Kitabı oku: «Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?», sayfa 12
TEIL II: | Die Militärdoktrin der Sowjetunion |
Hans Rudolf Fuhrer/Matthias Wild |
2.1 Einleitende Bemerkungen
Auch in diesem zweiten Teil geht es darum, die Grundlagen für die Beantwortung unserer drei Leitfragen zu schaffen. Die verschiedenen Aspekte der Militärdoktrin der Sowjetunion und in gewissem Sinn auch des Warschauer Vertrags sind sehr vielfältig und können hier nur exemplarisch angesprochen werden.
Vieles deutet darauf hin, dass es in unserer Zeitperiode 1945–1966 keine gemeinsame Militärdoktrin der Warschauer Vertragsstaaten in abgesegneter Papierform gegeben hat. Erst 1987 wurde eine «Militärdoktrin der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages» verabschiedet.
Auch ein Dokument mit dem Titel «Militärdoktrin der UdSSR» ist bisher nicht gefunden worden. Für sicher kann jedoch gelten, dass die Grundsätze der sowjetischen Militärdoktrin für die Bündnispartner bei der Ausarbeitung nationaler Dokumente verbindlich waren. Dies bestätigt beispielsweise Armeegeneral Heinz Kessler, indem er 1968 – kurz nach dem Ende unserer Forschungsperiode – wortreich und nicht ohne systemübliches Lob für seine Vorgesetzten schreibt: «Bei der Herausarbeitung und Festlegung der Militärdoktrin der Deutschen Demokratischen Republik wurde vor allem von den Grundzügen der sowjetischen Militärdoktrin ausgegangen. Dabei liess sich unsere Partei- und Staatsführung davon leiten, dass die Sowjetunion als die stärkste und führende Macht im sozialistischen Lager mit ihren reichen militärischen Erfahrungen für die Landesverteidigung der Deutschen Demokratischen Republik wertvolle Lehren vermittelt. Die Partei- und Staatsführung der DDR hat ausgehend von den spezifischen politischen und ökonomischen Bedingungen unserer Republik sowie ihrer militärgeographischen Lage die allgemeinen Erkenntnisse der sowjetischen Militärdoktrin schöpferisch verarbeitet und entsprechend der Politik unserer Partei und Regierung in den Leitsätzen der Militärdoktrin verankert. Es ist das historische Verdienst unserer Partei und ihres Ersten Sekretärs, Genossen Walter Ulbricht, dass sie in den jeweiligen Entwicklungsetappen schöpferisch die sowjetischen Erfahrungen auf die Belange und die Besonderheiten der Deutschen Demokratischen Republik anwandte.»1
Der Begriff «Militärdoktrin» wird im Nato-Gebrauch meist als Synonym für «Militärstrategie» verwendet.2 In der Sowjetunion haben die beiden Begriffe einen Eigenwert. Die «Militärstrategie»3 bildet nach sowjetischer Terminologie zusammen mit der operativen Kunst und der Taktik die «Kriegskunst», die wiederum als führende Disziplin der Militärwissenschaften gilt.4 Die «Militärstrategie» ist also eine Anwendungslehre der höchsten Stufe und beschäftigt sich – ausgehend von den allgemeinen Grundsätzen der «Militärdoktrin» – mit den konkreten militärischen Gesichtspunkten zur Durchführung eines Kriegs.5
Nach der Definition im Militärlexikon der DDR ist die «Militärdoktrin» «die von der politischen Führung offiziell festgelegte und für das gesellschaftliche Handeln verbindliche prinzipielle Auffassung über den Charakter, die Vorbereitung und Führung möglicher Kriege. Sie umfasst grundlegende Weisungen über die Mittel und Methoden zur Lösung der dem Staat [und ebenfalls der Koalition, d. Vf.] erwachsenden politischen und militärischen Aufgaben, über den Einsatz bewaffneter und anderer staatlicher und gesellschaftlicher Kräfte im Krieg sowie über die Vorbereitung des militärischen, moralischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Potentials, auf die unter den jeweiligen Bedingungen möglichen Kriege.»6 Sie ist also – wie die Militärenzyklopädie definiert – «ein System richtungweisender Prinzipien und wissenschaftlich begründeter Ansichten der KPdSU und der Sowjetregierung über Wesen, Charakter und Methoden der Führung eines Kriegs, der der Sowjetunion durch die Imperialisten aufgezwungen werden könnte, wie auch über den militärischen Aufbau sowie über die Vorbereitung der Streitkräfte und des Landes auf die Zerschlagung des Aggressors».7 Die sowjetische Militärdoktrin ist somit Grundlage der staatlichen Verteidigungspolitik und ist der «Militärstrategie» übergeordnet.8
Wir können zwei Ebenen unterscheiden. Zum einen ist es die politisch-moralische Ebene. Sie ergibt sich unmittelbar aus den Grundsätzen der kommunistischen Ideologie, insbesondere die Parameter zur Ausübung von bewaffneter Gewalt für politische Ziele. Sie zeigt Wege auf zur Erreichung der strategischen Ziele sowie Aufgaben der geistigen und ideologischen Vorbereitung von Volk und Armee.
