Kitabı oku: «Geschichten aus der Anderswelt», sayfa 2

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4) Die Toten von Schwarzenbroich

Im Kriegswinter 1944/45 strömten Teile der deutschen Wehrmacht durch die Eifel über die Reichsgrenze zurück in das noch existierende Deutsche Reich. Groß war die Zahl der Verwundeten, die auf ärztliche Hilfe hofften – meist vergebens. Das Sterben gehörte in dieser Zeit zum täglichen Leben. Im Hürtgenwald, einem Ausläufer der Nordeifel, bestand bis in die vierziger Jahre das ehemalige Restkloster Schwarzenbroich als ruinöses Relikt aus dem 12.Jahrhundert, unweit der Laufenburg, eines stattlichen mittelalterlichen Bauwerks. Das Zisterzienser Kloster ging auf eine gräfliche Stiftung zurück und besaß in der Region umfangreiche Ländereien. Das änderte sich nach dem Einmarsch der Franzosen während der französischen Revolution. Die Klöster wurden vielerorts säkularisiert, ihr Besitz öffentlich gemacht, verkauft oder zerstört. Schwarzenbroich erging es nicht anders. Noch bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges waren die Ruinen des Klosters ein beliebtes Ausflugsziel bei Wanderern. Später Sperrgebiet wegen des nahen Westwalls, dann Korridor der aus dem Westen zurückströmenden Reste der deutschen Wehrmacht. In dieser Zeit hielten sich auch Kampfeinheiten und Verwundete sporadisch in der klösterlichen Ruinenanlage auf, was den Alliierten nicht verborgen blieb. Im Zuge der nachfolgenden Kampfhandlungen wurden die baulichen Überreste des Klosters Schwarzenbroich dem Erdboden gleich gemacht. Die Erinnerung an die verlustreichen Kämpfe um Monte Cassino in Italien drängten sich auf. Also wurde beschlossen, die noch bestehenden Ruinen der Klosteranlage durch Bombenangriffe und Artilleriebeschuss zu zerstören. In den Novembertagen des Jahres 1944 begann noch vor Morgengrauen die Vernichtung von Schwarzenbroich. Die Verwundeten und Frontsoldaten wurden von der Wucht des Angriffs und seiner Heimtücke völlig überrascht. Ein Entkommen aus den inneren Bereichen der Klosteranlage war schwerlich möglich. Das Schreien der sterbenden Verwundeten, die sich schon gerettet glaubten, übertönte sogar das Heulen der Bomben und das Stakkato der Bordkanonen. Schwarzenbroich wurde nie mehr aufgebaut. Die ausgebrannten Restmauern des Klosters ragen noch heute plötzlich und unerwartet wie verstümmelte Extremitäten eines gemarterten Leibes aus einem wild wuchernden Urwald vor den Wanderern aus dem Boden. Der Besucher spürt die Intensität des Leidens und der Schmerzen, die in diese Mauern eingebrannt sind. Wer in den Tagen von November auf Dezember diesen Ort der Qualen aufsucht, dem wird das klagende Wimmern der Sterbenden wie feines Gewisper aus den Mauern zugetragen. So kann man es zuweilen von den alteingesessenen Einheimischen erfahren, welche diese Zeit noch als Kinder erlebt haben und diesen Ort des Schreckens, der Leiden und Qualen in diesen Tagen nach Möglichkeit meiden. Legende - Fiktion - Realität - Memento Mori - Besinne dich deiner Sterblichkeit!

