Kitabı oku: «Vatter - es kostet nix», sayfa 2

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„Alles gut, Vatter. Du kannst chillen. Hier ist doch meine Pappe.“ Anton hielt in seiner rechten Hand den scheck­kartengroßen Führerschein.

Klaus war vollkommen verblüfft. Im ersten Moment fehlten ihm die Worte. Und außerdem war er vollkommen aus dem Atem.

„Das geschieht Dir aber recht, Vatter. Nach den an­strengenden Stunden mit Dir, wollte ich selber den Lappen schnellstens kriegen. Also hab‘ ich mit Lutscher und Emil die Theorie gelernt und mit Mama in ihrem Auto heimlich geübt. Und gestern hatte ich dann Prüfung.“

„Junge“, Klaus war ganz gerührt, „ich bin ja richtig stolz auf Dich. Das hast Du ja toll hingekriegt. Und Ihr alle habt dichtgehalten. Superleistung. Obwohl - ich hätte eben fast kollabiert vor Schreck.“

Klaus nahm seinen Ältesten in die Arme und klopfte ihm unbeholfen auf die Schulter.

Obwohl es Anton unangenehm war, ließ er diese spontane Geste väterlicher Vertrautheit und Zuneigung doch über sich ergehen. Es sah ja keiner zu. Und außerdem war er ja selber stolz auf sich und wahnsinnig erleichtert.

Der Druck war weg, und er konnte sich jetzt ganz auf die Vorbereitung für sein Abitur im Mai konzentrieren.

Und Klaus rechnete schnell in Windeseile zusammen, dass der Führerschein vielleicht doch nicht ganz so teuer werden würde.

Vielleicht hatte er Frau Grube ja doch etwas Unrecht getan.

Auf jeden Fall durfte Anton seinen Vater jetzt zu Aldi fahren, wo Klaus in einem Akt selbstloser Großzügigkeit gleich zwei leicht angewelkte Sträuße Tulpen zum Preis von Einem für Andrea kaufte.

Und die ganze Fahrt über korrigierte Klaus seinen Ältesten kein einziges Mal.

4

Emil, der sehr strukturiert arbeiten und lernen konnte, bekam heimlich von Andrea eine Zusage. Er würde ein innigst gewünschtes Snowboard bekommen, wenn er mit Anton für dessen Abi lernen und sein älterer Bruder die Prüfung auch gut bestehen würde.

Und Anton verzog sich sogar jeden Abend ohne zu murren mit Emil und Lutscher, der sich der Lerngruppe ange­schlossen hatte, in Emils gemütliches Dachzimmer.

Das letzte Schuljahr für Anton war auch deshalb ein besonderes Jahr, weil Emma in die fünfte Klasse auf dem­selben Gymnasium eingeschult worden war.

Alle drei Thaler Kinder gingen jetzt auf eine Schule. Das „Thaler-Gymnasium“, wie die rundliche Direktorin lachend bemerkte.

Was Anton etwas peinlich war, weil Emma regelmäßig in den großen Pausen mit ihren Freundinnen zu seiner Clique kam, um den Freundinnen ihren großen Bruder zu präsentieren. Unangenehm, vor allem, wenn Anton gerade eine der zahlreichen hübschen Abiturientinnen anbaggern wollte.

Emil freute sich hingegen, wenn er seine kleine Schwester auf dem Schulhof traf oder wenn sie morgens mit der Straßenbahn zusammen in die Schule fahren konnten.

Während die Jungs also in Emils aufgeräumten Zimmer lernten, was in Antons ungelüftetem, vermüllten Zimmer kaum möglich war, fuhr Andrea jeden Samstagmorgen mit Emma auf den Pferdehof. Misten, Pferde pflegen, Ausreiten und mit den anderen reitbegeisterten Müttern und Töchtern ein ausführliches Schwätzchen halten.

Klaus hingegen verabredete sich jeden Samstagnachmittag, Sonntagvormittag und Dienstagabend mit drei Freunden, Willi, Uwe und Stephan zum Joggen.

Das Ziel der drei Lauffreunde war der Kasseler Halb­marathon, der jedes Jahr im Herbst durch die meisten Bezirke ihrer Stadt führte.

Und zum Training konnte er ideal Mila mitnehmen, die gerne lief. Das hatte zwei Vorteile.

