der Sam Hawkens hieß. Ich war vollkommen perplex, als man mir mitteilte, dass ich ab jetzt Surveyor, also Feldmesser, der ‚Atlantic and Pacific Company‘ sein sollte. Die neue Bahnstrecke, deren Teil-Trasse ich mit zu vermessen hatte, lag zwischen dem Quellgebiet des Red River und dem Canadian. Die drei bewährten Führer Sam Hawkens, Dick Stone und Will Parker sollten uns dorthin bringen.
Montag, 4. Juni 1860:
Als ich heute Morgen zunächst von der deutschen Familie Abschied genommen hatte, suchte ich auch noch Mr. Henry auf, von dem ich mich ebenfalls verabschiedete. Er schenkte mir den Rotschimmel und gab mir den Bärentöter als Waffe mit. Danach brachen wir in das Indianergebiet auf.
Samstag, 1. September 1860:
Wir standen im Anfang des September und waren bereits drei Monate in Tätigkeit. Zwischen Sam Hawkens, Dick Stone und Will Parker, die man nur ‚das Kleeblatt‘ nannte, und mir hatte sich ein gutes Verhältnis herausgebildet. Sam Hawkens betrachtete es außerdem als Selbstverständlichkeit, mir in meiner recht knapp bemessenen Freizeit die Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln, die ein ‚guter Westmann‘ haben sollte. Er wusste auch, dass ich mir von allen Messungen eine Abschrift anfertigte, die ich in einer leeren Sardinen-Büchse in meiner Brusttasche aufbewahrte.
Sonntag, 2. September 1860:
Es war Sonntag früh, als Mr. White, der Leiter der westlich nächsten Gruppe, in unser Lager kam. Als einer der Westmänner Streit mit mir anfangen wollte, schlug ich ihm die Faust an die Schläfe, dass er betäubt liegen blieb. Mr. White meinte: „Man sollte Euch Shatterhand nennen.“ Dieser Vorschlag schien dem kleinen Hawkens zu gefallen: „Ein Greenhorn und schon einen Kriegsnamen! Old Shatterhand!“ Sam Hawkens und ich begleiteten Mr. White dann ein Stück auf dem Heimweg. Beim Zurückreiten in unser Lager entdeckten wir eine kleine Herde Bisons. Ich musste den Leitstier erschießen, um mein Leben zu retten. Sam schoss eine Büffelkuh. Ein anderer Bulle schlitzte seinem Pferd den Leib auf, sodass wir es erschießen mussten. Wir versorgten uns mit dem nötigen Fleisch der Büffelkuh, beluden mein Pferd und gingen zu Fuß zu unserem Lager zurück.
Montag, 3. September 1860:
Sam Hawkens nahm mich mit auf Mustangjagd, da er ja ein neues Pferd brauchte. Wir trafen tatsächlich auf eine Mustangherde, worunter sich auch ein Maultier befand, das wir fingen. Als wir wieder ins Lager kamen, hatte man es eine beträchtliche Strecke vorgeschoben, weil während unserer Abwesenheit fleißig vermessen worden war.
Dienstag, 4. September 1860:
Wir verlegten unser Lager in den oberen Teil des Tals. Kurze Zeit darauf traf ich ohne Gewehr auf einen Grizzlybären, der einen unserer Westmänner zerfleischen wollte. Schnell stand ich neben ihm, holte aus und stieß ihm das Messer zweimal zwischen die Rippen. Ich hatte meinen ersten Grizzly erlegt! Kurz danach erschien ein Indianer, der sich Klekih-petra nannte und vom Stamme der Mescalero-Apatschen war. Hinzu kamen noch zwei andere Indianer, und zwar Vater und Sohn. Der Vater hieß Intschu tschuna und der Sohn Winnetou, der mit mir ungefähr im gleichen Alter stand. Intschu tschuna forderte uns auf, sofort die Messungen einzustellen und das Gebiet zu verlassen, das seinem Stamm gehöre. Er gab uns eine Antwortfrist, bis beide wieder zurück seien, um die Pferde zu holen. Ich kam mit Klekih-petra ins Gespräch, wobei ich erfuhr, dass er Deutscher war, die Heimat aber nach der Revolution 1848 hatte verlassen müssen und nun bei den Mescaleros als der Lehrer Winnetous lebte. Als Intschu tschuna und Winnetou mit den drei Pferden zurückkamen, legte der betrunkene Rattler sein Gewehr auf Winnetou an und schoss. Klekih-petra warf sich dazwischen und wurde von Rattlers Kugel tödlich getroffen. Seine letzten Worte richtete er in deutscher Sprache an mich: „Bleiben Sie bei ihm – ihm treu – mein Werk fortführen…!“ Kurz darauf war er tot. Die beiden Indianer hoben die Leiche aufs Pferd, banden sie da fest und ritten langsam davon.