Zum anderen ist es die militärisch-technische Ebene, welche die Szenarien möglicher Kriege, ihre operativ-taktischen Besonderheiten und die daraus resultierenden qualitativen und quantitativen Anforderungen an die eigenen Streitkräfte festlegt. Sie definiert auch die Prioritäten der Rüstungspolitik.
Beide Seiten der Militärdoktrin bilden eine untrennbare Einheit und sind infolge der gesellschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Entwicklung ständigen Veränderungen unterworfen. Die politische Dimension wurde dabei als die führende angesehen.9
Das folgende Kapitel beantwortet insbesondere die folgenden Fragen:
– Von wem geht eine militärische Bedrohung aus?
– Welches sind die möglichen Angriffsarten des Gegners?
– Welchen Charakter wird ein künftiger Krieg voraussichtlich aufweisen?
– Woraus bestehen die strategischen Ziele in einem künftigen Krieg?
– Welche Aufgaben werden den Streitkräften gestellt?
– Welche Mittel und Methoden kommen zur Anwendung?
– Wer gilt als direkter oder indirekter militärischer Verbündeter?
2.2 Die «Stalin-Phase» (1945–1953)
Die Anstrengungen der vier Kriegsjahre hatten die Sowjetunion ausserordentlich geschwächt. Schätzungen gehen dahin, dass bis zu 13 Millionen Soldaten der Roten Armee ihr Leben verloren haben. Die Armeegenerale Kvašnin (Generalstabschef) und Gareev (Präsident der Akademie der Militärwissenschaften der Russischen Föderation) sprechen von 8,6 Millionen «unwiederbringlichen Verlusten» der Roten Armee und 7,2 Millionen in der Wehrmacht und bei ihren Verbündeten.10 Wahrscheinlich mindestens so hoch waren die Verluste in der Zivilbevölkerung. Rund 35 Millionen Frauen und Männer wurden eingezogen und die Wirtschaft über alle Massen beansprucht. 1710 Städte, mehr als 70 000 Dörfer, über 30 000 Industrie- und rund 100 000 Landwirtschaftsbetriebe wurden zerstört oder schwer beschädigt. Die seit der Gründung der Roten Armee im Frühjahr 1918 gültige Militärdoktrin der offensiven Abwehr – sie wird Michail Frunze zugeschrieben – war misslungen. Die Rote Armee musste sich zwei Jahre lang auf eigenem Territorium verteidigen, bis sie ab der zweiten Jahreshälfte 1943 in die Gegenoffensive übergehen konnte. Nur der totale Einsatz aller personellen und materiellen Ressourcen sowie die Zusammenarbeit mit den anglo-amerikanischen Streitkräften machten den Sieg über die Deutsche Wehrmacht und ihre Verbündeten möglich. Diese bittere Lage forderte nun eine Konsolidierung. Die Schaffung eigener Sicherheit sowie der Wiederaufbau des Landes standen im Vordergrund.