Zum einen lenkte Mila andere Hunde ab, sodass kein anderer Hund die drei Läufer verfolgte.

Denn Klaus war vor Jahren mal von einem giftigen kleinen Terrier in die Wade gebissen worden, der eigentlich nur spielen wollte. So sein Herrchen, das Klaus noch Vorwürfe machte, weil er seinen Liebling unnötig erregt hätte. Auf die hilflosen Rufe des Herrchens: „Hiiiiieeerher, Hiiiiiiieeerher, Pfuiii, Pfuiii“, hatte der sonst angeblich so artige Rüde nur mit Ignoranz und einem gesteigerten Jagdtrieb reagiert.

Klaus fluchte zum Steinerweichen und wünschte dem Köter daraufhin einen vollständigen Zahnverlust, einen kom­pletten Haarausfall, eine Staupe und einen Wurmbefall. Und dem Herrchen eine 3 Tages Diarrhoe.

Und zum anderen konnte Mila nicht verstehen, was sich die vier Freunde während des Laufs so alles erzählten.

Da Willi und Uwe über das Intranet in ihren Dienststellen im Rathaus ständig mit den neuesten Witzen versorgt wurden, motivierten sich die vier Freunde beim Laufen regelmäßig mit aktuellen „Herrenwitzen“, für die ihre Frauen wahrscheinlich sehr wenig Verständnis gehabt hätten. Auch den üblichen Willkommensgruß von Willi: „Hallo Mädels“ an seine drei Lauffreunde hätten die Frauen nicht unbedingt als witzig empfunden.

Die vier Freunde hatten sich einen präzisen Trainingsplan für ihr ambitioniertes Ziel aufgestellt. Dazu zählte neben den vertraulichen, humorvollen Gesprächen beim Laufen auch eine wechselnde Streckenführung.

Am Anfang kürzere, ebene Strecken, dann längere Läufe im Bergpark von Kassel und im Habichtswald mit teilweise erheblichen Steigungen. Und dann noch Intervalltraining auf dem Sportplatz.

Und alle achteten auf eine spezielle Ernährung, um die Kohlehydratspeicher regelmäßig zu füllen.

Klaus nahm leider durch sein Laufen und die fettarme Ernährung ziemlich ab, was Andrea allerdings gar nicht gefiel.

„Du erinnerst mich an ein leptosomes Klappfahrrad; kein Bäuchlein mehr und keine vollen Wangen. Und keinen knackigen Hintern mehr. Nur noch ein drahtiger Hunger­haken mit scharfen Ecken und Kanten. Nach dem Lauf nimmst Du aber wieder kräftig zu“, forderte Andrea von ihrem sehr sehnigen Mann, der mittlerweile aussah, wie Twiggy nach einer dreiwöchigen Fastenkur.

Es war Klaus‘ Lauffreund Willi, der eines Tages vorschlug, die Sensibilität für die Strecken und den Gleichgewichtssinn beim Laufen zu stärken.

„Dafür gibt es nichts Besseres, als einen Blindenlauf“, schlug Willi fachmännisch vor, denn er hatte im Fernsehen beobachtet, wie eine blinde Läuferin an einem Seil von ihrem Zugläufer durch den Berlin Marathon geführt wurde.

Also trafen sich Willi und Klaus, der eine Kordel mitgebracht hatte, um blind durch den Wald zu laufen und sich nur auf ihre Ohren und auf den Zugläufer zu verlassen. Die beiden trabten an der Hessenschanze los und liefen am Waldrand entlang. Beide wurden mutiger und zogen das Tempo an. Die Kordel zwischen ihnen straffte sich auf die volle Länge von zwei Metern. Klaus war richtig stolz auf sich, wie präzise er auf dem Schotterweg blieb.

Das ging genau zweihundert Meter gut.

Dann stieß Klaus mit dem Kopf sehr schmerzhaft an einen Ast und öffnete erschreckt reflexhaft seine Augen.

Vor ihm lag Willi im Graben und jammerte.

„Wieso hast Du mich denn in den Graben gelenkt?“ schimpfte Willi verärgert und rieb sich die zerschrammte Wade.

„Und warum hast Du mich an den Baum knallen lassen?“ entgegnete Klaus und spürte, wie er eine Beule bekam.

