Kitabı oku: «Die Tyrannei des Geldes», sayfa 2
KAPITEL 2
Genf – die magischen Jahre
Genève devient de plus en plus la ville neutre et cosmopolite où se débattent tous les grands procès d’idées et où se commencent les institutions humaines.
Genf wird mehr und mehr zur neutralen und kosmopolitischen Stadt, wo sich die grossen ideellen Auseinandersetzungen abspielen und wo die menschenfreundlichen Institutionen ihren Anfang nehmen.
«Es war zu dieser Zeit», schreibt Jean-Elie David, «dass der Kanton die alten Kanonen der Schanzen verkaufte. Ich habe sie Seite an Seite stehen sehen, in einem Schuppen, den man neben der Bastion de Hollande errichtet hatte. Sie waren nutzlos geworden, weil die gesamten Befestigungsanlagen geschleift wurden.» Das einprägsame Bild einer Parade ausgedienter Geschütze, von Grünspan befallen, stammt aus den Jugenderinnerungen des Landvermessers David, den wir noch näher kennenlernen werden – und es verkörpert auf eindrückliche Weise einen Wendepunkt in Genfs Geschichte. In den frühen 1850er-Jahren liess die Stadt den breiten Befestigungsgürtel abtragen, der sie seit dem 17. Jahrhundert umschlossen hatte: ein Panzer aus Stein, ein System aus Wällen, Mauern, Bollwerken und Forts, das ebenso viel Raum beanspruchte wie die alte Stadt selbst. Aber die Schanzen waren genauso nutzlos geworden wie die alten Kanonen, die nun am Holland-Bollwerk auf den Schrotthändler oder den Liebhaber von Antiquitäten warteten. Beide mussten sie weg – und mit ihnen das alte Genf.
Was sich nach der «Entfestigung» herausschälte (ein Wort, das Amiel zugesagt hätte), war die uns heute vertraute Stadt. Sie wendete sich dem See zu, mit dem Bau von grosszügigen Quais, Uferpromenaden, Brücken und Parks. Die 1857 eingeweihten beiden jets d’eau setzten mit ihren Fontänen dieser Öffnung ein Denkmal. Das tat auch die fünf Jahre später eröffnete Montblanc-Brücke, die gleichsam einen Schlussstrich unter die Ära der Enge und Einkapselung zog. Viele Neuerungen der Epoche von 1850 bis 1870, die uns hier interessiert, gehen zurück auf die Aufbruchszeit der Jahrhundertmitte. Sie wird durchwegs verknüpft mit dem Namen von James Fazy, dem tatendurstigen Genfer Staatsmann und Publizisten. 1846 hatte sich seine radikaldemokratische Partei an die Macht geputscht, und bis zu seiner Abwahl 18 Jahre später bestimmte Fazy weitgehend die Geschicke der Stadt. Dabei stützte er sich auf eine Ämterkumulation, wie sie höchstens noch in Zürich dem eine Generation jüngeren Alfred Escher zugestanden wurde. Fazy war Bankengründer und -präsident, Genfer Regierungspräsident, Ständerat in Bern, dazu Besitzer und Herausgeber des tonangebenden Journal de Genève: ein Macher, ein wortgewaltiger Redner und Schreiber, ein Herrschertyp, der sich als Mann des Volks gebärdete.
Im Journal de Genève erschienen gelegentlich auch die Abhandlungen und Rezensionen Amiels, aber im Journal intime ist jede Erwähnung Fazys grundiert von tiefem Misstrauen, ja von Hass. Zwar anerkannte Amiel das génie révolutionnaire des Politikers und zollte den Radikalen eine Art grollenden Respekts. Die konservative Seite könne vielleicht – so Amiel – Form und Tradition für sich beanspruchen, aber Kraft, Idee, Konzept fänden sich allein beim Radikalismus, auch wenn sie eine unheilvolle Zukunft verhiessen. «Bei unseren Radikalen sagen mir weder die Personen noch die Grundsätze zu. Bei den Konservativen schätze ich die Menschen, aber nicht ihre Maximen.» Fazy selbst war in seinen Augen ein zynischer Volksverführer, der «unter dem Deckmantel der Demokratie die Fahne der Lüge hisste». Seine Verehrer, die fazylâtres, waren verantwortlich für die Verrohung der politischen Sitten: Blutsauger, gewissenlose Karrieristen.