5) Die letzte Fahrt

Anfang des 17.Jahrhunderts, der Freiheitskampf der Niederländer gegen die spanischen Unterdrücker befand sich auf seinem Höhepunkt, gelang den Spaniern 1635 die Eroberung der Festung Schenkenschanz, die vor den Toren von Kleve auf einer Insel zwischen Rhein und Waal lag. Diese Anlage wurde ab 1586 von einem Obristen Namens Martin Schenk von Nideggen errichtet, der in niederländischen Diensten stand. Doch die Spanier konnten sich nicht lange dieses Sieges erfreuen. Nur kurze Zeit wehte das Banner Philipps II über den Festungsmauern, dann machte eine neunmonatige Belagerung und die Pest der spanischen Herrschaft ein Ende. Dies nur als Hintergrundwissen um zu verstehen, was während dieser Zeit geschah. Die Belagerungsarmee ließ den Spaniern keine Möglichkeit zur Flucht über Land. Dazu hätten Sie mit Schiffen ans Festland übersetzen müssen, wo die Freiheitskämpfer schon auf die verhassten Besatzer warteten. Die einzige Möglichkeit Entsatz und Verpflegung herbei zu schaffen, bestand über Rhein und Waal. Wer heute auf dem Rheinstrom die Schenkenschanz passiert ahnt nichts von der tückischen Gewalt, die vor mehr als 350 Jahren das Fahren mit Schiffen auf Rhein und Waal zu einem gefährlichen Abenteuer machte. Vor allem nachts. Denn nur in der Nacht konnten sich die Spanier für ein paar Stunden aus der würgenden Umklammerung der Niederländer befreien. Ständig änderte der Strom seinen Lauf, und die Frühlingshochwasser jagten in brausendem Strom der Nordsee zu. Lastkähne verkehrten zwischen dem nordwestlich gelegenen Nimwegen, wo die Spanier ein großes Nachschub Depot unterhielten. In einer dieser Hochwasser-Nächte im Mai muss es gewesen sein, als ein schwer beladenes Lastschiff, bestückt mit Segel, Rudermannschaft und Steuermann einen Zug spanischer Soldaten zur Schenkenschanz schippern sollte. Die gurgelnden Wasser schmatzten gierig am hölzernen Rumpf des Schiffes, und ein um das andere Mal mussten Steuermann und Ruderer alles geben, um das Schiff in der Fahrt zu halten und gegen den gefährlichen Strom manövrieren. Dann schälten sich aus dem Dunkel der Nacht die Umrisse der Festung heraus. Wie ein Stein gewordener Dämon erhob sich das düstere Mauerwerk aus den Fluten des Rheinstromes, und aus den Öffnungen der Schießscharten fiel hin und wieder ein Lichtschein, der sich ängstlich an die bemoosten Steine klammerte.

„Es ist geschafft, gleich landen wir an“ rief der Steuermann gegen den Wind und die schäumende Flut an.

Die Männer im Schiff atmeten auf und frohlockten ob der sicheren Obhut, die sie gleich empfangen würde. Schon erkannten die Fahrensmänner die Gesichter der Wachen, die ihnen durch die Nacht mit hellen Tüchern zuwinkten, ein bestimmtes Signal, das zu jeder Fahrt geändert wurde, um dem Feind keine Möglichkeit zu geben, die Festungsmannschaft zu attackieren. Was dann geschah konnte später niemand mehr genau beschreiben, weil es zum einen Nacht war und zum anderen sehr schnell ging. Das Schiff muss auf eine neu entstandene Untiefe geraten sein; Sand, Geröll und Treibgut mischte der brodelnde Strom zu gefährlichen Barrieren auf; der Lastkahn fuhr sich fest, stellte den Rumpf quer, der sich nun, angeschoben durch die gewaltigen Wassermassen, wie ein großer Baumstamm aus der Flut erhob. Ein Schreien und Brüllen setzte ein, Befehle wurden erteilt, die niemand mehr befolgen konnte oder wollte. Das gesamte Schiff drehte sich krachend und splitternd um sich selbst, der rotbraune Kiel mit Schiffsboden schimmerte für einen kurzen Moment im fahlen Mondlicht, und nur wenige Augenblicke später war vom Schiff, von der Ladung und der Besatzung nichts mehr zu sehen. Nur das grässliche Schreien der Ertrinkenden hallte über die erbarmungslosen Fluten dahin, bis es in der Finsternis erstarb. Das liegt mehr als 350 Jahre zurück und war sicher ein tragisches Ereignis. Aber das ist nur die halbe Geschichte. Besuchen sie das Dörfchen Schenkenschanz auf der heutigen Halbinsel im Rheinstrom bei Kleve. An schönen Sommertagen ein idyllischer Ort, der die Sorgen des Alltags im Handumdrehen vergessen macht. Doch wenn die Frühlingshochwasser kommen, die ganz Großen, Mächtigen, die alles Verschlingenden – dann sollten Sie tunlichst Ihren Fuß nicht auf die Schenkenschanz setzen. Von den mächtigen Mauern des Bollwerks ist nichts mehr zu sehen, es wurde im 19.Jahrhundert geschleift. Aber wenn sich die Geschehnisse jener Maitage jähren, sich in einem jener mörderischen Frühlingshochwasser verdichten, dann erhebt sich die alte Festung wie von Geisterhand getrieben aus den schäumenden Fluten – wie damals in jener dunklen Nacht, die dem Schiff und seiner Besatzung zum Verhängnis wurde. Sollte es Sie aber doch auf die Insel verschlagen, dann lauschen Sie in der Nacht den Stimmen des Stromes. Es sind nicht nur die Einheimischen, die das klagende Hilfegeschrei der Ertrinkenden vernehmen. Die aufgewühlten Fluten spülen die Seelen der Spanier vom Grund des Flusses an die Oberfläche – wo sie vergebens um Rettung und Erlösung rufen.