„Aber Du hast doch geführt und ich war der Blinde.“

„Im Gegenteil. Ich war der Blinde und hab‘ mich voll auf Dich verlassen“, stotterte Klaus, jetzt doch leicht verun­sichert.

Beide hatten sich jeweils auf den anderen als Zugläufer verlassen und waren mit zusammengekniffenen Augen blind losgelaufen. Bis zur ersten Kurve.

Als der Schmerz nachgelassen hatte, mussten beide doch herzlich lachen.

Und sie waren sich einig, in der Zukunft nur noch mit geöffneten Augen zu laufen. Sensibilität hin, Gleich­gewichtssinn her.

5

Das frühe Licht am Samstagmorgen um fünf Uhr in Fräulein Saurbiers Haus hatte nicht den Grund, dass Fräulein Saurbier wie üblich altersbedingt schon wach war. Heute Morgen war Fräulein Saurbier vor Nervosität wach­geworden. Denn heute Abend war Abschlussball. Von einem Tanzkurs!

Weder Fräulein Saurbier, noch Alma, hatten irgendjemand etwas von ihrer gemeinsamen Leidenschaft erzählt. Und da sie um fünf Uhr merkte, dass sie sowieso nicht mehr einschlafen konnte, beschloss Fräulein Saurbier am frühen Morgen, noch einige Soloübungen zu absolvieren.

Sie holte einige ältere Schallplatten aus dem Musikschrank ihrer längst verstorbenen Eltern und begann mit einem langsamen Walzer.

Sie steigerte sich zu einem Cha Cha Cha, dann eine langsame Rumba, die sie verträumt mitsummte, ein Tango von Rudi Schurike, zu dem ihre Eltern schon geschwoft hatten, dann ein Jive, bei dem sie sich fast der Länge lang hingelegt hatte, weil die Teppichkante störte, und am Schluss wurde Hildegard sehr wagemutig.

Zu den Klängen von Modern Talking, von denen sie sich heimlich eine CD gekauft hatte, ließ sie sich zu einem Disco Fox hinreißen.

Fräulein Saurbier kannte sich selber nicht mehr.

Denn ihre längst verblichene Mutter hatte der jungen Hildegard fast täglich Argumente geliefert, doch auf einen Tanzkurs zu verzichten. Und am besten ganz die Finger von jungen Männern zu lassen, die alle doch nur das Eine wollten!

Also hatte die jugendliche Hildegard ihre ganze Energie zur Freude ihrer Eltern in die Schule und dann in eine solide Ausbildung beim Finanzamt gesteckt.

Und sie hatte es weit gebracht.

Als eine von wenigen Steuerprüferinnen prüfte sie Bilanzen, Gewinn- und Verlustrechnungen und alle Belege sehr akribisch, was dem Staat einiges an Extraeinnahmen ein­brachte.

Korrekt, penibel, unnachgiebig, fleißig.

Fräulein Saurbier ging in fünfundvierzig Dienstjahren voll in ihrem Beruf auf.

Nur ihr Privatleben kam zu kurz.

Sie blieb ledig, wohnte bei ihren Eltern und fuhr jedes Jahr als graue Maus mit den Eltern nach Grömitz an die Ostsee.

Anfangs beobachtete Fräulein Saurbier die neuen Nachbarn sehr skeptisch. Zumal Klaus auch noch Steuerberater war und Steuern sparen wollte.

Aber die kleinen Thaler Kinder und später das Hundebaby Mila öffneten das Herz der sonst so reservierten Pensionärin.

Die Wende in Fräulein Saurbiers eintönigem Leben kam an dem Tag, als sie Alma, Klaus‘ verwitwete Mutter, kennen­lernte.

Durch sie hatte sich Hildegard überwunden, mit der ganzen Familie Thaler eine Familien-, Weihnachts- und Silvester­feier im kleinen Ferienhaus von Thalers in La Herradura in Andalusien zu feiern. Und danach war sie erstmals offen für Neues.

Alma hatte sie nicht nur überredet, sich erstmals einen Hosenanzug zu kaufen. Fräulein Saurbier hatte sich auch sehr schnell überzeugen lassen, in Almas Wanderverein einzutreten.

Denn Alma war nach dem frühen Tod ihres Mannes Man­fred nicht nur eine sehr liebevolle und belastbare Großmutter, sondern auch eine sehr engagierte Wander­führerin.