Mittwoch, 5. September 1860:
Obwohl ich hier bei den Vermessungen dringend gebraucht wurde, bestand Sam darauf, dass ich mit ihm ritt. Mein erster Kundschafterritt! Wir schlugen sogleich die Richtung ein, in der die beiden Apatschen fortgeritten waren. Erst eine Stunde vor Mittag kehrten wir um. Unterwegs trafen wir auf sechs Kundschafter der Kiowas, mit denen wir die Friedenspfeife rauchten. Sie waren auf dem Kriegspfad, um sich an den Mescalero-Apatschen zu rächen, die einige ihrer Krieger getötet hatten, als sie von diesen beim Pferdediebstahl erwischt worden waren. Sie ritten zuerst mit in unser Lager und dann weiter, um zweihundert Krieger herbeizuholen.
Donnerstag, 6. September 1860:
Heute beteiligte ich mich mit doppeltem Eifer an der Arbeit, weil ich gestern gefehlt hatte. Am Abend hatten wir eine doppelt so lange Strecke wie sonst vermessen. Deshalb waren wir sehr ermüdet und legten uns nach dem Abendessen zeitig schlafen. Das Lager war inzwischen weiter vorgeschoben worden.
Freitag, 7. September 1860:
Gegen Mittag kamen über zweihundert Kiowas in unser Lager. Ihr Anführer hieß Tangua. Wir machten mit dem Vermessen weiter, denn wenn wir nicht allen Fleiß aufwendeten, kamen die Apatschen, bevor wir fertig waren. Führten wir unser Werk aber vor ihrer Ankunft zu Ende, so war es uns vielleicht möglich, uns aus dem Staub zu machen und uns samt den wertvollen Messgeräten und Zeichnungen in Sicherheit zu bringen.
Samstag, 8. September 1860:
Es wurde wettermäßig ein ungemütlicher Tag. Als es zu dunkeln begann und wir unsere Vermessungen einstellten, waren wir in der Nähe des voraussichtlichen Kampfplatzes angekommen. Sam war inzwischen zu Fuß auf Kundschaft losgegangen.
Sonntag, 9. September 1860:
Es war erst wenig nach Mittag, als Sam Hawkens zurückkam und berichtete, dass er die Apatschen nicht nur gesehen, sondern auch belauscht habe. Es waren ungefähr fünfzig Krieger mit ihren beiden Häuptlingen, die uns überfallen wollten. Durch eine List konnten wir die Apatschen täuschen und sie gefangen nehmen. Am Abend saßen wir Weiße um unser altes Feuer, die Kiowas lagerten etwas abseits. Ich kroch an die Bäume heran, wo Winnetou und sein Vater angebunden waren. Mir gelang es, beiden die Fesseln zu durchtrennen und mir von Winnetous Haar eine Locke abzuschneiden. Dann schlich ich mich wieder zu unserem Feuer zurück. Sam machte mir Vorwürfe. Er hatte seine Augen auf die Apatschen gerichtet und hielt mitten in seiner Rede inne, weil die beiden eben jetzt von ihren Bäumen verschwanden. Es dauerte etwas, bis der Wächter einen lauten, durchdringenden Schrei ausstieß. Alles rannte zu den Bäumen, die Weißen auch. Das weitere Verhalten der Kiowas ließ uns um unsere Sicherheit besorgt sein.
