Kitabı oku: «Zwinglis gefährdetes Erbe», sayfa 2

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Wie klingt Zürich?

Über das vorreformatorische Zürich gibt es zahlreiche ausführliche Abhandlungen; vielfach beschrieben wird die einzigartige Regierungsform mit ihrer anderswo unbekannten Machtstellung der Handwerkerzünfte. Rege diskutiert wird auch die Sachlage der politischen Vorrangstellung der Stadt als «Vorort» der Eidgenossenschaft, die in wirtschaftlicher Hinsicht aber keine Entsprechung findet: Ökonomisch gesehen fehlt es der Limmatstadt an Ausstrahlungskraft. Was den städtischen Alltag um 1500 betrifft, so liegen kaum zusammenhängende Untersuchungen vor. Rund um Zwinglis erste Amtsjahre interessieren hier aber auch Themen jenseits der theologischen oder politischen Fragestellung. Was fällt einem Neuankömmling wie Zwingli auf, was befremdet, was fasziniert ihn an dieser Stadt?

Zwingli hat in Wien studiert, in Basel seinen Magister gemacht und an der Universität gelehrt. Im städtischen Umfeld, mit städtischen Umgangsformen und Hierarchien kennt er sich aus, ja er bringt eine gewisse Weltläufigkeit mit, die manchen aus ländlichen Verhältnissen stammenden Reformatoren abgeht. Trotzdem muss er sich mit vielem erst vertraut machen, was diese Stadt von anderen Städten der Eidgenossenschaft abhebt. Unübersehbar ist die Rolle der Klöster, allein schon wegen des Terrains, das Franziskaner und Prediger für sich beanspruchen: Mehr als ein Zehntel der rechtsufrigen Stadt belegen die reich gewordenen Bettelorden. Das Fraumünsterstift herrscht nicht nur über die gegenüberliegende Stadthälfte; vielmehr ist die Fürstäbtissin die grösste Grundbesitzerin der Region und Inhaberin zahlreicher Rechte, die sie – in der Theorie – zum Stadtoberhaupt machen.

Vor allem aber: Zürich lebt am Wasser, mit dem Wasser, viel ausgeprägter als etwa das in einer Aareschlaufe liegende Bern oder Basel mit seinen Rheinhäfen. Etwa ein Fünftel der 5000 Seelen zählenden Einwohnerschaft Zürichs lebt von der Schifffahrt und verwandten Berufen. Der See und der Fluss sind überall präsent, als wichtiger Teil des Wasserwegs, der von Basel über Rhein, Limmat und Zürichsee, weiter über Linth und Walensee zu den Alpenübergängen führt. Als wichtigste Station dieser Route ist die Stadt Zielort oder Umschlagplatz und weist entsprechend zahlreiche Landestellen auf. Schwere Lastkähne mit Steinfuhren vom Obersee machen unweit des Fraumünsters fest, die Marktschiffe der Seegemeinden an der Schifflände beim Raben, und hier warten auch Pilgerschiffe auf Gläubige, die nach Einsiedeln wallfahren. Die Kornschiffe landen vor dem Kornhaus, und gegenüber, in der Staad beim Rathaus, wird Fracht auf die leichteren Limmatschiffe umgeladen, von denen manche ihre Fahrt Richtung Norden erst in einem holländischen Hafen beenden. Selbst der Fröschengraben, der Wassergraben ausserhalb der westlichen Stadtmauer, ist schiffbar, und die Sihl speist im Oetenbachquartier zwei Kanäle, an denen mehrere Mühlen betrieben werden. Das Plätschern, Rauschen, Brausen und Ziehen des Wassers bildet die Geräuschkulisse des Alltags, untermischt mit den Zurufen und Fluchworten der Schiffleute. Es ist ein raues Volk, bestehend aus unzimperlichen Meistern und Gesellen. Dasgeht hervor aus den ständig neu aufgelegten Satzungen, die das Fluchen unter Strafe stellen und die Schiffer anhalten, sie hätten sich zu behaltung göttlichen sägens eines erbar züchtigen wesens und ufrechten wandels zu beflyssen.