Für jeden Mittwochnachmittag hatte die stets analog arbeitende Alma mit ihrer Reiseschreibmaschine eine Wandertour ausgearbeitet, die sie kopierte und den Mitgliedern, meist ältere, verwitwete Damen, mit der Post zuschickte. Dabei tippte Alma das Programm stundenlang mit zwei Fingern geduldig ab. Klaus nannte das nur Almas „System Columbus“ – jeder Buchstabe eine neue Entdeckung.

Und nach dem „Abenteuerurlaub“ in Südspanien, wo Hildegard die überaus netten Nachbarn von Thalers kennenlernen durfte, wurde Fräulein Saurbier so locker, dass sie sich Almas Wandergruppe spontan anschloss.

Unter Almas einfühlsamer Regie verwandelte sich die schnöde Raupe, die nur graue Kostüme, Lodenmantel und derbe, aber bequeme Schuhe aus der Kollektion: „Die Heide blüht“ trug, im Laufe eines Jahres in einen ansehnlichen, sogar recht hübschen Schmetterling.

Selbst den Thaler Kindern fiel die wundersame Veränderung ihrer Nachbarin auf.

„Papi, die Saurbier sieht irgendwie ganz neu aus“, kommentierte Emma ihren Eindruck beim gemeinsamen Frühstück.

„Vatter, das Fräulein Saurbier ist wirklich nicht mehr die Alte. Früher war sie sächlich. Jetzt wird sie weiblich. Ich weiß gar nicht, ob mir das gefällt. Man kann ja gar nicht mehr über sie lästern“, stellte Anton fast bedauernd fest. Zum Leidwesen von Andrea hatten sich die Kinder in der Vergangenheit nämlich angewöhnt, regelmäßig über die kauzige Nachbarin ihre Witzchen zu machen.

„Also dann schenken wir ihr doch zum nächsten Weihnachtsfest einen Mascara Stift und Eyeliner“, schlug der pragmatische Emil vor, denn Fräulein Saurbier wurde regelmäßig zum Weihnachtsabend bei Thalers eingeladen.

„Oder einen Gutschein für eine Single Börse“, murmelte Klaus hinter der Zeitung Richtung Andrea, die lachend erwiderte: „Besser spät, als nie.“

Hildegard Saurbiers Outfit änderte sich total. Hosen waren nicht mehr tabu, sondern entpuppten sich als praktisch und modisch. Den Höhepunkt von Fräulein Saurbiers Ver­wandlung bildete der revolutionäre Kauf einer Jeans und eines modischen, grünen Jacketts.

Die grauen Haare wurden auf einmal leicht getönt und später dunkelblond gefärbt. Ein dezentes Rouge und ein unauffälliger Lippenstift ließen Hildegards ehemals herbe Gesichtszüge richtig hübsch erscheinen.

Und der strenge Geruch nach Kölnisch Wasser, Mottenkugeln, gepaart mit Klosterfrau Melissengeist und manchmal mit einem Tuck Sagrotan, wich auf einmal dem angenehmen Duft eines gut ausgesuchten, unauffälligen Parfums.

Die Freundschaft mit Alma führte auch dazu, dass beide in der Volkshochschule einen Theaterkurs besuchten und sich regelmäßig gemeinsam Matineen, Generalproben und Opern im Großen Haus des Staatstheaters ansahen.

Und sie hatten sich für einen Englisch Kurs angemeldet, denn Alma hatte Brieffreunde in den USA. Fräulein Saurbier dachte sogar kurzzeitig über einen Sprachurlaub in England nach.

Nach dem Genuss von drei Gläschen Eierlikör, Hildegards heimlicher Leidenschaft, der sie sich meist aber nur in Maßen hingab, hatten die beiden reifen Damen die grandiose Idee, zusammen einen Tanzkurs zu besuchen.

Aber das war nicht ganz so einfach, wie die beiden unternehmungslustigen Freundinnen sich das vorgestellt hatten.

Zwar gab es in Kassel Tanzschulen genug.

Aber die Männer fehlten. Es gab kaum noch tanzwillige und -fähige ältere Herren. Und die wenigen Exemplare dieser sehr seltenen Spezies wurden von der Vielzahl der tanzwütigen älteren Damen förmlich überrollt.

Was also machen?