Montag, 10. September 1860:
Wir durften keine Stunde versäumen, um mit unserer Vermessung womöglich noch fertig zu werden, bevor Intschu tschuna und Winnetou mit ihren Kriegern zurückkehren konnten. Als die Kiowas ihre Gefangenen am Marterpfahl sterben lassen wollten, schlug ich Tangua nieder. Nachdem er nun in meiner Gewalt war, versprach er, alle Apatschen freizulassen, wenn ich mit einem seiner Krieger um Leben und Tod kämpfen würde. Ich willigte ein. Mein Gegner nannte sich Metanakva, ‚Blitzmesser‘. Im Zweikampf fuhr ihm meine Klinge bis an das Heft ins Herz und er stürzte tot zu Boden. Kurz danach erscholl das schrill tönende ‚Hiiiiiiiiih‘, der Kriegsruf der Mescaleros. Hinter Büschen hatten sich die Apatschen unbemerkt herangeschlichen. Wir schlugen mehrere der Angreifer mit dem Kolben nieder. Ich konnte Intschu tschuna mit meinem Jagdhieb niederstrecken. Tangua aber wollte ihm den Skalp nehmen, doch als ich ihn daran hinderte, wurde ich mit dem Messer verletzt. Ein Kolbenhieb von Winnetou traf meine Schulter. Dann ließ er sein Gewehr fallen, zog sein Messer und stürzte auf mich. Er holte zum Stoß gegen meine Brust aus. Das Messer fuhr in meine linke Brusttasche, traf dort die Blechbüchse, worin ich meine Papiere verwahrt hatte, glitt an dem Blech ab und drang mir oberhalb des Halses und innerhalb der Kinnlade in den Mund und durch die Zunge. Es war ein Kampf um Leben und Tod. Es gelang mir, trotz meiner Verwundung, ihm zwei rasch aufeinanderfolgende Faustschläge zu geben und ihn zu betäuben. Doch dann bekam ich einen Kolbenhieb gegen den Kopf. Als ich wieder zu mir kam, war es Abend. Ich war an Händen und Füßen gefesselt. Zu meiner Rechten saß Sam Hawkens, der mir erzählte, wie er und die anderen sich hatten retten können, aber mehr hörte ich nicht, weil ich jetzt wieder in Ohnmacht fiel.
Dienstag, 11. September 1860:
Als ich abermals aus meiner Betäubung erwachte, fühlte ich, dass ich mich in Bewegung befand. Ich hörte den Huftritt vieler Pferde und schlug die Augen auf. Ich lag auf der Haut des Grizzlybären, den ich erlegt hatte, und hing zwischen zwei Pferden, die mich auf diese Weise tragen mussten. Mein Mund war verschwollen und voll von geronnenem Blut. Ich wollte es mit der Zunge ausstoßen, konnte sie aber nicht bewegen. Dann wurde ich von der Ohnmacht wieder übermannt.
Mittwoch, 3. Oktober 1860:
Ich fuhr mir mit der Hand zur Stirn und hörte Sam Hawkens neben mir sprechen. Ich wollte antworten, konnte aber nicht, weil mir die Zunge schwer wie Blei im Mund lag. Deshalb nickte ich nur. Er sagte mir, dass ich drei Wochen in Ohnmacht gelegen hätte. Dann vernahm ich die Stimme Winnetous. Als meine Kameraden fragten, wann sie mich wieder sehen dürften, antwortete er: „Am Tage eures und seines Todes.“ Ich schlief wieder ein.
Donnerstag, 4. Oktober 1860:
Wie lange ich geschlafen hatte, wusste ich nicht. Es war ein Genesungsschlaf. Vor mir saßen zwei Indianerinnen. Die alte hatte Runzeln im Gesicht und war hässlich. Die junge dagegen war schön, sehr schön. Sie hieß Nscho-tschi und war Winnetous Schwester. Ich machte den Versuch zu sprechen. Sie holte mir Wasser, half mir beim Trinken und wusch mir auch Gesicht und Hände. Sie sagte, dass wir in einem Pueblo am Rio Pecos seien, wo wir in einigen Tagen am Marterpfahl sterben würden. Als ich einige Stunden darauf erwachte, kam Nscho-tschi mit einer tönernen Schüssel und einem Löffel. Das Essen wurde mir noch viel schwerer als das Trinken.
Mittwoch, 17. Oktober 1860:
Meine Genesung schritt von Tag zu Tag fort. Das Gerippe bekam wieder Muskeln und die Geschwulst im Mund nahm stetig ab. Nscho-tschi blieb immer gleich, stets freundlich besorgt und dabei überzeugt, dass mir der Tod immer näher rücke. Auf meine Bitte hin hatte ich schon vor einigen Tagen einen großen, schweren Steinblock bekommen, damit ich mich setzen konnte, wie ich angeblich sagte. In Wirklichkeit aber benutzte ich diesen Stein, um mit ihm meine Muskeln zu stärken.