Politik der Brücken

Die Schifffahrt hat sogar ihr eigenes Stadttor, das in die Limmat gebaute Wyrhus. Sein Portal wird nachts mit einem Gitter verschlossen, und eine Pfahlreihe riegelt den Seeausfluss bis zum Gegenufer ab. Die Stadt, so scheint es, hat jedem Abschnitt des Flusses seine Aufgabe zugewiesen. Der mittlere Teil gehört den Brücken, der Rathaus- und der Münsterbrücke. Die erste, fast so breit wie lang, ist der einzige befahrbare Übergang, dient als Markt, als Promenade für die Ratsherren, die zwischen den Geschäften ihre Taktik absprechen, als Treffpunkt für die Bürgerfrauen. Was sie mit der flussaufwärts gelegenen Münsterbrücke gemein hat, diesem geistlichen Dreisprung von Grossmünster über Wasserkirche zu Fraumünster, ist eine kuriose Installation. Ein Schöpfrad, ähnlich einem Mühlrad, transportiert mit Hilfe beweglicher Eimer Limmatwasser hoch und lässt dieses in eine Rinne fliessen, die zu einem Brunnentrog führt. Es sind «kunstvolle Räder, die den Fluss in die Stadt hineinregnen lassen», wie ein poetisch veranlagter Besucher meldet. Und wo dieser Besucher auch hinschaut, drehen sich kleinere und grössere Wasserräder – vor allem auf zwei Stegen, die weit in den Fluss hinausragen. Hier wird Korn gemahlen, aber viele Räderwerke treiben auch Reiben und Knochenstampfen oder die Läufersteine der Ölmühlen an. Gewürze «und andere wohlriechende Spezereien» werden zerkleinert und gesiebt, sodass um manche dieser Holzbuden eine angenehme Duftwolke schwebt. Aber keiner dieser Stege führt ans Gegenufer; wer von einem Stadtteil in den anderen wechselt, ist auf eine der beiden Brücken angewiesen. Das gilt auch für die flussabwärts gelegenen Gemeinden, denn bis Baden gibt es keinen weiteren Flussübergang: Die Stadt wacht eifersüchtig über ihr Brückenmonopol!

Stätten der Gewalt

Die fliessenden, ziehenden Wassermassen, so scheint es, verleihen der Stadt ein Grundgefühl der Dynamik, der Beschleunigung. Das spüren Neuankömmlinge, die sich wie Zwingli hier niederlassen. Die Zeit wird in Zürich nachdrücklicher verwaltet als anderswo. So ist es kein Zufall, dass die Turmuhr der St. Peterskirche als Erste des Landes neben der vollen Stunde auch die Viertelstunde meldet. Das hat auch damit zu tun, dass das einzige Zifferblatt in Richtung Limmat weist und die Bewohner der «minderen» Stadt zum grossen Teil im Stich lässt. Dafür wird das Glockenzeichen von Zürichs Hauptuhr in alle Richtungen «von Hand» weitergegeben. Beispielsweise schlägt ein Gehilfe die Stundenzahl auf der Glocke des Rennwegtors nach – dies für all jene, welche vor dem getöss der Müllenen beim St. Peter nicht haben läuten hören. Überhaupt legen sich akustische Zeitzeichen wie ein Raster über den Tag: Die Wächter der Stadttore zeigen das Öffnen und Schliessen der Portale mit einem Glockenbimmeln an, und hoch von der Turmstube der Peterskirche erklingen nach dem Läuten der Nachtglocke die Melodien zweier Stadttrompeter, die an zweyen fenstern die nacht anblasen, womöglich unter Verwendung wollutender stucken nach der Kunst und nicht irgendwelcher populärer Weisen.

Als einer der führenden Geistlichen wird es Zwingli in vielerlei Hinsicht mit Gewalt und Strafe zu tun bekommen. Ein Menschenleben ist in dieser Stadt wenig wert, dafür sorgt allein die unheilvolle Tradition des Reislaufens. Söldner mit Kampfpraxis und niedriger Aggressionsschwelle geben auf den Gassen und in den Tavernen den Ton an. Die Gewaltbereitschaft zeigt sich schon im äusseren Habitus der männlichen Bevölkerung: Vom Burschen bis zum Greis trägt jedermann eine Hieb- und Stichwaffe am Gürtel, einen Degen oder einen Dolch, der bei Wirtshausraufereien locker in der Scheide sitzt. Hat zuckt lautet einer der häufigsten Einträge der Polizeiakten: Er hat vom Leder gezogen. Gezuckt hat beispielsweise der bekannte Glasmaler Lukas Zeiner, der 1489 am gewaltsamen Tod eines Stadtknechts beteiligt war. Kein Problem – zehn Jahre später wählt man ihn zum Grossrat. Wehe hingegen jenem Dieb, der ums Jahr 1500 silberne Beschläge von einem Pistolenknauf entwendet! Hier spricht das Gericht die Todesstrafe aus; der Mann wird gehängt.