So wie Amiel dachten viele Genfer, die von Naturell oder Erziehung her zum vieux Genève der Konservativen neigten. Entsprechend brachten sie durchwegs das Regime Fazy mit dem radikalen Umbau in Verbindung, der das neue Genf schuf. Dabei hatte bereits Kantonsbaumeister Guillaume-Henri Dufour, genialer Kartograf und zwei Mal Oberbefehlshaber der Schweizer Armee, die ersten Weichen gestellt. Der «Ring», der nach der Entfestigung auf ehemaligem Schanzengebiet einen Gürtel von Strassen, neuen Wohnquartieren, Parks und Plätzen brachte, war noch unter dem konservativen Regime konzipiert worden. Zur Umsetzung aber brauchte es die harte Hand des Machers Fazy. Die nach dem Schanzenabbruch erschlossenen Grundstücke wurden an die Meistbietenden verkauft. Mit dem Ertrag – und öffentlichen Anleihen in für die Schweiz ungewöhnlicher Höhe – finanzierte das neue Regime Brückenbauten, ein Wasserkraftwerk in der Rhone und selbst ein Kasino. Dieser cercle des étrangers, prominent an der Seefront gelegen, galt den Konservativen als Inbegriff des vulgären neuen Genf der Emporkömmlinge und Glücksritter.
Zusammen mit dem bebauten Gebiet wuchs in den zwei genannten Jahrzehnten auch die Einwohnerzahl massiv an: von rund 37’000 auf 60’000. Neue Kirchen wurden gebaut: die katholische Notre-Dame, eine Synagoge, eine anglikanische Kapelle – sie alle erst ermöglicht durch die neu verankerte Freiheit der Religionsausübung. Gleichsam als Gegenstück entstand 1856 der Bau der Börse, den Skeptiker spöttisch als «Fazy-Tempel» bezeichneten. Ein Jahr zuvor war das Palais électoral eingeweiht worden. Es ersetzte als Versammlungs- und Wahllokal die Kathedrale Saint-Pierre; in den Augen vieler hatten die tumultuösen Auseinandersetzungen während des Umsturzes den ehrwürdigen Boden dieser Kirche entweiht. Als wären der Baustellen noch nicht genug, hatte die Stadt im gleichen Jahrzehnt den Bau zweier Bahnlinien zu verkraften. 1858 brachte, ausgehend von der Gare de Cornavin, die Eröffnung der Schienenstrecken nach Lausanne und nach Lyon. Wenig später verkehrte auf Genfs Strassen ein seltsamer pferdegezogener Omnibus auf Schienen: die erste Strassenbahn des Landes! Auch die Académie mit ihren altehrwürdigen, aber bröckligen Hörsälen hatte ausgedient. Amiel selbst schrieb die Eröffnungshymne für den Universitäts-Neubau. Er kam in die Bastions zu liegen – ein Niemandsland zu Füssen der mittelalterlichen Befestigung, mit alten Bäumen und malerischen Teichen, wo im Frühjahr die Nachtigallen sangen und die Frösche quakten. «Die Frösche wichen den dicken Mauern», erinnert sich Landvermesser David, «die Gräben wurden aufgefüllt.»
Genf war im Baufieber, Genf hatte den Anschluss an die nationalen und internationalen Bahnnetze geschafft. Aber im Frühjahr 1860 gerieten Stadt und Kanton auch in den Brennpunkt eines aussenpolitischen Konflikts – und an den Rand eines Kriegs. Beim italienischen Einigungskrieg des Vorjahrs hatte sich Frankreich an die Seite von Sardinien-Piemont gestellt; gemeinsam hatten die Partner gegen die österreichische Vorherrschaft auf italienischem Boden gekämpft. Dass sich Frankreich einen Preis für die Hilfestellung ausbedungen hatte, wurde erst nach dem Frieden von Zürich (November 1859) offenkundig. Das ehemalige Herzogtum Savoyen sollte zu Frankreich geschlagen werden – eine Erweiterung des Staatsgebiets um 10’000 Quadratkilometer. Zu ihnen gehörten die Provinzen Chablais und Faucigny am Südufer des Genfersees. Die Verträge am Wiener Kongress von 1814/15 hatten hier eine entmilitarisierte Zone geschaffen und der Schweiz das Recht eingeräumt, Nordsavoyen im Kriegsfall militärisch zu besetzen. Jetzt, mit der Annexion, drohte dieses Recht zu erlöschen. Genf, auf allen Seiten von französischem Gebiet umschlossen, würde sich in einer strategisch unhaltbaren Lage finden. In Bern pochte der Bundesrat auf eine Neutralisierung des Léman-Südufers und verlangte nach einer internationalen Schlichtungskommission; in Paris gab man sich zurückhaltend.
