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Enttäuschte Hoffnungen
Der Neubeginn von 1945

Vornehmlich Männer aus Dableiberkreisen gründeten am 8. Mai 1945 in Bozen die Südtiroler Volkspartei. Nach über zwei Jahrzehnten Fremdbestimmung bekamen so die Südtiroler wieder eine eigene politische Führung. Das Programm der jungen Partei war kurz, aber durchdacht und klar. Sie setzte sich zum Ziel:

1. Nach 25jähriger Unterdrückung durch Faschismus und Nationalsozialismus den kulturellen, sprachlichen und wirtschaftlichen Rechten der Südtiroler auf Grund demokratischer Grundsätze Geltung zu verschaffen.

2. Zur Ruhe und Ordnung im Lande beizutragen.

3. Ihre Vertreter zu ermächtigen – unter Ausschluß aller illegalen Methoden – den Anspruch des Südtiroler Volkes auf Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes bei den alliierten Mächten zu vertreten.

Am 5. Mai 1946 demonstrierten auf Schloss Sigmundskron rund 20.000 Südtiroler für die Rückkehr ihres Landes zu Österreich.

Im Aufruf, der zugleich mit dem Programm erschien, hieß es: „Nicht Haß, Gewalt und nationale Überheblichkeit, sondern gegenseitiges Verstehen, Freiheit der Persönlichkeit, Achtung vor der Menschenwürde und ein auf ewigen, göttlichen und menschlichen sittlichen Gesetzen beruhendes Handeln sichern nicht nur dem einzelnen, sondern auch einem Volke die Kraft, sich zu behaupten und zu erhalten.“11 Dies waren Grund- und Leitsätze ganz nach dem Herzen Sepp Kerschbaumers.

Es finden sich keine Unterlagen, die Aufschluss darüber geben könnten, wie Sepp Kerschbaumer diese Zeit des Hoffens und Bangens erlebt und beurteilt hat. Man geht aber sicher nicht fehl in der Annahme, dass er sich Hoffnungen machte, Hoffnungen auf eine grundsätzliche Wende, konkret auf die Gewährung des Selbstbestimmungsrechtes, noch genauer: auf die Rückkehr Südtirols zu Österreich. Doch es kam anders. Der Wunsch der Südtiroler war eines, das Spiel der Mächte etwas anderes. Die Außenministerkonferenz beschloss am 30. April 1946, zwischen Österreich und Italien keine größeren Grenzverschiebungen vorzunehmen. Das hieß mit anderen Worten, dass Südtirol bei Italien zu verbleiben hatte. Ganz Tirol reagierte auf diese Entscheidung mit einer Welle von Demonstrationen. In Innsbruck trat die Landesregierung zurück. In ganz Nordtirol wurde ein Generalstreik ausgerufen. In Südtirol kam es zu einer Reihe von Kundgebungen: Am 5. Mai 1946 forderten in Sigmundskron, in Brixen und in Meran Zehntausende Südtiroler eine Volksabstimmung. Am 12. Mai vereinigten sich die Wipptaler in Sterzing, am 19. Mai die Eisacktaler in Klausen und die Vinschgauer in Schlanders, am 28. Mai die Pusterer, die Enneberger, die Ampezzaner und die Buchensteiner in Toblach zu Kundgebungen für das Selbstbestimmungsrecht.12 Alles umsonst. Auf der Friedenskonferenz in Paris konnte der österreichische Außenminister nur mehr mit Italien ein Abkommen schließen, das Südtirol eine Autonomie in Aussicht stellte. Der Volksbote in Bozen bedauerte, dass Südtirol die Entscheidung über seine staatliche Zugehörigkeit verweigert worden war. Doch machte er den Lesern auch etwas Mut. Immerhin, meinte das Blatt, sei den Südtirolern das beschränkte Recht eingeräumt worden, sich selbst zu regieren.13