Aus welcher Richtung auch immer der Besucher in Zürich eintrifft – eine weithin sichtbare Richtstätte empfängt ihn als Zeichen der Gewaltbereitschaft, die diese Stadt prägt. Zwingli, der wie anzunehmen mit dem Pilgerschiff ankommt, nimmt als Erstes den Wellenberg zur Kenntnis, einen uralten Turm mitten im Seeausfluss. Zur unheimlichen Fassade passt, dass hier die Stadt ihre Folterkammer unterhält, weiter die Kerker für zum Tod Verurteilte. Anreisende aus Richtung Norden stossen beim heutigen Freibad Letzigraben auf einen kleinen Hügel mit dem Hochgericht. Das ist ein Galgen mit drei Pfeilern, zwischen denen oft über Wochen hinweg die Leichen der Hingerichteten baumeln, ergänzt durch einige aufgespiesste Köpfe oder andere Gliedmassen.

Nahe der Sihlporte führt die Badener Landstrasse an einer weiteren Richtstätte vorbei. Das Grien heisst eine Kiesbank am Sihlufer; hier vollzieht der Scharfrichter das Todesurteil an Frauen und Männern, die sich durch Zauberei oder Umgang mit dem Teufel schuldig gemacht haben. Sie büssen mit dem Tod auf dem Holzstoss, und ihre Asche wird umgehend in den Fluss gekippt: Nichts darf übrig bleiben vom Umgang mit dem Bösen. 1520, im Jahr nach Zwinglis Amtsantritt, wird hier eine Christiane Keller aus Andelfingen hingerichtet. Ihre angebliche Untat, die sie unter Folter im Wellenberg gesteht: Christine hatte Umgang mit dem Teufel, erhielt von ihm eine schwarze Salbe, habe damit einen Stecken bestrichen und also hinweg uff den Höwberg gefahren.

Stadt der Linden

Eben dieser Wellenberg gilt als ältester und geheimnisvollster aller Stadttürme. Sechzehn gibt es insgesamt, acht dienen auch als Tore oder Portale, aber nur vom Wellenberg heisst es, die Römer hätten ihn einst als Leuchtturm für die Last- und Marktschiffe gebaut. Mehr noch, er ragt 80 Fuss hoch in den Himmel, aber ebenso tief bohrt er sich in das Bett der Limmat: Diser Thurn soll nidsich under der Erden so tief als hoch seyn.

Überhaupt ranken sich Legenden um alle diese Befestigungsbauten; es gibt geheime Entsprechungen. Die 16 steht, als doppelt potenzierte 2, für die beiden Hälften der Stadt, die beiden Brücken und die beiden grossen Stifte. Doch rund um die Stadtmauer erstreckt sich ein zweiter, unsichtbarer Wall. Er verbindet neun unscheinbare Punkte, so die Spanweid, wo das Siechenhaus steht, oder den Baschligplatz in Hottingen. Beide Fixpunkte liegen ausserhalb der Mauern, so wie auch die Klausstud – ein Kreuz auf einer Untiefe im Ufergelände vor dem heutigen Bellerive. Denn Zürich ist ein Kreuzbezirk, den eine unsichtbare Macht vor Unheil bewahrt. So findet sich die Stadt nicht nur umgeben von einem steinernen Wall, sondern eingesponnen in ein ungleich luftigeres Gewebe aus Erzählungen und Bildern. Wie Zwingli zu solch halb heidnischen, halb christlichen Vorstellungen steht, lässt sich schwer sagen. Warnende Vorzeichen, drohende Himmelserscheinungen nimmt er durchaus ernst, wie sich anhand der Phänomene, die der Kappelerschlacht vorangehen, zeigt.

Manche Portale, so der «wahrhaft zyklopische» Oetenbacherturm, sind derart massiv, dass sich der Glaube festsetzt, der Bau der Befestigung habe sich über viele Generationen hinweg erstreckt; in der minderen Stadt habe der Bau «schon Anno 880 unter Kaiser Karl dem Dicken» begonnen. Tatsächlich schafft die Bevölkerung diesen kollektiven Kraftakt aber in knapp 50 Jahren; im grossen Ganzen stehen Mauern, Türme und Gräben im ersten Drittel des 14. Jahrhunderts bereit. Zeit lässt man sich allein mit der «vierten Wand» der Wehrtürme. Die der Stadt zugekehrte Seite bleibt offen, was den Blick auf die hölzernen Treppen und Fussböden im Turminnern freigibt. Das gilt zumindest bis zur Zeit des Malers Hans Leu, der um 1500 ein erstes realistisches Porträt der spätmittelalterlichen Stadt schafft. Ein Altarbild eigentlich, das vom Martyrium der Stadtheiligen Felix und Regula handelt, um der Wirklichkeitsnähe willen aber die Plätze und Gassen mit allerlei kleinen Alltagsszenen bevölkert: Da stösst ein Händler seinen Handkarren, und ein Kollege schiebt von hinten mit, ein Fährmann holt eine Dreierdelegation auf der Plattform des Wellenberg ab, und eine schwarz gekleidete Nonne wartet vor dem Portal des Grossmünsters auf Einlass.