Die Savoyerfrage kam während Monaten nicht zur Ruhe. Vorübergehend brachte ein Angebot von Napoleon III. Entspannung: Er sei gewillt, die beiden Provinzen an Genf «abzutreten». Es fiel bald in Vergessenheit, denn Savoyens Bevölkerung stimmte dem Anschluss an Frankreich mit überwältigendem Mehr zu – auch im Norden. Eine kriegerische Minderheit in Bern und Zürich plädierte für sofortiges militärisches Eingreifen; ein Genfer Grossrat namens John Perrier dampfte, zusammen mit einer Handvoll Anhänger, mit einem gekaperten Ausflugsschiff nach Thonon und versuchte einen genffreundlichen Aufstand anzuzetteln. Perrier, oft als «rechte Hand Fazys» bezeichnet, scheiterte kläglich und wurde nach seiner Rückkehr inhaftiert.
Viele Bauarbeiten in Genf gerieten während des Konflikts ins Stocken. Erzürnte Anhänger Perriers belagerten das Rathaus, wo die Rädelsführer der verunglückten Expedition in Haft sassen. Amiel selbst schildert, wie er sich auf dem Nachhauseweg von einer Vorlesung zwischen den Ordnungstruppen mit ihren aufgepflanzten Bajonetten durchzwängen musste: «Wer da? Halt! Wegtreten! schallt es von allen Seiten. Wir befinden uns praktisch im Ausnahmezustand.» Die «abscheuliche Eskapade» von Perrier schien ihm die Ruchlosigkeit des Regimes von Fazy ein weiteres Mal zu bestätigen. Als dieser vier Jahre darauf abgewählt wurde, kam es erneut zu blutigen Unruhen; abermals entsandte Bern eidgenössische Truppen zur Aufrechterhaltung der Ordnung. Aber in eben diesem Jahr 1864 unterzeichneten die Vertreter von zwölf europäischen Staaten im Hôtel de Ville die Genfer Konvention zum Schutz der Kriegsverletzten und ihrer Betreuer: die Geburtsstunde des Roten Kreuzes! Was als städtebaulicher Kraftakt begonnen hatte, wirkte sich in einem viel allgemeineren Sinn aus. Genf öffnete sich nach aussen, wurde zur Stadt mit internationaler Ausstrahlung. Das bestätigte sich erneut im Jahre 1872, als Genf zum Gastgeber einer Schlichtungskonferenz wurde. Das so genannte Alabama-Schiedsgericht legte eine brisante Streitfrage zwischen Grossbritannien und den USA bei, die zu eskalieren drohte; zwei Grossmächte regelten ihren Konflikt auf friedliche Weise. Für einmal empfand auch Amiel Stolz auf seine Heimatstadt. Nirgends anders als hier werde «das Buch des Fortschritts und des Rechts geschrieben», meldet das Tagebuch, «das Buch der weltweiten Zivilisation».
Kaufen und Verkaufen, Markten und Feilschen ... Der Strassenhändler mit seinem Bauchladen voller Bänder, Seifen und Knöpfe verkörpert das Genf der zweiten Jahrhunderthälfte, die dem Handel rasant wachsende Umsätze bringt. Es entsteht eine florierende Börse, und die Zahl der Banken steigt steil an.
KAPITEL 3
Der Literat und das Geld oder
La tyrannie de l’écu
Je constate mon défaut croissant de goût pour tout ce qui est finances, placement, comptabilité, etc. J’aime l’ordre, mais je ne puis souffrir les basses œuvres par lesquelles il s’effectue. Je suis heureux qu’on abatte les chiens malades, mais je ne saurais faire le valet de ville.
Ich stelle meine wachsende Abneigung gegen alles fest, was mit Finanzen, Investitionen, Buchhaltung und so weiter zu tun hat. Ich liebe die Ordnung, aber ich ertrage die erniedrigende Arbeit nicht, mit der sie erstellt wird. Ich bin froh, dass jemand die tollwütigen Hunde abtut, aber ich könnte nicht Abdecker sein.