Aber Alma war wie immer einfallsreich und flexibel. Hildegard und Alma würden einfach zusammen tanzen. Mal tanzte die eine als Mann und mal die andere.

Die einfühlsame Lehrerin brachte dem Kreis gleich­gesinnter, älterer Schülerinnen und Schüler geduldig die Standard Tänze bei. So lange, bis auch der unbegabteste Aspirant mithalten konnte. Das Sahnetüpfelchen waren lateinamerikanische Tänze: Rumba, Cha Cha Cha und ein gefühlvoller, heißer Tango.

Allerdings kein Salsa. Der sollte in einem eigenen Aufbaukurs gelernt werden, nach einem von der Tanzlehrerin empfohlenen ärztlichen Gesundheits-Check für die Senioren.

Beim Mittelball waren noch zu wenig Herren dabei. Als die erste CD reingeschoben wurde, stürzten sich die reiferen Damen rücksichtslos auf die hilflosen Senioren.

Die Quote betrug zwei zu eins, und wer ein männliches Exemplar ergattert hatte, wollte seinen Tanzpartner am liebsten den ganzen Abend nicht mehr abgeben.

Aber da schob Frau Riebezahl-Schondorf, die Tanzlehrerin, sehr schnell einen Riegel vor, indem nach jedem dritten Tanz eine Damenwahl angekündigt wurde.

Hilfreich war für alle Seniorentänzer auch, dass Frau Riebezahl-Schondorf beim Mittelball den Tanz noch an­sagte, sodass jeder meistens wusste, welche Schritte er oder sie nun machen musste.

Aber heute Abend, beim Abschlussball, war das anders. Da wurde nur Musik gespielt und jeder musste allein den richtigen Tanz raten.

Fräulein Saurbier befürchtete daher für den Abend einige Probleme und heftige Kontroversen zwischen den Tanz­partnern.

Vor allem, weil sie so gerne führte. Auch dann, wenn sie einen der wenigen männlichen Exoten im Arm wiegte.

6

Am Abend nahm Hildegard Saurbier die Straßenbahn und fuhr in den Stadtteil, wo das Tanzlokal „Zum flotten Jäger“ lag.

Eigentlich war es ja ein italienisches Restaurant mit hinterem Saal.

Und diesen Saal mit hinterer Bühne mieteten einige Tanzschulen in Kassel, um ihre Mittel- und Abschlussbälle durchzuführen.

Für den heutigen Abend hatte sich Fräulein Saurbier nochmal sehr fein rausgeputzt und ein älteres, festliches Kleid etwas kürzen und weiten lassen. Nur die schwarz glänzenden Tanzschuhe hatte sie neu gekauft.

Am Vormittag durfte ihre Frisöse einige Stunden ein kleines Kunstwerk mit ihren Haaren verbringen, bevor sich Hildegard zu diesem besonderen Anlass noch ein neues, aufregendes Parfum anlegte.

Sie war also gewappnet.

Genauso wie ihre Freundin Alma, die aber eine sportliche Kombination von heller Hose und schwarzem Blazer auf weißer Bluse trug.

Alma war mit ihrem alten, braunen VW Jetta mit Automatik auf dem Parkplatz des „Flotten Jägers“ angekommen, als sie ihre winkende Freundin sah. Die Abgasnorm des anti­quierten Autos kannten nur noch einige wenige Kinder aus dem Geschichtsunterricht.

Beide Freundinnen betraten den Saal und setzten sich an einen der noch freien Tische. Auf den kleinen runden Tischen standen ältere Telefone mit Wählscheibe und grünem Samtüberzug.

Denn außer den Bällen der Tanzschulen wurde Sonntag­nachmittag der beliebte Senioren Tanztee „Sie sucht ihn – er sucht sie“ abgehalten. Mit den Telefonen, hinter denen Schilder mit Nummern standen, konnten kontakt- und tanzwütige Senioren das Objekt ihrer Begierde anrufen und zu einem Tänzchen bitten.

Neben den Telefonen standen auch kleine Stehlampen. Leuchtete die Lampe grün auf, war der am Tisch Sitzende frei und absolut willig. Leuchtete die Lampe rot auf, war die anvisierte Person gerade besetzt oder hatte keine Lust.

Heute Abend fand für zwei Tanzschulen gemeinsam der Abschlussball statt. Entsprechend voll wurde der Saal in der nächsten Viertelstunde.