Morituri te salutante - die Todgeweihten grüßen dich.

6) Gesichter

Es gibt Erfahrungen im Leben eines Menschen, einer Familie, eines Volkes die so elementar und aufwühlend sind, dass es Jahre, ja mitunter Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte braucht, sie zu verstehen und zu begreifen. Dabei muss es nicht ein verheerender Krieg, eine Katastrophe oder ein anderes großes Unheil sein. Zuweilen versteckt sich die mahnende Erinnerung als Ausdruck grenzenloser Angst und unfassbaren Leids hinter einer unscheinbaren Tapete, besser gesagt hinter einer Trennwand, auf der das vorbenannte Papier als verschönender Raumschmuck vor vielen Jahren aufgeklebt wurde. Die Geschichte, welche ich hier erzähle, ist wahr, so wahrhaftig wie die Tatsache, dass sich die Erde um die Sonne dreht und wir nur ein unbedeutendes Sonnensystem sind in einer gewaltigen Galaxie. Aber all zu oft verbirgt sich das wirklich Große, das Bedeutende - aber auch das Tragische und Verhängnisvolle, in den weniger beeindruckenden Arrangements unserer Vorstellungswelt von Sein und nicht Sein. Doch lassen Sie mich zum eigentlichen Kern meiner Erzählung kommen, die, so hoffe ich, Ihnen ein wenig mehr den Sinn schärft für jene Dinge, die unsichtbar, kaum wahrnehmbar, dabei doch mit aller Gewalt vorhanden und die Geschicke der Menschheit lenkend, unseren täglichen Lebenslauf bestimmen. Alles nahm seinen Anfang im Berlin der ausgehenden Sechziger und beginnenden Siebziger Jahre. Als Student der Betriebswirtschaft gehörte ich wie selbstverständlich zu jener berühmt-berüchtigten Generation, die sich mit Brachialgewalt von ihrer altehrwürdigen, vermufften und mit überkommenen Vorurteilen gesegneten Elterngeneration trennten und den Staat - so damals einhelliger Tenor - an den Rand des Bürgerkriegs führten. Heute wissen wir alles viel besser, wie schon so viele Generationen vor uns im Nachhinein alles besser wussten, und haben uns entsprechend arrangiert. Trotz aller Schwierigkeiten, wenn ich diesen mehr als unsere, der Studenten wirkliche Lage betreffenden Zustand entschärfenden Begriff verwenden darf, gelang uns, und damit auch mir, der relativ unbeschadete Eintritt in die tags zuvor noch verdammte kapitalistische Wohlstandsgesellschaft, die mir und meinen Mitkommilitonen meine theoretischen und praktischen Ausflüge ins Che Guevara- und Ho-Tschih-Minh Lager nicht Übel nahmen. Im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, dass mir meine Arbeitgeber und Kollegen ganz besonderen Respekt entgegenbrachten, hatten wir uns doch auch für die Belange der Arbeitnehmer vehement eingesetzt. In mir keimten Empfindungen, die sich durchaus mit denen eines Samurai vergleichen ließen, jedenfalls theoretisch. Aber das nur als Anmerkung, ich möchte Sie nun auf den eigentlichen Pfad meiner Erzählung zurückführen, denn sicher sind Sie begierig darauf zu erfahren, was nun in Berlin geschah, und vor allem was mit mir geschah. Da meine lukrative Einkommensaussicht auf längere Zeit gesichert schien, widmete ich während meiner nicht gerade üppig bemessenen Freizeit mein Augenmerk den Schönheiten Berlins, nicht nur den Baulich-Kulturellen, sondern auch den Weiblichen. So ergab sich fast zwangsläufig die Bekanntschaft mit einer reizenden Wannseeschönheit, aus der sich eine intensive, leidenschaftliche Beziehung entwickelte, die im Hinblick auf die anderen Umstände, in der sich meine Angebetete plötzlich befand, zu rascher Heirat drängte, was dann auch geschah. Ich habe diesen Schritt bis heute nicht bereut, das sei nur am Rande erwähnt und auch als Trost für all diejenigen die glauben, dass nach ungezählten Ehejahren nichts mehr übrig ist von jener Leidenschaft, die in schwül-heißen Sommernächten der Liebe Glut wallende Gewänder umlegt. Sie ist noch da und es liegt nur an uns selbst, sie von Zeit zu Zeit neu zu entdecken. An einem wunderschönen