Selber bezeichnete sich Amiel mit Vorliebe als lettré, homme de lettres, seltener als savant, Letzteres mit deutlichen Abstrichen. Denn gehörte zum Intellektuellen, zum Literaten nicht gerade, dass er ständig auf der Suche blieb? Dass er auch als Dozent auf dem Katheder die Frage nach der Erkenntnis vermittelte und nicht die Erkenntnis selbst? Nicht von ungefähr dominierte in Amiels Gedichten, im Penseroso oder in La Part du rêve, das Ungelöste, der offene Schluss. Zahlreiche Verszeilen münden in eine Frage, manchmal mehrere Male pro Strophe:
Suis-je une femme enfin ou suis-je une statue?
Seule, pourquoi faut-il que le désir me tue?
Stellvertretend für die Gesellschaft blieb der homme de lettres offen für Fragen und mögliche Antworten. Er suchte neue Wege in der Welt des Geistes und neue Furten durch die Strömungen der aktuellen Philosophie – anders als der Geistliche, der sonntags von der Kanzel die Gewissheiten des protestantischen Kanons verkündete. Aber was Amiel im Haushalt von Schwager Franki Guillermet täglich vor Augen geführt bekam: Die Genfer Kirche bot mehreren Dutzend Pfarrern ein anständiges Auskommen, eine behagliche Existenz im gutbürgerlichen Rahmen. Welche Möglichkeiten blieben dagegen dem Intellektuellen, der sich genauso wie Franki als Diener des Wortes sah, nur in einem weiter gesteckten Rahmen? Der Lehrstuhl an der Académie, den der junge Amiel mit so grossen Hoffnungen übernommen hatte, erwies sich immer deutlicher als harter und ungepolsterter Sessel. Es gab zahlreiche Verpflichtungen neben den eigentlichen Vorlesungen, Sitzungen über Lehrpläne, Examen und Ernennungen; beim Institut national genevois blieb das Sekretariat der Abteilung Literatur an Amiel hängen. Keine dieser Aufgaben wurde entschädigt. Es blieben einzig das Jahresgehalt für die Professur und der Anteil an den Semestergeldern, das verhasste casuel. Denn diese Sporteln waren völlig ungewiss und hingen ab von der Anzahl eingeschriebener Studenten; diese wiederum schwankte je nach Attraktivität des Kursthemas. Oft kam zum jährlichen Grundgehalt von 2000 Francs nur ein lächerliches Trinkgeld hinzu. «Mon casuel académique du semestre d’hiver est réduit à rien», notiert das Tagebuch mehr als einmal.
Kurz: Wie Genf die Dozenten seiner Académie bezahlte, war eine Schande, une vergogne. «Es reicht gerade für den Ankauf der nötigen Bücher und die Kosten einer Ferienreise.» Die meisten seiner Kollegen, so musste Amiel feststellen, behandelten diese Einkünfte – Gehalt wie Sporteln – als schlechten Witz. Aber dem Unglücklichen, der sein Budget auf diese Beträge stützen musste, waren sie eine trübe Quelle von Kummer und Enttäuschung: un nid à chagrins et une boîte de déceptions ... Gehörte es denn nicht zu den Aufgaben des Staates, seinen Vordenkern einen bescheidenen Wohlstand zu garantieren? Aber nein, für einen kleinen Beamteten der Hochehrwürdigen Republik, Sérénissime République, stellte noch der bescheidenste gesellige Anlass eine unverantwortliche Ausschweifung dar. Amiel bekam das einmal mehr zu spüren, als er im Februar 1867 ein paar Kollegen und Freunde zu einem kleinen Souper einlud und dann die Rechnung überreicht erhielt. «Jedes Glas Wein stellt die Balance auf den Kopf!», klagt das Tagebuch. «Es ist beschämend, daran zu denken. Fünfzehn Gäste stellen, so scheint es, einen ungeheuren Luxus dar für einen Professor, der kein Kapitalist ist. Nur schon eine einzige solche Einladung im Monat würde mehr als die Hälfte meiner mageren Einkünfte verschlingen.»