Frau Riebezahl-Schondorf und Herr Pahlhuber-Hurnstein, der Tanzlehrer des anderen Kurses, hatten sich nicht lumpen lassen, und eine kleine drei Mann Kombo engagiert. Heute Abend also mit Live Musik. Wie aufregend.

Die „3 Tornados“ bestanden aus einem Gitarristen, einem Organisten und einem Schlagzeuger. Auf dem Fell der Schlagzeugtrommel waren sinnigerweise drei verblasste Wirbelstürme mit lachenden Gesichtern abgebildet. Allerdings waren die „Tornados“ mittlerweile nur noch ein sehr laues Lüftchen.

Die drei, auch schon in die Jahre gekommenen, Musikanten, trugen hellblaue Bühnenanzüge mit Schlag und Schulter­polstern aus den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Bei dem Gitarristen und dem Schlagzeuger spannten die Anzüge so, dass das Jackett offenbleiben musste. Und den Kopf des Organisten zierte ein fast echt wirkendes, schwarzes Toupet, unter dem ziemlich keck der kümmer­liche Rest eines grauen Haarkranzes‘ wie ein Nest hervor­lugte.

Drei Mikrophone ließen befürchten, dass die drei Herren auch noch singen würden.

Alma und Hildegard waren sichtlich nervös, als ein Tusch einsetzte und beide Tanzlehrer die Gäste begrüßten.

Beide Freundinnen hatten sich bereits einen Piccolo bestellt, denn Fräulein Saurbier hatte enttäuscht festgestellt, dass leider kein Eierlikör angeboten wurde.

Mit bereits geröteten Wangen lauschten die Beiden den Ausführungen der Tanzlehrer. Heute war dafür gesorgt, dass genügend Herren anwesend waren.

Mit Hilfe von Getränkegutscheinen und einem Nachlass bei der Kursgebühr hatten Frau Riebezahl-Schondorf und Herr Pahlhuber-Hurnstein aus anderen Kursen so viel Herren abgeworben, dass das Verhältnis von Damen und Herren jetzt eins zu eins war.

Höhepunkt des Abends sollte später eine Tombola sein, mit interessanten Preisen, die Kasseler Geschäftsleute gestiftet hatten.

Frau Riebezahl-Schondorf trug sehr flache, schwarze Lack­schuhe, um die ein Meter einundachtzig nicht nennenswert zu überschreiten. Ihre Stimme erinnerte an eine ketten­rauchende Münsteraner Staatsanwältin. So als hätte sie mit Rohrreiniger gegurgelt. Herr Pahlhuber-Hurnstein hatte sich extra neue Schuhe im Internet bestellt, die ihn sieben Zentimeter verlängerten, sodass er in der Lage war, mit Frau Riebezahl-Schondorf zu tanzen, ohne eine Genickstarre zu kriegen. Seine quengelnde Stimme glich der von Homer von den Simpsons. „So ein Päarchen vergisst man nicht, meine Liebe“, flüsterte Alma Hildegard ins Ohr.

Die Tanzlehrer baten alle Herren ohne Partnerin auf die eine Seite der Tanzfläche und alle Damen, die solo erschienen waren, auf die andere Seite.

Der Ball begann mit einer Damenwahl.

Alma, die Sportliche, erreichte knapp vor einer etwas korpulenteren Dame ihren Wunschpartner: Otto.

Mitte siebzig, ziemlich schlank und gut erhalten, sehr breiter, glänzender Scheitel zwischen den stark behaarten Ohr­wuscheln. Der verbliebene Haarkranz war so übersichtlich, dass Otto jedes einzelne Haar mit Namen kannte. Die helle Hose hatte noch einen ordentlichen Schlag und der schwarze Blazer war mit rustikalen Schulterpolstern gefüttert. Leicht erhöhter Cholesterinspiegel, aber an­sonsten noch willig und belastbar.

Fräulein Saurbier wurde kurz vor ihrem Zielobjekt von einer energischen Konkurrentin abgedrängt und landete bei Waldemar.

Ebenfalls mitte siebzig, sehr gut entwickelter Bauch, aber auch noch relativ volle Haare, schwarzer Anzug. Und bereits jetzt schon durchtranspiriert. Der Bauch und das gerötete Gesicht ließen darauf schließen, dass Waldemar weder Probleme mit hopfenartigen Getränken noch mit zu niedrigem Blutdruck hatte.