Augusttag schenkte mir meine junge Frau ein bezauberndes Mädchen, und es gab an diesem Tag nichts Größeres auf der Welt als den Augenblick, als ich unser Kind zum ersten Mal sehen durfte. Anfassen traute ich mich diesen rosigen Wurm nicht, denn ich befürchtete ihn ob dieser Berührung zu zerbrechen. Später bekam ich dann unverhofft und ungewollt Einblick in die Babystation, und von da an hatte ich wesentlich mehr Vertrauen in die Überlebensfähigkeit von Neugeborenen, die sich energisch und lautstark den Zugriffen der Säuglingsschwestern widersetzten. Nachdem nun meine Frau mit unserem Kind aus der Klinik entlassen wurde stellte sich die Frage, wie eine optimale Unterbringung dieser auf drei Personen angewachsenen Intimorganisation, so nannten wir unsere Familie in jenen Tagen, unterzubringen sei. Nach Studium der einschlägigen Zeitungen und unter selbstloser Hilfe eines Kollegen gelang es uns kurzfristig, eine Wohnung in Berlin-Kreuzberg zu bekommen. Bei dieser Wohnung handelte es sich um die Hinterlassenschaft eines ehemaligen kaiserlichen Offiziers, der sich den damaligen Verhältnissen entsprechend großbürgerlich und damit klassizistisch etablierte. In einem Haus in der Reichenberger Straße, unweit des Landwehrkanals, als Eckhaus zur Lausitzer Straße gebaut, bezogen wir in der ersten Etage zu beiden Seiten unsere Wohnung, und ich muss sagen, dass mir bis dahin jegliche Vorstellung darüber fehlte, wie die bürgerliche Wohlstandsgesellschaft des ausgehenden Neunzehnten und beginnenden Zwanzigsten Jahrhunderts zu leben und vor allem zu residieren pflegte. Die angemieteten Räumlichkeiten maßen über alles mehr als Einhundertfünfzig Quadratmeter und das zu einem Preis, der mehr als freiwillige Spende Berechtigung finden könnte, geschweige denn als Mietsumme. Wie dem auch sei, wir waren mehr als froh über unser neues Heim, wenn sich auch die drei Menschlein in diesem Irrgarten der Räume hoffnungslos verloren. Eingangs der Wohnung schloss sich ein in der Unendlichkeit verlierender Korridor oder Flur an, was der Wohnung einen Hauch von lebendiger Vergangenheit, aber auch eine, in leichtem Anflug unerklärliche, ein wenig unheimliche Ausstrahlung verlieh. Seltsamerweise gestand mir meine Frau noch am gleichen Abend, der erste übrigens in unserer gemeinsamen Wohnung, dass sie sich vor diesem langen Korridor fürchtete. Ich versprach mein Bestes zu tun, um unser trautes Heim so anheimelnd wie möglich zu machen. Neue Tapeten, neue Lampen, frische Farben, viel Licht überall, besonders im Korridor, was meiner Angebeteten und Mutter meiner Tochter sehr gefiel. Zur rechten und linken des Korridors lagen die großzügig bemessenen Zimmer der Wohnung, eine Küche, ein Wohnzimmer, Schlaf- und Kinderzimmer sowie ein Zimmer für das Hausmädchen, das wir uns aus menschlichen, weniger aus finanziellen Gründen nicht halten wollten. Meine Frau verabscheut die Sklaverei. Darüber hinaus gab es noch ein Badezimmer, das von der Ausgestaltung und Größe her einer mittleren Badeanstalt Konkurrenz machen konnte. In der Küche befand sich neben einem mächtigen Herd, zu beheizen mit Kohle, Holz und anderen festen Brennstoffen, noch der Heizkessel, der für das warme Wasser im Haushalt zuständig war. Klugerweise hatten sich die Baumeister beim Einbau damals für die Nordseite entschieden, so dass auch in heißen Sommern der Aufenthalt in der Küche erträglich war. Zur Freude meiner Frau entdeckten wir neben dem Herd, gut getarnt durch eine übertapezierte Tür, die Speisekammer, die uns während unserer Anwesenheit in dieser Wohnung gute Dienste leistete. Bernadette, so nannten wir unsere Tochter, bezog das ihr gemäße Kinderzimmer auf der Ostseite, durch dessen Fenster die morgendlichen Sonnenstrahlen fielen und ihr das Aufwachen, nicht jedoch das Aufstehen leichter machten. Im Gegensatz zu allen anderen Zimmern erschien uns das