Als Betrachter können wir nachprüfen, wie es mit der Reinlichkeit steht, die man der Stadt nachsagt – jedenfalls seit die Obrigkeit verfügt hat, es seien alle Gassen und Strassen systematisch zu pflästern, und ward zugleich verbotten, dass man ein jar lang kein Schwein auff der Gassen solte lauffen lassen. Schweine zeigt das Altarbild nicht gerade, immerhin weist die Stadt aber überraschend grosse Grünflächen auf: hinter dem Grossmünster beispielsweise ein ausgedehnter Rebberg, und flussaufwärts von der Schipfe schlängelt sich ein Spazierweg durch eine Hangwiese, darüber der sattgrüne Lindenhof. Linden finden sich auch anderswo: Stadtgräben und -wälle sind mit Tilia platyphyllos bepflanzt; viele Häuser tragen Namen wie Lindenbrunnen, Lindengarten oder Lindenturm. Im Juni ist die Stadt gehüllt in eine Wolke aus Nektarduft, die sich allerdings gegen die Fäkalienschwaden aus Entsorgungsgräben und Misthaufen, von Pferde- und Rinderdung durchsetzen muss. Denn am Rindermarkt findet regelmässig der Viehmarkt statt, und das Schweineverbot lässt sich auf die Dauer nicht durchsetzen.


Abbildung 2

Truppenverzeichnis des Aufgebots von Richterswil für einen Feldzug nach Norditalien.«tod» heisst der Randeintrag der zweituntersten, «heim» jener der untersten Zeile. Wo Simon Äschmann den Tod fand, ist nicht überliefert – Gelegenheit dazu gab es reichlich, als das eidgenössische Söldnerheer im Herbst 1512 die Lombardei eroberte. Hunderte von «Rödeln» oder Mannschaftslisten wie jene der Seegemeinde «Richtischwyl» erfassen die 18‘000 Söldner, die an der Kampagne teilnahmen.

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Solddienst

Bereits in der ersten Phase der Reformation erlässt der Zürcher Rat ein Verbot der Reisläuferei, also des Solddienstes in auswärtigen Heeren. Den Ausschlag geben religiöse und moralische Bedenken. 1521 schliessen zwölf eidgenössische Orte ein Soldbündnis mit Frankreich; als einziger der 13 Stände lehnt Zürich den entsprechenden Vertrag ab. Aber so dicht ist das wirtschaftliche und politische Flechtwerk, das der Exportartikel «Kriegsknecht» geschaffen hat, dass Zürichs Abseitsstehen den Landesfrieden gefährdet. Auch in der Stadt selbst gibt es gut bezahlte Lobbyisten, die sich die Zustände von einst zurückwünschen.

Beim «Grossen Pavierzug» von 1512 ist man sich noch einig: Die Eidgenossenschaft greift als Verbündete des Papstes und der Mailänder Herzöge in den seit Jahrzehnten geführten Machtkampf um Oberitalien ein. Schon der Zürcher Truppenanteil mit seinen 3200 Infanteristen und 400 Berittenen stellt ein eigentliches Volksaufgebot dar. Bei einer Bevölkerungszahl von 50‘000 macht dieses Detachement ein Fünftel der männlichen Einwohner aus – rund die Hälfte aller Wehrfähigen! Dabei kämpft man keineswegs um die Unabhängigkeit des Landes, sondern greift aktiv in die europäische Machtpolitik ein. Und dies mit Erfolg: Innerhalb weniger Wochen werden die französischen Besatzer aus der Lombardei vertrieben. Die Eidgenossen setzen Maximilian Sforza als Herrscher über das Herzogtum Mailand ein, betrachten Mailand fortan als ihr Protektorat und erweitern ihr eigenes Herrschaftsgebiet um das Veltlin.