2.2.1 Annahmen bezüglich des Gegners in einem zukünftigen Krieg11
Stalin erklärte in der Nachkriegszeit stets, die Sowjetunion werde von sich aus keinen Krieg beginnen. Als Aggressor in einem zukünftigen Krieg kam für ihn – zumindest offiziell – nur eine kapitalistische Macht in Frage. Wie in Teil 1 ausgeführt, konnte er sich dabei auf die von der marxistisch-leninistischen Ideologie behauptete «aggressive Natur» der kapitalistischen Staaten berufen. Stalin hegte ausserdem die Vorstellung, dass diese imperialistische Allianz die UdSSR vernichten wolle. Das Bild dieser vermeintlichen Verschwörung zur skrupellosen Durchsetzung der kapitalistischen Klasseninteressen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln war tief in der kommunistischen Vorstellung verankert und lässt sich auch aus den historischen Erfahrungen des Zarenreiches und der Sowjetunion herleiten. Es war bittere Erlebniswelt.
Die grösste Bedrohung für die Sowjetunion sah Stalin unmittelbar nach Kriegsende nicht in der allfälligen Bildung einer antisowjetischen anglo-amerikanischen Koalition, sondern in der Wiederentstehung eines mächtigen Deutschland. Der Grund für diese Lagebeurteilung war das Trauma, welches der deutsche Überfall auf die UdSSR im Juni 1941 verursacht hatte. Um der potentiellen Gefahr eines zukünftigen deutschen Revanchekriegs zu begegnen, beschloss Stalin verschiedene Massnahmen:
Erstens sollte ein militärisches Wiedererstarken Deutschlands verhindert werden. Zu diesem Zweck strebte Stalin die Verkleinerung des deutschen Staatsgebietes und die Aufteilung des reduzierten Landes in Besetzungszonen, die vollständige Entmilitarisierung Deutschlands – verbunden mit dem Verbot der Produktion von Kriegsgütern – sowie die Auferlegung von Strafreparationsleistungen an.
Zweitens sollten die Grenzen der UdSSR besser geschützt werden. Dies wollte Stalin durch die Errichtung eines «cordon sanitaire» in Ost- und Mitteleuropa erreichen.
Und drittens sollte die Sowjetunion militärisch auf einen Stand gebracht werden, welcher die Abwehr jeder künftig denkbaren deutschen Aggression ermöglichte.
Allerdings mehrten sich bald die Anzeichen, dass der UdSSR eher von Seiten der westlichen Alliierten eine Gefahr drohte. Sowjetische Analytiker hatten kurz nach Kriegsende in Grossbritannien und den USA zwei miteinander konkurrierende aussenpolitische Richtungen ausgemacht – zum einen den Kurs Franklin D. Roosevelts, welcher auf die Integration der Sowjetunion in die Völkergemeinschaft abziele und auf Zusammenarbeit mit ihr setze, zum anderen den Kurs John F. Dulles’ und Winston S. Churchills, welche die Ausgrenzung der UdSSR anstrebten und auf Konfrontation mit ihr drängten. Ab Frühling 1946 nach einem scharfen Kurswechsel im amerikanischen Verhandlungsstil war der sowjetischen Führung klar, dass die antisowjetische Richtung im Westen die Oberhand gewonnen hatte. Churchills Rede am 5. März 1946 in Fulton,12 in welcher der ehemalige britische Premierminister nicht nur vom «Eisernen Vorhang» sprach, der Europa geteilt habe, sondern auch von einem unverhohlenen sowjetischen Expansionismus, führte bei der Sowjetführung zu grosser Irritation. Im Gegenzug weckte eine immer wieder als möglich erklärte Eingliederung ganz Deutschlands in den sowjetischen Macht- und Einflussbereich im Westen starke Abwehrreaktionen und förderte die Bildung der Bundesrepublik.13 Als Gegenstrategie zur angeblichen Gefahr einer sowjetischen Hegemonie in Deutschland kultivierte man in Moskau die These von aggressiven Plänen des Westens und der Gefahr eines neuen Weltkriegs.