Kinderzimmer kleiner als die verbleibenden Räume, was uns aber im Hinblick auf die Gesamtgröße der Wohnung nicht störte. Bernadette verfügte über mehr Platz zum Spielen und Toben als andere gleichaltrige Kinder, und so liefen die ersten ehelichen Jahre mit all ihren Höhen und Tiefen doch recht sorglos an uns vorbei. Es gab die eine oder andere Kinderkrankheit, was ganz normal ist, es gab die ersten Querelen im Kindergarten. Irgendwann mussten wir uns an die Tatsache gewöhnen, dass unsere Tochter Bernadette kein Säugling mehr war, sondern ein Kind von sechs Jahren, das sehr selbstbewusst nicht nur durch unsere Wohnung tollte. Eigentlich waren wir mit der Entwicklung sowohl wirtschaftlich, mein Einkommen entsprach dem damaligen Niveau gut dotierter Diplomstellen, als auch familiär, wir erwarteten unser zweites Kind, sehr zufrieden. So maßen wir den anfänglichen, nächtlichen Störungen durch Bernadette keine übermäßige Bedeutung zu, beruhigte uns doch die seit Jahren bekannte Kinderärztin mit den Worten, dass es für Kinder dieses Alters durchaus normal sei, unruhige Träume zu haben. Hinzu käme noch die Schwangerschaft meiner Frau, die auf ein Kind doch gewisse Einflüsse ausüben konnte. Wir sollten uns nicht weiter sorgen und den Dingen ihren natürlichen Lauf lassen. Würde es widererwarten aber zu einer Steigerung des nächtlichen Unruheverhaltens unserer Tochter kommen, so stünde sie uns jederzeit zur Verfügung. Meine Frau und ich begnügten uns mit dieser Erklärung, die uns im Hinblick auf die wissenschaftliche Begründung plausibel und glaubwürdig erschien. Im weiteren Jahresablauf gab es keine beunruhigenden nächtlichen Attacken mehr, und die ganze Angelegenheit geriet in Vergessenheit. Bernadette wurde eingeschult und entwickelte sich gemäß den elterlichen Erwartungen, die alle Mütter und Väter auf der Welt in ihre Kinder setzen, recht gut. Das Jahr ging zur Neige, die bekannten Festlichkeiten standen vor der Tür, und unsere Tochter bekam nicht nur zum Weihnachtsfest reichlich Geschenke von der allseits hofierten Verwandtschaft, sondern noch ein Geschwisterchen dazu, unsere zweite Tochter Beatrix, die schon nach wenigen Tagen ihre große Schwester Bernadette an Lautstärke und Lebendigkeit übertraf, was uns nicht immer in euphorische Stimmung versetzte. Das neue Jahr kam, die Zeit verflog wie im Wind, meine Tätigkeit bei einem bedeutenden Baumaschinenhersteller wurde zur Unentbehrlichkeit deklariert, was mir einerseits schwindelerregende Einkünfte bescherte, andererseits in regelmäßigen Abständen die der Familie zugedachten Wochenenden versauerte, musste ich doch ein über das andere Mal meine heiligen Zusagen brechen und wohl oder übel meinem hohen Boss untertänig sein. Der April des Jahres 1974 ging in die Geschichte unseres Familienlebens ein wie die Geburtstage unserer Kinder. Genau war es der Achtzehnte April des genannten Jahres, ein Freitag, als sich in der Nacht folgendes ereignete. Lautes Weinen und Jammern erscholl kurz vor Elf Uhr abends aus dem Zimmer unserer Tochter Bernadette. Da sich das eheliche Schlafzimmer entgegengesetzt auf der anderen Seite des langen Korridors befand, vermischten sich die klagenden Rufe des Kindes mit den letzten Starts und Landungen von Flugzeugen aus aller Herren Länder, denen durch Sondergenehmigungen die Erlaubnis zur nächtlichen Überfliegung Berlins gestattet wurde. Die an unserer Wohnung vorbeiführende Ausfallstraße tat ihr übriges, und aus diesem Grund blieb die Tür unseres Schlafgemachs an diesen Freitagen stets geschlossen. Allein der mütterliche Instinkt meiner Frau, ihre ausgeprägte Sensibilität im Umgang mit den Kindern und auch meine ungewöhnliche Unruhe, ließen uns fast gleichzeitig erwachen. Beatrix, die Jüngste in unserem Kreis, bekundete keinerlei Interesse am Geheul ihrer großen Schwester und schlief den Schlaf der kindlichen Unschuld.