Wie kam es, dass nur in einem einzigen Beruf die Löhne stagnierten, und zwar bei der «ehrenhaftesten aller Beschäftigungen», nämlich der des Unterrichtens? So wie der Intellektuelle von heute, der seinen Stundenlohn bestürzt mit dem des Garagisten oder Heizungsinstallateurs vergleicht, verwarf Amiel die Hände: «Der kleinste Kommis, der schäbigste Zahnbrecher verdient mehr.» Nein, es lag auf der Hand: Unterrichten, Dozieren war ein Beruf für Gimpel. Wer ihn ergriff, wurde vom Staat über den Tisch gezogen. Noch nicht einmal eine bescheidene Rente für die alten Tage schaute heraus! «Was wird man in diesem métier (...) doch übers Ohr gehauen! Ein Leben lang für Nussschalen schuften! (...) Wenn ich daran denke, bewahre ich nur mit Mühe die Ruhe. Die Republik bestiehlt ihre Diener, und das Schicksal spielt den Geistesarbeitern übel mit.» Denn zur Freiheit des Wortes und des Gedankens gehörte notwendigerweise die Freiheit von den Sorgen des Alltags. Und die stellte das Gehalt der Académie nicht einmal für einen Junggesellen sicher, geschweige denn für eine Familie, die ein verwegener Springinsfeld allenfalls zu gründen wagte.
La gêne, die Bedürftigkeit. Alle Einträge Amiels bezeugen es: Der ärgste Feind des Geistesarbeiters war nicht die nackte Armut. Die Armut stellte die Betroffenen vor ein Entweder-oder, stellte eine existenzielle Herausforderung dar: Man rappelte sich hoch, oder man endete in der Gosse. Was den jungen oder älteren Professor, was den Redaktor oder Künstler lähmte, das war die tägliche Rechnerei, das Schielen auf das Haushaltbuch und den monatlichen Abschluss. Amiels Tagebuch findet vielerlei Ausdrücke dafür: Rappenspalterei, la préoccupation du centime, das unübersetzbare boursicotage, das Scharwenzeln rund um die Geldbörse. Vor allem aber: la gêne, die Bedürftigkeit, die Bedrängnis, die Klemme. Wer als geistig Schaffender, als Literat in dieser Klemme sass, war verloren, war unfrei, auch wenn er sich freier Künstler nannte. «Die Freiheit wird zur Knechtschaft, wenn sie andauernd gegen die Bedürftigkeit kämpfen muss», heisst es im Journal intime vom März 1866. «Diese ängstliche Sorge um jeden Rappen, diese zwanghafte und erzwungene Sparsamkeit – was ist sie, wenn nicht erniedrigendste Sklaverei?»
Amiel notierte diese Überlegungen nach einer Diskussion mit Tante Julie. Julie Brandt, eigentlich eine Cousine seiner Mutter, war 17 Jahre älter als er und als Romantikerin aufgewachsen, mit Idealen, die Amiel eher einer Romanze des Biedermeier zuordnete als der Wirklichkeit. Julie lebte in einer Welt, in der sich das Glück noch in der ärmlichsten Hütte fand und wo mausarme Liebende Liedchen wie L’Amour avec l’eau claire trällerten. «Sie versteht nichts von den Bedürfnissen des heutigen Lebens, so als hätte sie wie Epimenides vierzig Jahre in einer Höhle verschlafen.» Was sollte er mit den Ratschlägen einer romantischen alten Jungfer anfangen? In ihrer Naivität rührten und ärgerten sie ihn zugleich.
Wo Tante Julie recht hatte: Der lettré, auch der Künstler, lebte in einer Welt des Geistes und bezog aus ihr seine Würde und seinen Trost. Aber wie lange hielten Würde und Trost vor für den Literaten in seiner Dachkammer, den Maler im zugigen Atelier? Auf die Dauer mussten beide an den Kleinlichkeiten des Alltags scheitern. «Die Bedürftigkeit», heisst es kurz später im Tagebuch, «ist letztlich noch schlimmer als die Einsamkeit, da sie unfehlbar das intellektuelle Leben abtötet.» Denn das geistige Leben, der Gestaltungsdrang des Künstlers gingen von der Prämisse aus, dass es keine Grenzen gab – für die Wissbegierde, für die Welt der Formen, Klänge und Farben. Wer aber täglich seine Francs und Centimes umdrehen musste, wurde auf Schritt und Tritt ans Limit erinnert, an Schranken und Beschränkung. «Geld zählen heisst eine Grenze ziehen», notiert Amiel, «heisst sie anerkennen, sich vor der Notwendigkeit beugen.» Nein, es gab nur eins für den Literaten, den Künstler: die materielle Absicherung durch einen bescheidenen Wohlstand, une aisance modeste, die kein Nachdenken über Geld mehr erheischte. Letztlich bedingten sich aisance und Freiheit gegenseitig, da mochte Tante Julie noch lange von ihrer Hütte mit dem Strohdach und den kaltes Wasser trinkenden Liebenden schwärmen. «Wenn man Einladungen ausschlagen muss, weil man sie nicht erwidern kann, wenn man sich in den Ferien nicht ein paar Wochen auf dem Land oder in den Bergen leisten kann wie alle anderen, wenn der Ehemann nicht mehr gelegentlich auf einer Reise seine Ideen auffrischen kann, da kann man nicht mehr von Wohlstand und Freiheit sprechen.»