Montag, 29. Oktober 1860:
Ich war nun schon sechs Wochen hier. Es war an einem schönen, sonnigen Herbstmorgen, als ich gefesselt wurde und auf Leitern den Pyramidenbau verlassen musste. Das Pueblo lag in einem schmalen Seitental, wo gewiss sechshundert Apatschen anwesend waren. Die Kiowas gesellten sich zu ihnen. Ich wurde neben Hawkens, Stone und Parker an einen Pfahl gebunden. Nach einer Beratung wurde entschieden, dass Intschu tschuna gegen mich kämpfen würde, und zwar im Wasser. Wenn ich lebendig das gegenüberliegende Ufer erreichte und bis zu einer bestimmten Zeder gelangte, so waren nicht nur ich, sondern auch meine drei Gefährten frei. Ich sollte waffenlos bleiben, Intschu tschuna jedoch hatte einen Tomahawk. Da half nur eine List, die mir auch gelang, denn ich war ein guter Taucher und schwamm unter Wasser stromaufwärts, wo mich niemand vermutete. Drüben stieg ich aus dem Wasser und rannte auf die Zeder los. Ich konnte Intschu tschunas Tomahawk ausweichen, ihn bewusstlos schlagen und ihn an die Zeder fesseln. Winnetou, der herübergeschwommen kam, zeigte Respekt vor meiner Tat und erklärte, dass wir frei seien, außer Rattler, der Klekih-petra erschossen hatte. Dann gingen wir zu der Zeder und banden dem Häuptling die Arme los. Als wir wieder drüben am anderen Ufer waren, durfte ich meine drei Gefährten losschneiden. Dann zeigte ich Winnetou die Haarlocke, die ich ihm bei seiner Befreiung von den Kiowas abgeschnitten hatte. Das machte ihn sehr betroffen, denn jetzt wusste er, dass ich wirklich sein Freund war, und wir wurden im Laufe dieses Tages Blutsbrüder. Mit Tangua, dem Häuptling der Kiowas, trug ich noch einen Zweikampf aus, wobei ich ihm beide Knie durchschoss. Noch am selben Tag verließen die Kiowas zusammen mit ihrem verletzten Häuptling das Lager der Apatschen.
Rattler sollte noch am selben Tag den Martertod sterben. Als er jedoch laut schrie und jammerte, band man ihn los, stieß ihn in das Wasser des Rio Pecos und zwei junge Buben im Alter von etwa zehn Jahren feuerten ihre Gewehre auf ihn ab. Danach sprach ich mit Winnetou darüber, wie wir uns zum ersten Mal begegnet waren und dass ich dem sterbenden Klekih-petra versprochen hatte, ihm, Winnetou, treu zu bleiben.
Dienstag, 30. Oktober 1860:
Unter großer Feierlichkeit wurde zwischen Hawkens, Stone, Parker und den Apatschen die Pfeife des Friedens geraucht, wobei die üblichen langen Reden gehalten wurden.
Mittwoch, 31. Oktober 1860:
Heute kehrten die Kundschafter zurück, die den Kiowas gefolgt waren. Sie meldeten, dass die gegnerischen Scharen ohne Unterbrechung fortgezogen seien und demnach nicht die Absicht hegten, jetzt eine Feindseligkeit auszuführen.
Dienstag, 20. November 1860:
Nun folgte eine Zeit der Ruhe, für mich allerdings doch eine Zeit angestrengter Tätigkeit. Winnetou hatte es darauf abgesehen, mich in die ‚indianische Schule‘ zu nehmen. Wir waren oft ganze Tage fort und machten weite Ritte, wobei ich mich in allem, was zur Jagd und zum Kampf gehörte, üben musste. Wir krochen in den Wäldern umher, wo ich vortrefflichen Unterricht im Anschleichen erhielt. Er führte förmlich ‚Felddienstübungen‘ mit mir aus. Wie oft kam ich dann ermüdet und zerschlagen heim! Und doch gab es noch keine Ruhe für mich, denn ich wollte die Sprache der Apatschen erlernen und nahm im Pueblo Unterricht.
Mittwoch, 21. November 1860:
Am Abend brachte Winnetou mir einen fein gearbeiteten und mit roten indianischen Stickereien verzierten Jagdanzug von weißgegerbtem Leder, denn meine Kleidung sah sogar für indianische Augen sehr herabgekommen aus.
Donnerstag, 22. November 1860:
Als ich den Anzug am nächsten Morgen anlegte, saß er wie angegossen. Und kurze Zeit später befand ich mich im Haupttal, um mich im Werfen des Tomahawks zu üben.
Samstag, 24. November 1860:
Zwei Tage später sattelte ich meinen Rotschimmel, um mit Winnetou auf die Büffeljagd zu reiten.