"Was ist das - hörst du es auch, das kommt aus Bernadettes Zimmer. Mein Gott, das Kind hat wieder diese schrecklichen Träume!"

Laut und stoßweise rief meine Frau diese Worte in die spärlich beleuchtete Atmosphäre unseres Schlafzimmers, und wie auf ein geheimes Signal hin stimmte Beatrix, aufgeschreckt aus ihrem Schlummer, in das Konzert nächtlicher Beunruhigung ein.

"Ist schon gut, ich schau nach - das sind bestimmt diese blöden Flugzeuge. Wieso dürfen die hier nachts über die Stadt fliegen. Wo Millionen Menschen leben? Unglaublich."

Ich bemühte mich dem Tonfall meiner Worte ein wenig Entrüstung zu verleihen, aber die rechte Überzeugung wollte sich nicht einstellen. Raschen Schrittes erreichte ich das Zimmer unseres Kindes, und als ich die Tür zu Bernadettes Schlafraum öffnete, erschrak ich beim Anblick des Mädchens derart, dass ich laut nach meiner Frau schrie, worauf diese wie ein Wirbelwind herbeieilte, zum Bett von Bernadette stürzte und ihr Kind liebevoll und beschützend in ihre Arme nahm. Aber so sehr sich meine Frau auch mühte, unsere Tochter streichelte, liebkoste, mit ihr leise und einschläfernd sprach, nichts konnte den gestörten Nachtschlaf Bernadettes retten, geschweige denn sie umstimmen.

"Mama - Mama - überall sind Gesichter - da in der Wand - so schlimme Gesichter - viele Köpfe sind da, so viele Köpfe. Sie weinen und schreien - Mama - ich habe solche Angst."

Meine Frau und ich brachten in dieser Nacht kein Auge mehr zu, dafür schlief unsere Tochter im ehelichen Bett wie in Abrahams Schoß. Auch Beatrix besann sich kurzfristig eines Besseren und stellte ihr solidarisches Geschrei auf schmatzendes Mümmeln um, als meine Frau ihr kurzerhand die Brust in den Mund steckte. Die nächsten Tage verbrachte mein Eheweib mit Bernadette bei diversen Kinderärzten in Berlin, aber trotz aller Bemühungen gelang es nicht, die Ursachen für das Verhalten unserer Tochter zu ergründen.

"Vielleicht liegt es an den Tapeten, das Muster ist schon beeindruckend. Diese riesigen Blumen, da kann ein Kind schon die eine oder andere geistige Verbindung herstellen. Was wissen wir Erwachsenen schon von der Vorstellungswelt eines Kindes? Allein unsere eigenen Erinnerungen geben uns einen winzigen Einblick in die Beweglichkeit kindlicher Fantasie. Und im vergangenen Jahr war es genauso - sagen Sie? Und wie war es davor - haben Sie dieses Verhalten schon vorher beobachtet?"

Wir verneinten die Fragen der Kinderärztin, versprachen aber für eine neue Tapete zu sorgen, die schon wenige Tage nach diesem nächtlichen Albtraum durch einen örtlichen Malermeister aufgeklebt wurde.

"Ist die schön" rief Bernadette immer wieder aus, "ist die schön".

Das fanden wir auch und waren mehr als erfreut über die wohlwollende Anerkennung unserer Tochter. Allmählich normalisierte sich unser Familienleben, und bald dachte niemand mehr an diese schlimme Nacht im April zurück. Auch Bernadette hatte allem Anschein nach diesem unerfreulichen nächtlichen Ereignis aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Sie schlief fest und ruhig, was uns mehr als befriedigte. In den meisten Fällen werden familiäre Vorgänge dieser Art in absehbarer Zeit zum Gespräch der Nachbarschaft, sei es durch einen selbst, durch die Ehefrau oder durch wohlmeinende Nachbarn oder Schwiegereltern. In unserem Fall kam sicher alles zum Tragen, denn auf einem ihrer Einkäufe in die naheliegenden Geschäfte, wurde meine Frau von einer gleichaltrigen Dame angesprochen, die offensichtlich ein gesteigertes Bedürfnis an einem Gespräch hatte, wobei sicherlich die Neugier die eigentliche Triebfeder ihrer Frage war.