Ein Triumph, dem aber schon drei Jahre später die militärische und politische Katastrophe folgt. Zwingli hat die Schlacht von Marignano (siehe i Die Niederlage von Marignano) als ohnmächtiger Beobachter von der Seitenlinie aus verfolgt. Für ihn wie für viele andere unabhängige Zeitzeugen steht fest, dass die aggressive Expansionspolitik der Eidgenossen in die Sackgasse führen muss. Jetzt ist es so weit: Gegen das französische Heer mit seiner überlegenen Artillerie stehen die gefürchteten Schweizer Nahkampfspezialisten auf verlorenem Posten. Am zweiten Tag der Schlacht ziehen sie sich zurück; sie haben 8000 (nach anderen Quellen: 10‘000) Todesopfer zu beklagen. Auch die Bilanz für den Zürcher Auszug sieht schrecklich aus: 800 bis 900 Gefallene. Rechnet man mit einer Kantonsbevölkerung von 50‘000, so kosten die schicksalsschweren Tage des 13. und 14. Septembers 1515 rund vier Prozent der männlichen Einwohnerschaft das Leben. Auf heutige Verhältnisse übertragen wären das 60‘000 Todesopfer – eine nationale Katastrophe! Sie wird sich ganz massiv auf die Ausbreitung des reformatorischen Gedankens auswirken.

i Die Niederlage von Marignano – Unter den zahlreichen Schlachten, die eidgenössische Truppen im Verlauf der oberitalienischen Feldzüge austrugen, wirkte sich jene von Marignano massgeblich auf die Grossmachtpolitik der 13-örtigen Eidgenossenschaft aus. Im Bündnis mit dem Papst und dem Herzog von Mailand versuchte ihre 20‘000 Mann starke Streitmacht, die Expansionspolitik der französischen Krone aufzuhalten. Am 13. September 1515 traf ihr Heer in Marignano, einem Vorort Mailands, auf die zahlenmässig überlegenen französischen Truppen von König Franz I. Es erlitt in einer ersten Phase der Schlacht schwere Verluste durch Artilleriefeuer, setzte am Folgetag nach stundenlangen Kämpfen zum entscheidenden Angriff an, wurde aber durch das Vorrücken einer venezianischen Streitmacht zum Rückzug gezwungen. Mit rund 9000 Gefallenen verloren die Eidgenossen fast die Hälfte ihres Kontingents. Ulrich Zwingli wurde als Feldprediger der Glarner Truppen zum Augenzeugen der Tragödie, die ihn zum erbitterten Gegner des Dienstes in fremden Heeren machte. Franz I., der sich in der Folge selbst als «ersten Bezwinger der Helvetier seit Julius Caesar» feierte, suchte schon im Folgejahr den «Ewigen Frieden» mit den 13 Orten. Das im November 1516 besiegelte Bündnis sah die Bereitstellung eidgenössischer Söldnertruppen für das französische Heer vor; es hatte in den Grundzügen bis zum Revolutionsjahr 1789 Bestand. (HLS sub Marignano)

Blut rinnt aus dem Ornat

Was haben die Eidgenossen in diesem Italien verloren? Wozu betreiben sie hier Territorialpolitik, zusammen mit Päpsten, Herzögen und der französischen Krone? Und wie rechtfertigen sie ihre erratische Bündnispolitik? Zu Beginn des Jahrhunderts haben sie sich zu Tausenden dem französischen Heer unter Ludwig XII. angeschlossen, wechseln im Sommer 1512 aber ins feindliche Lager und vertreiben Ludwigs Truppen aus eben jenem Territorium, das sie vor kurzem mit ihnen zusammen eroberten. Und so unerwartet kommt diese Kehrtwendung, dass sich plötzlich Landsleute auf beiden Seiten der Front finden, dass Eidgenossen gegen Eidgenossen kämpfen, in mehreren Gefechten.

Hier ist ein einziges Mass angelegt worden – jenes der Dukaten und Goldkronen. Wo nur mehr das Geld regiert, so klagt Zwingli in einer berühmt gewordenen Predigt, wird Weiss über Nacht zu Schwarz, ist der Feind von gestern dein Bruder von heute, wird aus dem obersten Hirten der Christenheit der gefrässige Wolf, gebärden sich der Papst, die Kardinäle in ihren purpurnen Ornaten als Kriegsherren. «Zu Recht tragen sie rote Hüte und Mäntel, denn schüttelt man sie, so fallen Dukaten und Kronen heraus; windet man sie aber aus, so rinnt deines Bruders, Vaters und guten Freundes Blut heraus.»