Die Sowjetunion ging von einer Position der Stärke aus, die sich in einem Referat im September 1947, gehalten im polnischen Riesengebirge anlässlich einer internationalen Beratung, von Andrej Aleksandrovič Ždanov, dem Leiter des neu gegründeten Kominform,14 manifestierte: «Es muss immer im Auge behalten werden, dass zwischen dem Wunsch der Imperialisten, einen neuen Krieg zu provozieren, und der Möglichkeit, ihn zu organisieren, ein enormer Abstand besteht. Die Völker der Welt wollen keinen Krieg. Die Mächte, die den Frieden verteidigen, sind so gross, so einflussreich, dass die Pläne der Angreifer einen völligen Fehlschlag erleiden werden, wenn diese Mächte bei der Verteidigung des Friedens unerschütterlich bleiben und Entschlossenheit und Ausdauer zeigen.»15
Nach dem Beginn der Umsetzung des Marshall-Plans, durch welchen die vom amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman verfolgte Politik der Eindämmung («containment») des Kommunismus auch auf wirtschaftlicher Ebene konkretisiert wurde, kam Stalin zum Schluss, dass eine Situation entstanden sei, die keine Kooperation mehr zulasse. Diese bestand für ihn darin, dass sich nun zwei im Innern homogene, aber diametral unterschiedliche Strategien verfolgende Länderblöcke gegenüberstanden: auf der einen Seite der kapitalistisch ausgerichtete westliche Block, der von den USA dominiert, auf der anderen Seite der kommunistisch geprägte östliche Block, der von der Sowjetunion angeführt wurde. Stalins Lagebeurteilung erhielt im September 1947 ihre theoretische Verankerung in der von dem bereits erwähntenŽdanov erarbeiteten Doktrin der «Zwei Lager».
Beide Machtblöcke waren somit gleichermassen an der zuerst ideologischen und dann politischen Spaltung der Welt beteiligt. Das gegenseitige Misstrauen verhinderte jede Annäherung.
Angesichts einiger als kriegerisch empfundener Töne aus den USA16 sowie verschiedener auf Kriegsvorbereitungen hindeutender Entwicklungen im Westen17 ging die Kremlführung davon aus, dass die Amerikaner mit allen – also auch militärischen – Mitteln versuchen würden, die UdSSR zu eliminieren.
Die im Jahr 1949 gegründete Organisation des Nordatlantikvertrags (Nato) stand laut Mastny «in Moskaus öffentlichem und privatem Vokabular ganz deutlich als Symbol für die von der vereinigten Macht der kapitalistischen Nationen ausgehende Gefahr».18 Die Tatsache, dass man der Nato aggressive Absichten zuschrieb,19 bedeutete allerdings nicht, dass die sowjetische Führung dieses Bündnis als effektive Bedrohung wahrnahm.20 Ein freiwilliger Zusammenschluss gleich gesinnter kapitalistischer Staaten – worum es sich bei der Gründung der Nato ja tatsächlich handelte – passte nicht in das ideologische Bild. Stalin hielt die Nato dementsprechend für eine unter dem Druck der Vereinigten Staaten entstandene Zwangsallianz, deren Zweck in erster Linie darin bestand, «den USA zu helfen, den Kollaps des Kapitalismus abzuwenden».21
Diese Einschätzung führte dazu, dass der Kreml einerseits die internen Unstimmigkeiten der Nato ständig überschätzte und als Ausdruck der angeblich unüberbrückbaren Gegensätze zwischen ihren Mitgliedern interpretierte, und andererseits die Bereitschaft der Europäer, sich mehr im eigenen Interesse als auf Geheiss der Amerikaner hin zusammenzuschliessen, unterschätzte.22
Daran, dass sich Stalin durch die Nato nicht unmittelbar bedroht fühlte, scheint sich auch nichts geändert zu haben, als diese ab Ende 1950 die militärische Substanz erhielt, mit der sie sich von einer lediglich auf dem Papier bestehenden zu einer realen Allianz verwandelte. Das Augenmerk der sowjetischen Führung richtete sich jedenfalls weiterhin mehr auf die USA als auf deren europäische Verbündete. Einzig über die Entwicklung Westdeutschlands zeigte sie sich – je mehr die Verhandlungen über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) als Organisationsform für die deutsche Wiederbewaffnung voranschritten – wieder zunehmend ernsthaft beunruhigt.