"Wie geht es denn Bernadette, ihrer Tochter? Ich hoffe doch gut. Nach allem was mir mein Sohn erzählt hat. Sie müssen wissen, mein Sohn und ihre Tochter, die gehen beide in dieselbe Klasse. Ist ja schrecklich für ihr Kind immer solche fürchterlichen Träume zu haben. Mein Mann meint, das hängt bestimmt mit dem Haus zusammen. Da soll während des Krieges was ganz Schlimmes passiert sein. Aber genaues weiß ich auch nicht, bin ja erst in den Fünfzigern geboren. Na ja, ich wünsche Ihnen und Bernadette jedenfalls alles Gute. Vielleicht sehen wir uns ja mal beim Elternsprechtag."

Meine Frau stand wie verdattert und wusste ihre Gedanken kaum zu ordnen, als Herr Maschultke, der Inhaber des Ladens, nachdem die mitteilsame Dame gegangen war, sich an meine Frau wandte.

"Entschuldigen Sie, es geht mich ja nichts an, habe nur eben zufällig das Gespräch mit angehört. Wohnen Sie hier in der Nähe. Vielleicht in der Reichenberger Straße?"

Flackernd beobachteten die Augen des alten Mannes meine Frau, und als diese bejahte und ihm noch den genauen Wohnort nannte, nämlich Ecke Lausitzer Straße, da zuckte es im Gesicht des Ladenbesitzers und er stöhnte laut, wobei er seinen Atem ausblies.

"Ja, ja - der alte Maibaum. So eine liebenswerte Familie. So nette Leute - wie konnten wir das nur zulassen? Schrecklich - einfach schrecklich."

"Wer ist Maibaum und was ist schrecklich" fragte meine Frau, aber der alte Maschultke winkte nur ab.

"Es ist das Beste, wenn Sie umziehen in eine andere Wohnung. Ihre Tochter wird niemals Ruhe finden in diesem Haus. Niemand der diese Zeit erlebt hat, wird jemals zu Ruhe kommen. Glauben Sie mir, es wird mit jedem Jahr schlimmer werden. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich habe zu tun."

"Nein - nein Herr Maschultke, so einfach ist das nicht. Wir wohnen in diesem Haus, und unsere Tochter hat schreckliche Albträume - aber nur im April. Dann ist es wieder vorbei. Sie wissen anscheinend mehr über dieses Haus als Ihnen lieb ist. Und nun sagen Sie mir bitte, wer ist Maibaum? Bitte - unser Kind soll nicht länger leiden!"

"Ich weiß doch nichts, nicht mehr als all die anderen hier. Hätte ich Ihnen doch bloß nichts gesagt. Jetzt habe ich den Ärger und Sie wollen eine Antwort. Dann kommen Sie in Gottes Namen heute Abend zu mir, schellen Sie zweimal, ich werde öffnen. Und bringen Sie Ihren Mann mit, sonst glaubt er Ihnen vielleicht nicht. Und nun gehen Sie bitte, ich muss mich um meine Kunden kümmern."

Zwischen Hoffen und Bangen verließ meine Frau den Kramladen und eilte unserer Wohnung entgegen. Die wildesten Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Was konnte denn so Schreckliches geschehen sein, damals in den Kriegsjahren? Vielleicht sind dort Leute bei einem Bombenangriff umgekommen? Aber dann würde das Haus nicht mehr stehen oder zumindest neu gebaut sein. Es war ein altes Haus, in dem wir unsere Wohnung besaßen, ein Haus, gebaut um die Jahrhundertwände von wohlhabenden Leuten. Wer sich damals so ein Gebäude leisten konnte, der hatte viel Geld. Nein, das war es sicher nicht. Eine Bluttat, ein Mord, war es das? Meine Frau schauderte bei dem Gedanken, dass möglicherweise im Kinderzimmer unserer ältesten Tochter ein Mensch auf gewaltsame Weise um sein Leben gebracht wurde. Jedenfalls ist in unserer Wohnung etwas geschehen, das bis zum heutigen Tage seine Spuren hinterlässt und Bernadette solche Albträume beschert. Und was hat es mit diesem Maibaum auf sich? Der alte Maschultke nannte diesen Namen. Waren das vielleicht die Vormieter oder gar Besitzer dieses Hauses? Wie dem auch sei, wir werden es heute Abend erfahren.