„Er hieß Waldemar, weil es im Wald geschah“, erinnerte sich Hildegard an den alten Gassenhauer aus ihrer Jugend, als sie Waldemar zum Tanz bat.

Nach den ersten Tänzen ohne Ansage hatte sich Fräulein Saurbier durchgesetzt. Der dicke Waldemar ließ sich jetzt anstandslos führen.

Alma gab sich gleich den gelenkigen Vorgaben von Otto hin, sodass beide Paare die erste Runde ohne Blessuren überstanden hatten.

In der Pause fragten die beiden Kavaliere höflich, ob sie sich zu den beiden Damen an den Tisch setzten durften. Sie durften.

Beide waren seit langen Jahren befreundet. Und beide waren verwitwet und kamen aus dem Kurs von Herrn Pahlhuber-Hurnstein. Nach dem Tod ihrer Frauen hatten ihnen ihre Kinder nach einer Anstandsfrist einen Tanzkurs geschenkt, damit sie wieder unter nette Menschen kamen. Denn Tanzen war gut für Körper, Seele und Gehirn, wie die Kinder sie motivierten.

Die nächste Tanzsession klappte noch harmonischer. Vielleicht lag es ja auch an der glitzernden Discokugel, die sich unter der Decke drehte, Lichtsprenkel auf die ver­schwitzten Gesichter warf und alle zusätzlich motivierte.

Hildegard war erstaunt, dass Waldemar trotz seiner Leibes­fülle ein wieselflinker, gelenkiger Tänzer war, der sich aber bedingungslos ihrer Führung unterwarf.

Bei einigen Pärchen ging es allerdings nicht ganz so harmonisch zu. Sie stritten offensichtlich, welcher Tanz nun gemeint war, welcher Fuß zuerst kommt und wer führen durfte.

„Das sind bestimmt ziemlich alte Paare“, meinte Alma lachend, als sie sich beim Disco Fox mit drei peppigen Schritten auf Otto zubewegte, um dann in eine Drehung abzugleiten.

In der nächsten Pause wurden Lose verkauft. Alle vier Tischpartner kauften je drei Stück.

Die ersten zwei waren wie immer Nieten. Aber beim dritten Los krachte es richtig.

Der dicke Waldemar hatte passenderweise einen Gutschein für ein Essen zu zweit in einem bekannten Kasseler Restaurant gewonnen.

Alma wusste sofort, dass sie den gewonnenen Golf Schnupperkurs ihrem Sohn Klaus schenken würde.

Ottos drittes Los war ein Gutschein für eine Stadtrundfahrt zu zweit in einem offenen Doppeldeckerbus. Hop on - Hop off.

Aber Hildegard hatte den Vogel abgeschossen. Als sie ihr Los geöffnet hatte, atmete sie vor Aufregung flach durch die trockene Nase, und die Hände zitterten, als sie sprachlos vor Glück ihr Los der Tanzlehrerin überreichte.

Sie hatte ein verlängertes Wochenende mit einem Leih-Cabriolet eines Kasseler Autohauses gewonnen.

„Das ist mein erster Gewinn seit dem Freiflug mit dem Zeppelin vor über sechzig Jahren“, strahlte Hildegard wie bei einem Kindergeburtstag.

Allerdings hatte Hildegard gar keinen Führerschein.

„Aber dann fahre ich halt“, schlug Alma spontan vor, die froh war, außer ihrem alten Jetta mal so ein flottes Luxus-Cabrio fahren zu dürfen.

Alle waren sich schnell einig. Außer dem Golfkurs könnten sie ja die Preise doch als Grundlage für zukünftige, gemein­same Unternehmungen nutzen.

Und so verabredeten sich die vier für die nächsten Wochen, um weiterhin zusammen bei Frau Riebezahl-Schondorf zu tanzen und die Gewinne gemeinsam zu verbrauchen.

Es wurde halb zwölf, als sich die beiden Herren von den Damen mit einem galanten, angedeuteten Handkuss verab­schiedeten.

„Wunderbare alte Schule“, schwärmte Fräulein Saurbier selig, als ihre Freundin Alma sie nach dem wunderschönen Ball nach Hause fuhr.

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