Vom Pariser Vertrag bis zum Autonomiestatut

Wurde Südtirol wirklich das Recht eingeräumt, sich selbst zu regieren? Darüber kamen schon in Paris Zweifel auf. Die Tinte der Unterschriften war noch nicht trocken, da wartete der italienische Ministerpräsident Alcide Degasperi mit einer Interpretation auf, die Schlimmes ahnen ließ. Und in der Tat nahm Rom bei der Umsetzung des Abkommens Abstriche vor, die den Autonomiegedanken in sein Gegenteil verkehrten. Statt der allseits erwarteten Landesautonomie wurde praktisch nur eine Regionalautonomie gewährt, in der die Trentiner das Sagen hatten und die Italiener insgesamt über eine Zweidrittelmehrheit verfügten. Dass eine von Christdemokraten geführte Regierung die Politik der Entnationalisierung und Unterwanderung der Faschisten fortsetzte, das war für den katholischen Fundamentalisten Sepp Kerschbaumer wohl eine der größten Enttäuschungen seines Lebens. Denn für ihn war es nicht nur eine Selbstverständlichkeit, dass sich die Politik an christlichen Grundsätzen zu orientieren hatte. Ein ebenso selbstverständliches Gebot war es ihm, Religion und Lebensführung grundsätzlich in Einklang zu bringen, im Großen wie im Kleinen. Wie kann die freie Welt ihrem Hauptfeind, dem Weltkommunismus, offen entgegentreten, wenn in ihrem Innern grundsätzliche Freiheitsrechte missachtet werden, fragte er sich immer wieder. Dass selbst christliche Demokraten nur Machtpolitik betrieben und nur die Interessen ihres Staates sahen, machte Sepp Kerschbaumer schier fassungslos.

Es scheint, dass sich Sepp Kerschbaumer in der ersten Nachkriegszeit primär lokalen Aufgaben widmete. Für ihn war es eine Selbstverständlichkeit, dass er der Südtiroler Volkspartei beitrat. Wie bei allen Dingen war auch hier sein Einsatz total. Halbheiten gab es keine. Schon 1946 wurde er zum Fraktionsvorsteher von Frangart bestellt. Diese Funktion übte er bis 1956 aus. Überzeugt, dass eine gute Schulbildung das größte Kapital ist, das man einem jungen Menschen auf den Lebensweg mitgeben könne, setzte er sich als Fraktionsvorsteher mit ganzer Kraft für den Bau eines Schulhauses in Frangart ein. Wenn er sich ein Projekt dieser Art vornahm, dann zog er es rasch durch. Für bürokratische (manchmal auch vom Gesetz vorgeschriebene) Umständlichkeiten hatte er kein Verständnis. Die Gemeindeverwaltung in Eppan hatte es da nicht immer leicht mit ihm. „Anfangen und fertig machen“, war seine Devise. Bereits 1948 wurde das neue Gebäude eingeweiht und bezogen.14 Ungefähr von 1946 bis 1958 – Anfang und Ende lassen sich nicht mehr genau ermitteln – war er auch Obmann der SVP-Ortsgruppe von Frangart. Auch diese Funktion nahm er ernst. Hermann Nicolussi-Leck berichtete 1957 dem Parteiausschuss, dass Kerschbaumer seine Ortsgruppe „ausgezeichnet beisammen“ hat; er genieße volles Vertrauen; ganz Frangart stehe hinter ihm.15 Es gibt Hinweise, die den Schluss nahelegen, dass er um 1958 diese Funktion niederlegte, weil er die SVP nicht gefährden wollte. Im Laufe dieses Jahres war er nämlich zu der Überzeugung gelangt, dass der italienischen Majorisierungspolitik nur mehr mit Dynamit Einhalt geboten werden könne. Und daraus zog er die ihm erforderlich scheinende Konsequenz. Mit seinem Rücktritt als Ortsobmann setzte er sich aber innerlich nicht von der Südtiroler Volkspartei ab. Sie war und blieb – allem Ärger und allen Enttäuschungen zum Trotz – seine politische Heimat.