Diese Kampfansage an Rom (siehe « Soldbündnis mit Rom) stammt vom Frühling 1521. Ein erstaunlicher Zeitpunkt: Nur wenig mehr als zwei Jahre nach seinem Amtsantritt wendet sich der führende Geistliche der Stadt in aller Deutlichkeit gegen die oberste Instanz der Christenheit und fasst für seine Mitbürger in Worte, was keiner laut zu fragen wagt: Mit welchem Recht rüsten diese christlichen Herren ganze Armeen aus und schicken sie in den Krieg? Und was treibt den «biderben», den aufrechten Eidgenossen an, dass er «nur um des Geldes willen Herrscher unterstützt, denen es gar nicht ansteht, Kriege zu führen, also Bischöfe, Päpste, Äbte und andere Geistliche»? Ganz zu schweigen davon, dass er gegen Entgelt einem beliebigen Auftraggeber hilft, ein schuldloses Land mit Gewalt zu berauben, einzunehmen und zu verwüsten – dass du gelt nimpst und eim frömbden herren hilfst ein ander unverschuldet land gwaltiklich berouben, innemmen, verhergen?

« Soldbündnis mit Rom: Zwingli prediget diser zyt häfftig wider das gälltnemmen; sagt, wie es ein fromme Eydgnoschaft zertrennen und ummkeren wurde. Er redt ouch wider die vereinigungen mitt fürsten und herren, welche, wenn sy gemacht, achtete ein yeder biderman, was zuogesagt, söllte ouch gehallten werden. Dorumm sölle man in kein vereinigungen gan, und wenn gott einem volck hälffe uss vereinigungen, sölle man sich davor hueten und nitt widerum yngan, dann sy kostind vil bluots. Und ich wölt, sprach er, das man durch des bapsts vereinigung ein loch gestochen und dem botten uff den ruggen gäben hätte heym zuo tragen. Er redt ouch das: Ueber ein thierfräsigen wolff stürmpte man und den wolffen, die lüth verderbind, wölle nieman rächt werren. Sy tragind billich rote huet und mäntel; dann schüttle man sy, so fallind duggaten und kronen herus; winde man sy, so ründt dines suns, bruoders, vatters und guoten fründts bluot herus. In summa, wiewol Zwinglin von ettlichen zuogelegt ward, das er dem bapstszug ettwas glimpffet und sich von Keyserischen uffstifften lassen, ists doch kundtbar war, das er kein ding me geschullten und gewert hat. (ZW I, 7, S. 73)»

Zwingli predigte in diesen Zeiten mit Nachdruck gegen das Entgegennehmen von Geld und betonte, dass es die gläubige Eidgenossenschaft spalten und untergraben würde. Er wandte sich auch gegen die Bündnisse mit Fürsten und (anderen) Herren, denn sei man sie einmal eingegangen, so müsse man in der Art aufrechter Männer auch einhalten, was man zugesagt habe. Deshalb solle man keine (solchen) Bündnisse schliessen, und wenn Gott einem Volk aus einem solchen heraushelfe, solle man sich in Acht nehmen und keine neuen eingehen, denn sie kosteten einen hohen Blutzoll. Ich wünschte auch, sprach Zwingli, dass man ein Loch in die päpstliche Bündnisurkunde gestochen und sie dem Boten auf den Rücken geheftet hätte, damit er sie so nach Hause trage. Weiter sagte er, bei einem reissenden Wolf würden Treibjagden veranstaltet, aber niemand wehre sich gegen die Wölfe, die die Leute ins Unglück brächten. Diese trügen zu Recht purpurrote Hüte und Mäntel, denn schüttle man sie, so fielen Dukaten und Kronen heraus; winde man sie aber aus, so rinne deines Sohnes, Bruders, Vaters und guten Freundes Blut heraus. Kurz, auch wenn Zwingli von manchen Leuten bezichtigt wurde, er habe den päpstlichen Feldzug gutgeheissen und sich von den Kaiserlichen anstiften lassen, so ist es doch nachweislich wahr, dass er keine Sache heftiger gescholten und verurteilt hat.