Montag, 26. November 1860:
Am Abend dieses Tages sagte mir Intschu tschuna: „Wir werden in die Gegend reiten, wo ihr gearbeitet habt. Du wirst die unterbrochene Arbeit vollenden und dann den Lohn bekommen, der euch versprochen wurde. Wir reiten mit dir und dreißig Krieger werden uns begleiten.“ Er sagte mir, dass auch Nschotschi mitkäme, um in St. Louis all das zu lernen, was auch weiße Mädchen kennen würden. „So wollen wir nicht zögern, denn es ist schon die Zeit des späten Herbstes, auf den schnell der Winter folgt. Wir können schon morgen aufbrechen.“
Dienstag, 27. November 1860:
Der Tag hatte kaum begonnen, ein Spätherbstmorgen, dessen Kühle bewies, dass es Zeit gewesen war, den Ritt nicht länger aufzuschieben. Es gab ein kurzes Frühstück und dann wurden die Pferde gebracht. Es war eine beträchtliche Zahl von Packtieren dabei, von denen einige meine Messgeräte tragen sollten. Statt meines Rotschimmels brachte mir Winnetou einen prächtigen Rapphengst indianischer Schule, den er mir schenkte und der auf den Namen ‚Hatatitla‘ hörte. Winnetous Tier war dem meinen gleichwertig und hieß ‚Iltschi‘.
Donnerstag, 29. November 1860:
Die ersten Tage unserer Reise verliefen ohne irgendein Ereignis. Wir erreichten schon nach drei Tagen die Stelle, wo Klekih-petra von Rattler ermordet worden war.
Freitag, 30. November 1860:
Am anderen Morgen ging es weiter, aber vorerst noch eine Strecke den gleichen Weg, dem wir seinerzeit bei der Vermessung gefolgt waren. So kamen wir in die Gegend, wo unsere Messarbeit so plötzlich durch den Überfall unterbrochen worden war. Die Pfähle steckten noch und ich hätte nun sofort wieder beginnen können, tat es aber nicht, denn die restlichen Leichenteile der umgekommenen Weißen und Kiowas lagen noch da und wir begruben erst alles, was die Geier und andere Raubtiere von ihnen noch übrig gelassen hatten.
Samstag, 1. Dezember 1860:
Ich fing erst am nächsten Morgen meine Arbeit an. Abgesehen von den Kriegern, die mir die nötigen Handreichungen leisteten, half mir besonders Winnetou dabei und seine Schwester kam kaum von meiner Seite.
Montag, 3. Dezember 1860:
Ich erreichte trotz der Schwierigkeiten des Geländes den Anschluss an die nächste Abteilung schon nach drei Tagen.
Dienstag, 4. Dezember 1860:
Ich bedurfte nur noch eines vierten Tages, um die Zeichnungen und das Tagebuch zu vervollständigen. Am Abend des Tages war die Arbeit beendet und ich verpackte die Messgeräte in die Decken. Dann war ich fertig und das war gut, denn der Winter rückte schnell heran. Die Nächte waren schon empfindlich kalt, sodass wir die Feuer bis zum Morgen nicht ausgehen ließen.
Mittwoch, 5. Dezember 1860:
Wir machten uns reisefertig und brachen am Morgen auf. Die beiden Häuptlinge hatten sich für den gleichen Weg entschieden, auf dem ich von Sam in diese Gegend gebracht worden war.
Donnerstag, 6. Dezember 1860:
Als wir diesem Weg zwei Tage gefolgt waren, trafen wir auf vier Reiter. Es waren Weiße. Sam Hawkens fragte nach Woher und Wohin und erzählte auch, dass wir mit den beiden Häuptlingen und Nscho-tschi nach St. Louis wollten. Der Sprecher der vier hieß Santer, die Namen der anderen habe ich mir nicht gemerkt. Dann ritten sie weiter. Winnetou rügte Sam, weil er so viel erzählt hatte, denn er war instinktiv misstrauisch geworden. Mit ihm folgte ich den vieren ein Stück nach, doch als wir nach einiger Zeit sahen, dass sie weiterritten, kehrten wir um. Am Abend machten wir an einem Wasser halt. Nach dem Abendessen sagte Intschu tschuna, dass er morgen früh mit seinen Kindern von hier fortgehen, um Nuggets zu holen, und erst am Mittag zurückkehren werde. Wir sollten unbedingt am Lagerplatz bleiben, denn er würde den Ort, wo das Gold liege, keinem Menschen verraten oder gar zeigen und jeden niederschießen, der es wagte, ihnen heimlich zu folgen. Da schoss Sam Hawkens plötzlich in die Büsche und behauptete, zwei Augen gesehen zu haben. Die Apatschen durchkämmten das ganze Unterholz, konnten aber nichts Verdächtiges feststellen.