Halt in der Familie

Wie war der Mensch und Familienvater Sepp Kerschbaumer? Da ist einmal seine Religiosität, die sein Denken und Handeln bestimmte. Für die Tochter Helga sind die Wurzeln hierfür wahrscheinlich im Heim gelegt worden. Disziplin, Pflichtbewusstsein und Strenge – vor allem Strenge gegen sich selbst – waren für ihn immer selbstverständliche Leitlinien; auch das wahrscheinlich ein Erbe der Heimerziehung.

„Früh aufstehen und hart arbeiten, das war das Motto seines Lebens. Er hat gerne hart gearbeitet“, erinnert sich die Tochter. Vor allem die Arbeit in den Obstwiesen machte ihm Freude. Doch ein Bauer sei aus ihm nie geworden: „Dem Vater haftete einfach eine gewisse Ungeschicklichkeit an, er konnte besser mit der Feder als mit der Sense umgehen.“ Von seiner äußeren Erscheinung her aber war er der Bauer. Kam er in der blauen Schürze und im abgetragenen karierten Jöppl daher, glaubte man, er trage das Festtagsgewand. Zog er den schwarzen Anzug an und band er sich eine Krawatte um, so stellte er nichts Besonderes vor.

In den Jahren bevor er sich intensiv mit Politik befasste, ergriff er verschiedene Initiativen, um das Einkommen zu verbessern. Er war ein Mensch voller Ideen und Tatendrang. Einmal verlegte er sich auf eine Hasenzucht, dann ging er zur Schafzucht über, schließlich widmete er sich dem Gemüseanbau. Und so nebenbei erbaute er, um 1956/57, das Gasthaus Schloßwirt in Frangart.16 Wenn er glaubte, dass es sich arbeitsmäßig gerade gut ausgehe, konnte er für ein paar Tage auch alles hinwerfen und eine Fahrt unternehmen. Solche Entschlüsse waren nicht das Ergebnis langer Planung, sondern eines spontanen Einfalls. So unternahm er 1950 ganz plötzlich mit seinem Freund Willy Alessandri einen Ausflug zum Gardasee, und weil es so schön war, vom Gardasee nach Genua, und von Genua ging die Reise auch noch nach Mailand.17 Nicht immer glücklich über solche Initiativen war seine Frau, die sich von einem Tag auf den anderen darauf einstellen musste, dass sie den Laden für mehrere Tage oder für eine ganze Woche allein weiterzuführen hatte. Wenn die Tochter Helga sagt, dass aus ihm nie ein Bauer geworden sei, hat sie noch in einem weiteren Sinne recht. Bei der Arbeit in den Feldern war er mit seinen Gedanken mehr bei der Politik als bei der Arbeit. Beim Umstechen oder beim Baumschneiden in der Obstwiese, so erzählte er einmal Pepi Fontana, seien ihm meistens die besten Gedanken gekommen. Er trug stets Bleistift und Papier bei sich. Fiel ihm ein Gedanke für das nächste Rundschreiben ein, so hielt er ihn sofort fest. Er hatte nämlich die Erfahrung gemacht, dass die beste Idee und die glänzendste Formulierung unwiederbringlich weg waren, wenn er sie nicht gleich zu Papier brachte.

Sepp Kerschbaumer und Willy Alessandri vor dem Mailänder Dom bei der Motorradfahrt Frangart–Genua–Mailand–Frangart, um 1950