«Böse Sitten»

Das ist eine unverhohlene Kampfansage an die Soldherren jeglicher Couleur. Wie weit kann Zwingli hier auf die Unterstützung durch die Regierung zählen? Und wie stellt man sich auf der Landschaft zu seinem radikal romkritischen Kurs? Ganz bestimmt kann Zwingli mit einem grossen Teil der Geistlichen rechnen, mit dem städtischen Domherrn wie mit dem einfachen Dorfpfarrer. Denn im täglichen Verkehr mit dem Volk erfahren diese Kollegen nur allzu schmerzlich, wie zurückkehrende Reisläufer die Umgangsformen prägen, wie die gewohnten Raufereien in tödliche Messerstechereien ausarten, wie sich Trunksucht und Arbeitsscheu ausbreiten. «Die Unsrigen», so Zwingli, «sind noch nie aus fremden Kriegen zurückgekehrt, ohne ungewohnte Kleidung für sich und ihre Weiber mitzubringen, dazu allerhand Speisen, unmässiges Trinken, neue Flüche. Was sie an Sündhaftem antreffen, das lernen sie gerne, sodass man befürchten muss, mit der Zeit werde man noch schlimmere Laster kennenlernen, wenn man nicht vom Dienst bei fremden Herren ablasse. Auch die weibliche Zucht wird geschwächt und entfernt sich von Gott» (siehe « Böse Sitten).

« Böse Sitten: Die dritt farlikeit ist, das man böss sitten mit frömdem gelt und krieg heimbringt und pflantzet. Das sehent wir eygenlich, dann die unseren nie heim kummen sind us frömbden kriegen, sy habend mit inen etwas nüwes bracht an kleydung ir selbs und irer wybren, an spyss, an tranck unmass, nüw schwuer; und was sy süntlichs sehent, lernend sy gern, also, das ze besorgen ist, lasse man nit von frömden herren, man werde noch schädlichere laster mit der zyt erlernen. Es würt ouch alle frowenzucht dess schwecher und unfrömmer. (ZW I, 10, S. 183) »

Die dritte Gefahr besteht darin, dass man aus dem Krieg zusammen mit dem fremden Geld verderbliche Sitten mit heimbringt und sie dort einreissen lässt. Das erleben wir ganz konkret, denn die Unsrigen sind noch nie aus fremden Kriegen zurückgekehrt, ohne neumodische Kleidung für sich und ihre Weiber mitzubringen, dazu allerhand Speisen, unmässiges Trinken, neue Flüche. Was sie an Sündhaftem antreffen, das lernen sie gerne, sodass man befürchten muss, mit der Zeit werde man noch schlimmere Laster kennenlernen, wenn man nicht vom Dienst bei fremden Herren ablasse. Auch die weibliche Zucht wird geschwächt und entfernt sich von Gott.

Das spricht manch einem geistlichen Herrn aus dem Herzen. Was die städtische Obrigkeit angeht, so dominieren im Augenblick die liberalen und reformwilligen Kräfte. Mit der vorgesehenen Aufhebung der Klöster tun sich die wenigsten schwer: Allzu verlockend ist die Aussicht auf den massiven Zuwachs an Grundbesitz, Rechten und Abgaben, mit dem die Stadt rechnen kann. Daneben gibt es einen konservativen Kern alteingesessener Geschlechter. Hier findet man sich nur widerwillig mit dem Reislaufverbot ab; vor allem verzichtet man nur ungern auf die Pensionsgelder. Denn nach wie vor erhalten angesehene Ratsherren regelmässige Zuwendungen von Seiten des Papstes, der französischen Krone oder anderer Parteien. Die Zielvorgabe: Die Empfänger dieser Pensionen oder Jahrgelder sollen als eine Art Lobbyisten die Interessen des jeweiligen Geldgebers vertreten; hauptsächlich geht es um die Anwerbung von Söldnern. Wie im Umgang mit Schmiergeldern üblich, werden die Beträge sehr diskret übergeben, was manchen Lobbyisten erlaubt, gleich mehrere Geldquellen aufs Mal anzuzapfen …

Hearings im Rathaus

Mit solchen Machenschaften befasst sich ein Komitee, das Bürgermeister und Räte in den Mittzwanzigerjahren einsetzen. Über drei Wochen hinweg kommen im Herbst 1526 mehr als vier Dutzend Vorgeladene zu Wort – von Zwingli, der die Untersuchung gefordert hat, bis zur Kneipenwirtin, die an einer feuchtfröhlichen Runde allerlei verdächtige Äusserungen aufgeschnappt hat. Die Protokolle haben sich bis heute erhalten: eine Folge von Einzelverhören, Gruppenbefragungen, Unschuldsbeteuerungen und Gegenüberstellungen, bei denen sich manche Verdächtige gegenseitig belasten. Die Abklärungen beginnen am 10. Oktober mit Ulrich Zwingli, der zwei Tage lang als eine Art Chefankläger Zeugen und Verdächtige vorlädt, und sie enden mit einem Eklat. Ratsherr Jakob Grebel, einer der ersten Befürworter der Reformation, soll trotz striktem Verbot während Jahren grosse Summen Pensionsgelder eingestrichen haben. Der Rat verurteilt ihn zum Tod; der 66-Jährige wird am zweitletzten Tag des Monats öffentlich enthauptet.