Aber wie hielten es denn die anderen damit? Die Kollegen an der Académie, die so wenig wie Amiel einer der alten Patrizierfamilien Genfs entstammten? Die Dichter und Schriftsteller, zu denen er aufblickte? Hier gab es warnende Beispiele genug – zum Beispiel Walter Scott, dessen Ivanhoe Amiel verehrte. Scott hatte sich als Drucker und Verleger weit auf die Äste hinausgewagt und war in Konkurs gegangen. Genauso erging es Balzac, der sich mit einer Verlagsdruckerei und einer Letterngiesserei in die Nesseln ritt. Wenn sich der Romancier als Geschäftsmann gebärdete, konstatierte Amiel, spielte eine Art Hybris mit. Als Schöpfer seiner Romanwelt war er es gewohnt, seine Figuren nach Belieben einzusetzen, ihnen Pech und Leiden zu bescheren, aber auch Erfolg und Glück. Wehe, wenn der Schriftsteller dieses Prinzip auf die Wirklichkeit übertrug! Erdrückt von einem Schuldenberg, wie ihn beispielsweise Walter Scott während Jahrzehnten abzutragen versuchte, wurde selbst das Genie versklavt: «Même le génie peut devenir le forçat des écus.»
Ungleich näher noch gingen Amiel manche Schicksale aus dem eigenen Lebenskreis, etwa jenes des eine Generation älteren André Cherbuliez. Der hochgebildete Hellenist und Gräzist war ein angesehener Dozentenkollege an der Académie, wahrte aber nur mit Mühe einen würdigen äusseren Rahmen für sich und seine Familie. «Eine schäbige, mühsame Karriere voll geheimer Ängste», notiert das Tagebuch über den väterlichen Freund, «voll von Entbehrungen, Demütigungen und Selbstverleugnung. Noch mit fünfzig Nachhilfestunden geben müssen, unter dem Dach wohnen, seine Kleider austragen, bis sie fadenscheinig werden ...»
Sah so seine eigene Zukunft als Literat aus, als Mann des Wortes? Da war weiter der langjährige Freund Albert Heim, ein Theologe und Gymnasiallehrer. Auch Heim hätte gerne eine eigene Familie gegründet, war aber gefangen in einem Haushalt mit einem kränkelnden Vater und zwei verwaisten Nichten, für die er Tag und Nacht unterwegs war. Eine eigene Gattin, eigene Kinder? Undenkbar. «Der Grund für seinen Verzicht sind die mangelnden finanziellen Ressourcen. Darin besteht die empörende Macht des Geldes, dass es noch das bescheidenste Schicksal zermalmt und die edelsten Instinkte zunichte macht.»
La puissance révoltante de l’écu. Geld versklavte, Geld zermalmte. Amiel konnte verstehen, dass einst die Gesetzgeber der Antike den Unternehmer und Händler aus dem Kreis der freien Männer ausgeschlossen hatten. «Die Begehrlichkeit, die Geldgier, das ist die Knechtschaft. Der Sklave des Mammons ist ebenso wenig ein Mann wie der Leibeigene der Scholle.» Aber stand es ihm als Mann des Wortes denn nicht offen, sich auf würdige Weise vom Schreiben zu ernähren, sich wenigstens einen namhaften Zusatzverdienst zu verschaffen? Wie schaffte das Marc Monnier, der offenbar eine goldene Feder gefunden hatte? Monnier, auch er ein Literat und Dozent, war ein weiterer langjähriger Freund. «Dieses Bürschchen meldet mir doch», heisst es ziemlich missmutig, «dass er monatlich 1000 Francs macht.» Monnier profitierte von der Telegrafenverbindung durch den Ärmelkanal, übersetzte und übermittelte Depeschen zwischen Italien und England. Ein Tausender im Monat! Täglich ein Stündchen Arbeit oder zwei! Und das, ohne sich dem Teufel zu verschreiben! Denn stellte es nicht ein Stück Völkerverständigung dar, wenn man in Westminster wusste, was in Turin vor sich ging?