Sepp Kerschbaumer in seiner Obstwiese

So etwas wie einen Achtstundentag kannte Sepp Kerschbaumer nicht. Er war ein Frühaufsteher und blieb es sein Leben lang. Jeden Tag, ob der Himmel klar war oder trüb, ob es regnete oder schneite, fuhr er mit dem Fahrrad oder mit dem Vicky nach Bozen zur Fünf-Uhr-Messe. „Mit Vorliebe besuchte er die Herz-Jesu-Kirche oder verweilte im Gebet vor dem historischen Herz-Jesu-Bild im Dom.“18 Dass er unter keinen Umständen die Sonntagsmesse ausließ, versteht sich von selbst. Der Sonntag gehörte dem Herrgott, der Familie und – in zunehmendem Maße – der Politik. Seine Tochter Helga erinnert sich, dass er jede freie Minute nützte, um zu lesen oder zu schreiben. „Die Sonntage vor allem, da war er den ganzen Tag zu Hause und hat geschrieben“. Er dürfte es immer als Mangel empfunden haben, keine höhere Schulbildung genossen zu haben. Umso mehr war er darauf bedacht, seine Kinder mit guter Lektüre zu versorgen. „Er hat uns Bücher gekauft und ist auch in die Bücherei gegangen, um sie auszuleihen“, erzählt Helga Kerschbaumer. Das sei damals in den 1950er-Jahren nicht üblich gewesen bei den Familien der Umgebung. Auch ein Grammofon hat es bei den Kerschbaumers gegeben, und das hatte zur Folge, dass die Familie automatisch der Treffpunkt für die Jugend von Frangart wurde. „Vielleicht wollte er uns unter Kontrolle haben“, deutet die Tochter die Großzügigkeit des Vaters. Eine Zeit lang lernte er sogar Ziehorgel spielen, um daheim musizieren zu können.19 Wahrscheinlich waren es später die steigenden Ansprüche der Politik, die ihn zwangen, das Musizieren aufzugeben.

Dem disziplinierten, ernsthaften Menschen bedeutete die Familie alles. Die Familie war ihm vielleicht auch deshalb wichtig, weil er die eigene so früh verloren hatte. „Er war immer daheim“, erinnert sich die Tochter. Die Erziehung der Kinder habe eindeutig der Vater bestimmt, wobei die Strenge, die er sich selbst zumutete, auch für die Familie zur Richtschnur wurde. Bei aller Bescheidenheit und Demut: Herr des Hauses blieb er. Die Geschäftsführung hat er nie abgegeben, selbst in den Zeiten nicht, als die Politik und die Vorbereitung des Kampfes im Untergrund ihm praktisch kaum mehr Zeit für das Geschäft ließen. Doch wusste er immer, dass seine Frau und die Töchter den Laden schon schmeißen würden.

Wenn man sagt, dass Sepp Kerschbaumer ein Familienmensch war, dann ist das in einem etwas weiteren Sinn zu verstehen. Zur Familie gehörten auch die Nachbarsleute. Die Grenzen von seinem eigenen Hausstand zur Dorfgemeinschaft waren fließend. Wenn auch im Auftreten bescheiden und zurückhaltend, war er ein kontaktfreudiger und geselliger Mensch, der die Bekanntschaften und Freundschaften pflegte. Freilich war es nicht die laute Gesellschaft, die er suchte, sondern das abendliche Gespräch mit Freunden und Nachbarn, kurz mit Leuten, mit denen er sich gut verstand.

Das Gebot, dass man den Sonntag heiligen müsse, stand für Sepp Kerschbaumer außer Diskussion. „So war ihm besonders die Sonntagsarbeit ein Dorn im Auge. Und zwar hätten nach ihm nicht bloß die knechtlichen Arbeiten an Sonn- und Feiertagen abgeschafft werden sollen, sondern auch die Nachtarbeit.“20 Konsequent wie er war, aß er sonntags nie frisches Brot, weil er es nicht für richtig fand, dass die Bäcker in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag arbeiten mussten. Streng hielt er sich auch an das Gebot, dass man den Namen Gottes nicht verunehren dürfe. Er war gewiss nicht die personifizierte Sanftmut. Im Gegenteil, man konnte ihn auch aufbrausend und zornig erleben. Nie aber kam ein Fluchwort über seine Lippen, selbst in der höchsten Erregung nicht. Gerade die Politik bietet Anlässe, sich aufzuregen und die Beherrschung zu verlieren. Aber da gab es für ihn Grenzen, die nicht überschritten wurden. Das schärfste Kraftwort, das er sich durchgehen ließ, war Porzellana.21