"Und du meinst, dass Herr Maschultke uns erklären kann, warum Bernadette diese Träume hat? Was hat er genau gesagt? Wir sollten am besten die Wohnung verlassen und uns eine andere Bleibe suchen. Wie stellt der sich das vor - hier in Berlin? Nur weil vor dreißig oder vierzig Jahren in dieser Wohnung oder diesem Haus etwas Schlimmes geschah sollen wir verschwinden?"

"Dann müssten viele Häuser und Wohnungen geräumt werden, das kannst du mir glauben. Aber vielleicht ist es ja ganz nützlich mit dem alten Maschultke zu sprechen. Warten wir es also ab."

"Ich bin sicher, dass er uns wichtige Dinge zu sagen hat, Dinge, von denen wir bisher keine Kenntnis hatten und die ganz sicher für Bernadettes Verhalten verantwortlich sind. Wir werden sehen, was uns Herr Maschultke zu sagen hat."

Der Abend rückte näher und wir baten unsere Nachbarin, Frau Seeliger um Aufsicht unserer Kinder für zwei Stunden, was die freundliche Dame auch sofort bejahte. Mit gemischten Gefühlen machten wir uns auf den Weg zu Maschultke, und nachdem wir zweimal den Klingelknopf betätigten, gab es für uns kein Zurück mehr.

"Guten Abend Herr Maschultke, vielen Dank, dass Sie uns Ihre kostbare Zeit.“

"Ja - ja, nun kommen Sie herein, es muss ja nicht jeder sehen, dass Sie zum alten Maschultke kommen. So - die Tür, Ihre Garderobe legen Sie bitte ab - und hier entlang. Meine Frau hat sich bereits zu Bett begeben. - Wir müssen leise sein, ich möchte mir keinen Ärger einhandeln. So - nehmen Sie Platz. Darf ich Ihnen etwas anbieten - Cognac - Wein - Bier. Oder eine Schorle - nach Berliner Art. Wäre vielleicht das Beste. Ich trinke auch eine. Bin gleich wieder da."

Wir sahen uns an und zuckten mit den Schultern, wobei auf unseren Gesichtern mehr Fragen zu lesen waren als ein Lexikon Antworten zu geben in der Lage war.

"Schöne alte Möbel, und da schau, dieses große Gemälde, ein richtiges Meisterwerk. Sicher alles Erbstücke von Maschultke. Und da in der Vitrine, welch wunderschönes Porzellan. Ob das Meißener ist."

"Susanne - ich bitte dich, du kannst doch nicht als Gast in einer fremden Wohnung auf Entdeckung ausgehen. Was soll denn Herr Maschultke denken" murmelte ich hinter vorgehaltener Hand.

"Ich finde solche alten Wohnungen einfach ..."

"So - da bin ich wieder. Ein Glas für die Gemahlin, eins für den Gemahl und eins für den alten Maschultke. Und schön langsam durch den Strohhalm einsaugen. Mit Genuss. Wohl bekomms."

Genüsslich sog Maschultke am herb - süßen Getränk, das über alle Maßen erfrischte, jedenfalls wurde das gesagt. Meine Frau und ich taten wie Maschultke und ließen das prickelnde Getränk in unserem Mund zergehen.

"In der Tat, sehr erfrischend."

"Ja - so eine gute alte Schorle ist immer noch etwas Besonderes. Zumal wenn die Temperaturen ansteigen. Dann sollte man tunlichst auf Alkohol verzichten. Meine Frau trinkt ohnehin nichts, nicht mal ein Bier. Allenfalls Schorle, aber die besteht dann fast nur aus Apfelsaft. So bin ich für die Kurzhaltung der geistigen Getränke zuständig", lachte Herr Maschultke leise.

"Aber nun zu Ihnen. Sie leben und arbeiten in Berlin, das ist sehr zu begrüßen. Diese Stadt hat ja immens was zu bieten, nicht nur die Mauer und ihre Insellage. Berlin steckt voller Historie, Kultur und Lebensfreude. Wäre das nicht so, dann hätten die Russen die Stadt längst kassiert." "Ich denke, wir haben es trotz aller Schwierigkeiten ganz gut getroffen. Finden Sie nicht auch? Ach so, wie geht es denn Ihnen und Ihren Kindern" fragte Maschultke vorsichtig.

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