Amiel selbst schrieb regelmässig für das Journal de Genève, wenn auch mit grossen Abständen – eine Besprechung vom Konzert des Kirchenchors, der Hinweis auf das Buch eines Freundes, mitunter ein Nachruf auf einen verstorbenen Zeitgenossen, der ihm besonders am Herzen lag. Aber über diesen kurzen Texten brütete er ganze Abende lang, war selten mit dem Ergebnis zufrieden, besonders nicht, wenn der Redaktor die wohlgeformten Sätze schliesslich auf zehn oder zwanzig Zeilen zusammenstrich. Wie sollte dabei ein anständiges Honorar herausspringen? Und wie sollte ein Projekt wie die Übersetzung von Schillers «Glocke» je rentieren? Amiel sass monatelang über den rund 400 Verszeilen der Ballade, hielt schliesslich (im Herbst 1860) das schmale Heft mit der französischen Version in der Hand, nahm stolz das Lob eines befreundeten Redaktors entgegen: «Sie haben ein Meisterwerk durch ein Meisterwerk wiedergegeben!» Aber die paar hundert verkauften Exemplare deckten knapp die Druckkosten, und die zweite Auflage blieb in den Gestellen der Buchhändler liegen.
Und wie stand es mit der Hymne à Genève vom Vorjahr, Amiels Beitrag zum 300-jährigen Bestehen der Académie? Ein Komponist namens Franz Grast hatte die Verse vertont; das Festlied war für die Feierlichkeiten im Druck erschienen und verteilt worden. Der Musikverlag Kübli & Noverraz hatte am Druckauftrag verdient, der Komponist war entlöhnt worden – aber Amiel? Ein paar lobende Worte im Journal de Genève und das zweifelhafte Vergnügen, die Hymne im 600-plätzigen Festsaal aufgeführt zu wissen. So wie die Trinksprüche ging sie im Stimmenlärm unter: «Man hörte nichts.»
Amiels Gedichte, welche die Revue du monde gelegentlich aufnahm, brachten jeweils ein paar Francs ein, aber Gedichtbände wie Grains de mil und La part du rêve waren das reine Verlustgeschäft. Der Buchhändler und Verleger Cherbuliez liess sie drucken und verkaufte sie in Kommission. Eine erste Abrechnung nach fünfzehn Jahren ergab, dass je etwa 150 Exemplare über den Ladentisch gegangen waren. Der Reingewinn betrug 98 Francs, die Tantième Amiels ein Viertel davon. So wie jeder Autor, der sich in seinem Stolz verletzt sieht, witterte der Dichter Betrug, bösen Willen, Missgunst und bewusste Vernachlässigung. «Welche Halsabschneiderei! Reiner Diebstahl! Dieser Räuber will mich mit 25 Francs abspeisen ... 25 Francs in fünfzehn Jahren, und kein Wort über die Zinsen! Wenn das ehrlich gehandelt ist, was tun denn die Gauner?»
Comment font les coquins, si c’est là de l’honnêteté? Und beflügelt vom rabenschwarzen Ärger zieht Amiel im Tagebucheintrag gleich noch über Joseph Hornung her, seinen besten Freund, klagt über Aimé Herminjard, der ja auch ein langjähriger und achtenswerter Kollege ist: «J. H. verreist nach Brent und borgt ein paar Bücher bei mir aus. Er kauft nie selbst etwas und profitiert von den Kastanien, die andere aus dem Feuer holen. Warum stellst du dich selber nie so geschickt an? – Hrd. hat genüsslich einige meiner Bände aus dem 16. Jahrhundert durchgeackert. Diese Schlingel von Gelehrten lecken sich die Finger, wenn sie ein seltenes Buch in die Hände bekommen. Aber man sollte ihnen den Willen lassen, nur schon um die Freude zu sehen, mit der sie es sich unter den Nagel reissen.»