Zu den Wesenszügen Kerschbaumers gehörte, dass er ehrlich war. Das hatte dann aber zur Folge, dass er auch ein ehrlicher Steuerzahler war. Gib Gott, was Gottes ist, und dem Staat, was des Staates ist. Ein Grundsatz, der aber nur selten wörtlich genommen wird. Im Allgemeinen herrscht die Meinung vor, dass sich der Staat eh schon mehr nehme, als ihm zustünde. Dieser Ansicht war auch Kerschbaumers Steuerberater, ein Nonsberger, der mit ihm nicht sehr zufrieden war. Mehrmals bemerkte er: „Herr Kerschbaumer, es ist richtig und in Ordnung, dass Sie ein guter Tiroler sind, aber beim Steuerzahlen müssen Sie ein guter Italiener sein. Nur in diesem einen Falle, wohlgemerkt!“22 Für Sepp Kerschbaumer aber war es nicht einfach, seine Persönlichkeit in diese zwei Hälften aufzuspalten.

Sepp Kerschbaumer hielt auch Maß im Essen und Trinken. Alkohol trank er von einem bestimmten Tag an überhaupt keinen Tropfen mehr. Und das aus einem ganz bestimmten Grund. Es war im Frühjahr 1957 oder 1958, dass er mit einigen Freunden die Weinkost im Hotel Laurin in Bozen besuchte. Als das ganze Ritual der Verkostung durchgespielt war, verließ die Runde leicht angesäuselt und in herrlicher Stimmung das Hotel. Die frische Luft dürfte dazu beigetragen haben, dass die gute Laune bei Kerschbaumer in Übermut umschlug. Er erblickte auf der anderen Straßenseite einen Polizisten. Da überkam ihn die unbändige Lust, den Mann zu provozieren. Er ergriff einen Ligusterstock am Gehsteig und wälzte ihn in die Straßenmitte. Prompt eilte der Polizist herbei und fragte ihn, was ihm denn einfalle, ein solches Verkehrshindernis hier in den Weg zu stellen. Er hieß ihn ihm auf die Quästur zu folgen, die damals im Palais Widmann ihre Büros hatte. Bei der Durchsicht der Papiere stellte der Polizist fest, dass Kerschbaumer Vater von sechs Kindern war. Zu seinem Kollegen gewandt bemerkte er: „È padre di sei figli, lasciamolo andare – Er ist Vater von sechs Kindern, lassen wir ihn gehen.“ Der andere nickte. Dann zu Kerschbaumer: „Vada a casa Kerschbaumer, man non faccia più questi scherzi – gehen Sie nach Hause, Kerschbaumer, aber mache Sie keine solchen Scherze mehr.“ „Da waren sie doch wieder menschlich“, bemerkte er Pepi Fontana gegenüber. In der Tat: Ein verknöcherter Bürokrat oder ein Fanatiker hätte den Fall zu einem Skandal hochspielen können. Sepp Kerschbaumer war der Ausrutscher eine Lehre fürs ganze Leben. Er hatte zum ersten Mal erfahren, dass ihn der Alkohol zu einer Handlung verleiten konnte, die ihm sonst gar nicht in den Sinn gekommen wäre. Von diesem Tag an trank er keinen Tropfen Wein mehr, gar nicht zu reden von Spirituosen. Keine Runde und kein Anlass konnten ihn bewegen, auch nur an einem Glas zu nippen. Der Grundsatzmensch Kerschbaumer hatte einen Beschluss gefasst, und dabei blieb es.