Seine Anhänger werden später unter der Hand verbreiten, hier sei ein Sündenbock gesucht und gefunden worden; mit gleichem Recht hätte die Todesstrafe auch andere Jahrgeldbezüger treffen können (tatsächlich sprach das Gremium hohe Geldbussen gegen ein Dutzend weitere Überführte aus). Das Protokoll der Verhöre erinnert in mancher Hinsicht tatsächlich an eine Hexenjagd. Manche «Beweise» stammen aus zweiter Hand, etwa aus einer Kneipe, wo ein Zeuge eine Gruppe von Zechern am Nebentisch belauscht, als sie in die trünk kommen syen und von pensionen und vom Evangelium redten. Zwingli selbst beginnt mit einer pauschalen Unterstellung: dass alle die, so mit pension verdacht sind, einhelliglich wider das Evangelium stritend – bei den Verdächtigen handle es sich durchs Band weg um Gegner des neuen Glaubens.

Stallknechte und andere Bedienstete der Angeklagten werden aufgespürt und vorgeladen und sollen bezeugen, wo und wann sich ihre Herren mit Mittelsmännern eines Königs oder Herzogs getroffen haben – auch wenn diese Treffen oft mehrere Jahre zurückliegen.

Da berichtet ein Zeuge von einem geheimnisvollen Boten, der zu später Stunde «gestiefelt und gespornt» das Haus eines Ratsherrn verlassen habe. Ein anderer hat im Bäderstädtchen Baden mit einem Offizier gezecht. Der habe ihm eine Handvoll Goldmünzen unter die Nase gehalten und geprahlt, so viel schnelles Geld bringe eben nur der Kriegsdienst ein. Im Haus eines gewissen Pfäffli Ziegler sei laut schwadroniert worden, der Zwingli wäre allen zu schwer, man müsse ihn irgendwie loswerden – man müesse luogen, wie man sin abkäm. Ein Stadtknecht weiss wiederum von anderen Stadtknechten, diese bezögen ein festes Gehalt, dorumb dass si die pensioner warneten, wann si si fachen (festnehmen) solltend …

Rette sich, wer kann

Allerdings bringen die Verhöre auch handfeste Ergebnisse, gerade im Fall von Jakob Grebel. Dass es dieser ohnehin schwerreiche Eisenhändler durch Zuwendungen aus verschiedenen Lagern auf Pensionsgelder von 4000 Kronen (6000 Gulden) brachte, hat er in privater Runde eingestanden; auch das bestätigen mehrere Zeugen.

Beim persönlichen Verhör wiegelt Grebel allerdings ab: Ein Teil der Gelder sei für die Ausbildung seines Sohns Konrad bestimmt gewesen, bei weiteren Summen handle es sich um Unternehmenskredite; andere Zahlungen hingegen fielen in die Zeit vor dem Verbot. Wenn er sich mit dem tresorier oder Zahlmeister eines Kardinals getroffen habe, dann als Privatmann – anderseits ergibt ein weiteres Verhör, dass die beiden gar keine gemeinsame Sprache sprechen, in der sie sich unterhalten könnten. Kommt hinzu, dass Sohn Konrad seinen Vater desavouiert, indem er wiederholt in aller Öffentlichkeit klagt, er erhalte die für seine Ausbildung vorgesehenen Gelder nur zum kleinsten Teil. Und wenn Konrad daran denkt, «dass er von drei Herren, dem Papst, dem Franzosen und dem Herzog von Mailand, Geld gehabt habe», gerät er in Panik: Sollte das bekannt werden, muss er um sein Leben fürchten.

Panik macht sich auch unter weiteren Pensionsherren breit. Manche befürchten, dass sie ouch etwa in die suppen kämen, also durch belastende Aussagen der Mittäter in den Strudel gerissen würden. Muoss ich dran, so muoss das alt Grebeli ouch dran, droht ein gewisser Christoph Bodmer. Und letztlich ist es wohl diese Maxime des «Rette sich, wer kann», die dem Komitee genügend Material für eine Anklage und ein Urteil verschafft. Dass im Fall Grebels die Todesstrafe verhängt wird, überrascht allerdings manche seiner Mitglieder. Verschiedenen Quellen zufolge hat sich ein Mann besonders energisch dafür ausgesprochen: Ulrich Zwingli.