Macht er sich denn nie ernsthaft Gedanken darüber, sich ganz als Autor zu etablieren, vom Schreiben zu leben – er, den man in seinem Kreis als tiefsinnigen und gleichzeitig geistreichen Causeur rühmt? So abwegig ist der Gedanke auch für einen kleinen Genfer Professor keineswegs. Gleich zwei von Amiels nächsten Bekannten schaffen sich als Korrespondenten der grossen Pariser Gazetten einen Namen. Er erlebt in den 1860er-Jahren mit, wie sie beide in die französische Hauptstadt ziehen und sich dort behaupten. Edmond Scherer, mit dem er bei manch einer Wanderung auf den Mont Salève über Gott und die Welt diskutiert hat, schafft es in Paris zum führenden Literaturkritiker von Le temps. Victor Cherbuliez, der Sohn des ärmlichen Griechischprofessors und Bruder des Mädchens mit den meergrünen Augen, steigt auf zum gefeierten französischen Romancier, wird in die Ehrenlegion aufgenommen. Ist es ihretwegen, dass sich Amiel erstmals Gedanken über eine literarische Karriere macht, im reifen Alter von 42 Jahren? «Mit der Feder Geld verdienen – sagen wir tausend Francs im Jahr; dieser Gedanke kommt mir zum ersten Mal. Es wäre die einzige Lösung, die mir erlauben würde, ein armes Mädchen zu heiraten. Und es wäre vielleicht auch die einzige Möglichkeit, meine Scheu vor dem Sich-Produzieren zu überwinden.»
Es soll hier noch die Rede sein von Amiels fast zwanghafter Beschäftigung mit den Kosten einer Eheschliessung und der Gründung eines gutbürgerlichen Haushalts. Was uns hier interessiert, ist die Frage der beruflichen Laufbahn. Geht es dem Autor im Grunde genommen zu gut, trotz aller Klagen über die kümmerliche Besoldung durch die Académie? Hindert ihn das kärgliche, aber gesicherte Einkommen, ergänzt durch die Erträge seines kleinen Vermögens – hindert es ihn daran, ein gut verkäufliches Werk zu schaffen, das sich an ein breites Publikum richtet? Das ihn ins Gespräch bringt, vielleicht auch auf den Pariser Redaktionen? Es fehlt an Druck und Zwang von aussen, und so gesehen stellen seine Einkünfte eine Art allzu sanftes Ruhekissen dar, un oreiller de paresse. Mehr als einmal merkt er es selbst an: Statt sich auf ein durchschlagendes Werk zu konzentrieren, verzettelt er sich mit seinen Konzertkritiken, seiner Hymne à Genève und Gelegenheitsarbeiten wie einem gereimten Stadtführer für Touristen. Hat denn die Welt auf launige Verse über die Gassen der Genfer Altstadt gewartet?
Auf einer der Wanderungen zum Mont Salève hat er mit den Freunden Scherer und Heim eine Anfrage der Genfer Bildungsdirektion diskutiert. Er, Amiel, soll ab Januar 1861 eine zehnteilige öffentliche Vortragsreihe im Stadthaus halten, Thema frei wählbar. Die Freunde warten mit einem ganzen Feuerwerk möglicher Sujets auf. Amiel notiert sie getreulich. Weshalb nicht eine populär gehaltene Betrachtung über das Wunderbare: Le merveilleux, son analyse et son histoire? Und wenn er das Material ohnehin zusammentragen muss – weshalb das Ganze nicht anschliessend ausarbeiten zu einem Buch, womöglich hübsch illustriert? Was das Genfer Publikum sicher ebenso interessiert: die Kultur des Geschmacks. Eine Vortragsreihe unter dem Titel Le goût, sa valeur et sa culture würde bestimmt die Damenwelt ins Stadthaus locken. Oder eine Untersuchung des Komischen, müsste sie nicht auch die Herren interessieren? Le Comique et ses variétés hätte zudem den Vorteil, dass Amiel ungeniert Beispiele anführen dürfte, mit Witzen oder Bonmots das Publikum zum Lachen bringen würde.
Dreizehn Themen kommen so schliesslich zusammen. Amiel wählt das unauffälligste von allen, Le langage et la langue maternelle, und hält am 8. Januar im Hôtel de Ville den ersten seiner zehn Vorträge. Die Sprache und das gesprochene Wort – das tönt nach philologischen Spitzfindigkeiten, nach trockenem Kästchendenken. Entsprechend lichten sich denn auch die Sitzreihen im Stadthaus schon in der dritten Januarwoche. Währenddessen hält, an einem anderen Wochentag, Kollege Victor Cherbuliez seine Vorträge zum Artusroman und zur höfischen Liebe vor brechend vollem Saal, auch bei Folge zwei, drei und so weiter bis in den März.
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