Kerschbaumer und die Italiener

Eigenartigerweise hat die Politik in der Familie Kerschbaumer keine Rolle gespielt. Sepp Kerschbaumer, der so leidenschaftlich gern diskutierte und sich stunden- und nächtelang mit Freunden und Bekannten über die Landes- und Weltpolitik streiten konnte, hatte diesbezüglich in der Familie keinen Ansprechpartner. „Wir waren absolut unpolitisch und sind es auch heute noch“, betont Helga Kerschbaumer. Es wäre auch für seine Söhne und Töchter nicht ganz einfach gewesen, das Verhalten des Vaters zu verstehen. Er hatte eine Wut und oft auch so etwas wie einen heiligen Zorn auf das offizielle Italien, gleichzeitig aber griff er italienischen Zuzüglern unter die Arme, wenn sie in Not waren. Er unterschied nämlich streng zwischen den Menschen und der Politik. Das wird von allen, die ihn kannten, herausgestellt. Obwohl der ständige Zustrom von Neueinwanderern einer der Hauptgründe für die Radikalisierung innerhalb der deutschen Volksgruppe war und das Verhältnis zwischen den Sprachgruppen schwer belastete, hat dies Kerschbaumer nicht daran gehindert, dem einen oder anderen italienischen Industriearbeiter aus der Verlegenheit zu helfen, wenn er einmal ohne Mittel dastand.

Um die italianità Südtirols zu unterstreichen, veranstalteten nationalistische Kreise am 4. November 1955 in Bozen einen plebiscito tricolore. Associazioni patriottiche verteilten diese Karte mit der Aufforderung „Ad ogni finestra una bandiera“. Die Veranstaltung nahm den Charakter eines widerlichen faschistischen Spektakels an.

Einige von ihnen hatten sich auf der Suche nach billigem Wohnraum Ende der 1950er-Jahre auch in Frangart niedergelassen und so mit dem wohltätigen Menschen Sepp Kerschbaumer Bekanntschaft und auch Freundschaft geschlossen. Einem mittellosen Zugewanderten gab er in der ersten Zeit seines Aufenthaltes in Südtirol Lebensmittel auf Kredit. Einem anderen Italiener gewährte er ein Darlehen, ohne auch nur eine Quittung zu verlangen. Und wieder einem anderen schenkte er ein Fahrrad, damit er den weiten Weg zum Arbeitsplatz nicht zu Fuß gehen musste.23 Ein Industriearbeiter und ein Angestellter bei der Post haben ihm das auch vergolten, indem sie dann beim Mailänder Prozess für ihn ausgesagt haben, obwohl er das selbst nicht wollte, denn „was die Rechte getan hat, darf die Linke ja nicht wissen“.

„Der Einzelne kann ja nichts dafür“, lautete stets der Leitspruch des Christenmenschen Sepp Kerschbaumer. Die Politiker und die Regierung waren für ihn verantwortlich für die gespannte Situation in Südtirol.

„Mein Vater war mit mehreren Italienern regelrecht befreundet“, weiß Helga Kerschbaumer zu berichten. Ein Bekannter aus Süditalien, mit dem er in Kriegszeiten Bekanntschaft geschlossen hatte, sei immer wieder auf Besuch gekommen. „Es hat bei uns kein fanatisches Klima gegeben“, betont sie, „denn das wäre schon aus religiösen Gründen niemals möglich gewesen.“ Ein Klima selbstverständlicher Toleranz, und das in einer Zeit größter Spannungen, in der der BAS-Chef schon konkret ans Bombenlegen dachte: Dass das möglich war, hat mit der religiösen Geistigkeit von Sepp Kerschbaumer zu tun.

Eine Italienerin näht Fahnen am laufenden Band für den plebiscito tricolore. Im Hause Kerschbaumer in Frangart ist es Basl Moidl, die jedes Jahr vor dem Andreas-Hofer-Tag und dem Herz-Jesu-Sonntag Tiroler Fahnen herstellt.

Diese tolerante Haltung im Hause des Chefs der Südtiroler Untergrundbewegung war aber im damaligen Südtirol gewiss nicht die Regel und hätte auch noch heute Vorbildcharakter. Die Haltung Kerschbaumers mag vielleicht auch ein bisschen damit zusammenhängen, dass er sein Tirolertum trotz aller Einschränkungen stets in aller Offenheit zur Schau trug und deshalb auch keine versteckten Aggressionen zu entwickeln brauchte.

Aber Sepp Kerschbaumer hat nicht nur italienische Industriearbeiter unterstützt, indem er sie in seinem Geschäft immer tüchtig aufschreiben ließ. Er hatte noch einen weiteren Wesenszug: die tätige Nächstenliebe. „Manchmal hat es uns schon gestört, dass er so großzügig war“, erzählt Helga Kerschbaumer. „Er hat immer alles verschenkt für wohltätige Zwecke, und selbst aus dem Gefängnis hat er immer wieder geschrieben, dass die Mama ja fleißig spenden soll.“ Der Ärger ist mehr als verständlich, weil er seiner Familie gegenüber eine Sparsamkeit an den Tag legte, die manchmal schon an Geiz grenzte. „Brauchten wir ein Paar neue Schuhe“, erinnert sich seine Tochter Helga, „so mussten wir ihn ein Jahr lang bearbeiten, bis wir sie kaufen durften.“ Kann sein, dass er seine Kinder vor Verschwendungssucht bewahren wollte. Bevor sie etwas erwarben, sollten sie ganz sicher sein, ob sie es auch wirklich benötigten.

Für Arme und Hilfsbedürftige gab Sepp Kerschbaumer jedenfalls mehr als den berühmten Zehnten. „Einmal“, so Tochter Helga, „da ist es sogar dem Pfarrer zu viel geworden.“ Sepp Kerschbaumer hatte nämlich im Gefängnis vernommen, dass der Pfarrer das Kirchendach in Frangart neu decken wollte. Sofort ließ er seine Frau wissen, dass er den Jahresertrag seiner Obstwiese für diesen Zweck spenden wolle. Sepp Kerschbaumer schreibt am 30. Oktober 1964 vom Trienter Gefängnis aus nach Hause:

Helga hat mir gestern auch erzählt, daß der Herr Pfarrer das Kirchendach reparieren lassen muß, weil es vielfach nicht mehr regendicht ist. Mit dieser Arbeit sind freilich große Auslagen verbunden, und wo soll er das Geld auch hernehmen als von den Dorfleuten. Und schließlich ist es eine heilige Pflicht eines jeden Christen, im Dorfe mitzuhelfen, dass das Gotteshaus gut und fest dastehe. Diese Ausbesserung soll anscheinend einige Millionen Lire kosten. Gut, es wird nicht gerade von alleine gehen, aber wenn überall, besonders bei den Besitzern und Gutstehenden der gute und christliche Wille vorherrscht, dann darf es keine großen Schwierigkeiten machen. Auch ich möchte mich dieser Hilfeleistung gerne anschließen. Es ist also mein Wunsch und Wille, dass der Franz dem Hochw. Herrn Pfarrer als Spesenbeitrag 250.000 Lire übergibt. Ich hoffe, daß Ihr als meine Kinder auch dafür seid. Wenn schon, ist es nur zu unser aller Segen, und den brauchen wir notwendiger als manche andere.24

Doch dem Pfarrer ging diese Spende zu weit, und er erinnerte seine Frangarter Schäfchen daran, dass es ja nicht nur den Kerschbaumer gebe. Und so wie er vom Gefängnis aus die Familie immer wieder angehalten hat, „tut, wenn die Stunde es verlangt, ein gutes Werk an armen Menschen“, hat er auch im Gefängnis selbst gehandelt. „Ob Schwerverbrecher oder nicht, vom Kerschbaumer hat jeder einen Teil erhalten“, bezeugt Luis Gutmann. Dass Sepp Kerschbaumer auch die Tätigkeit des BAS, soweit es nur irgendwie ging, mit gar einigen Millionen aus der eigenen Tasche mitfinanziert hat, ist zwar nicht seiner Nächstenliebe zuzuschreiben. Von einem gewissen Hang zum Altruismus zeugt aber auch diese Haltung.

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