2.2.2 Annahmen bezüglich der möglichen Angriffsarten des Gegners23
Die angeblich aggressiven strategischen Ziele der USA in Bezug auf die Sowjet-union definierten zusammen mit den zur Verfügung stehenden Kampfmitteln der Nato die Szenarien, mit welchen der sowjetische Generalstab rechnete.
Am wahrscheinlichsten erschien, dass die USA ein erstes ihrer Ziele – die Verhinderung des Aufbaus eines sowjetischen Nuklearwaffenpotentials – zu erreichen versuchten, und zwar in Form von Präventivschlägen gegen atomare Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen der UdSSR. Diese Möglichkeit wurde deshalb für die gefährlichste gehalten, weil man sich gegen die dabei zu erwartenden strategischen Luftangriffe nicht genügend geschützt fühlte. Als Gegenstrategie mit Abhaltewirkung behielt man sehr starke konventionelle Streitkräfte bei. Im Fall einer feindlichen Aggression drohte man mit dem Vorstoss der Armeen nach West-europa. Ob dieses «Geisel-Konzept» als Abschreckungspotential gegenüber den USA genügte, war umstritten.24
Von anderen vermeintlichen US-Zielen ging in den Augen der Moskauer Führung eine kleinere Gefahr aus: Das Einschränken des kommunistischen Einflusses auf das Gebiet der Sowjetunion bedeutete zwar im Klartext, dass man die sowjetisch orientierten Regimes in Osteuropa durch westlich ausgerichtete Regierungen ersetzen wollte. Dies war, so glaubte man, nur durch Militäraktionen von aussen zu erreichen. Gar nur durch einen umfassenden Krieg zwischen den beiden Lagern konnte aus sowjetischer Sicht der Wandel in der ideologischen Ausrichtung der UdSSR erzielt werden. Die schlimmste Form der denkbaren «kapitalistisch-imperialistischen» Aggression bildete im gefährlichsten Fall eine Kombination von Angriffen zu Lande, beispielsweise über die deutsche Ebene und durch den Balkan; zu Wasser mit Landungen an den Küsten des Baltikums und des Schwarzen Meeres im Rücken der Fronten; aus der Luft mittels konventionell und atomar bestückter Bomber insbesondere gegen das industrielle Kernland der Sowjetunion.
Beide Varianten, sowohl die militärische Intervention westlicher Kräfte in einem einzelnen Land des Ostblocks, vor allem in der DDR, als auch der umfassende Angriff des Westens gegen das kommunistische Lager insgesamt, wurden während der Herrschaft Stalins als eher unwahrscheinliche Szenarien angesehen.25 Die Tatsache, dass im Winter 1951/52 die sowjetischen Militärausgaben erheblich reduziert wurden, unterstützt diese These.26
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Stalins Antworten auf Handlungen des Westens vorwiegend defensiv und reaktiv waren. Militärisch relevant war jedoch eine markante Bestandeserhöhung der sowjetischen Truppen in der besetzten Zone Deutschlands. Noch nicht endgültig geklärt ist eine geheime Konferenz vom 9. bis 12. Januar 1951 in Moskau.27 An dieser Konferenz aller Verteidigungsminister der Volksdemokratien mit einer sowjetischen Delegation unter Stalin soll sich dieser zu einem Krieg entschlossen gezeigt haben, weil er ihn auf die Dauer als unvermeidlich gehalten habe. Generäle und Verbündete hätten mit aller Kraft noch bremsen können.
2.2.3 Annahmen bezüglich des Charakters eines zukünftigen Kriegs
Aus der westlich-kapitalistischen Aggression gegen die Sowjetunion beziehungsweise gegen Staaten in ihrem Machtbereich würde sich – so die sowjetische Auffassung – ein Weltkrieg entwickeln, der seinem politischen Charakter nach die entscheidende militärische Auseinandersetzung zwischen den beiden gegensätzlichen gesellschaftspolitischen Weltsystemen wäre.28 Zwei mächtige, unterschiedliche Klassen vertretende Staatenkoalitionen würden unter Einsatz von mehrere Millionen Mann starken Streitkräften sowie aller mobilisierbaren «wirtschaftlichen und moralischen Fähigkeiten»29 bis zur Vernichtung eines der beiden Gesellschaftssysteme kämpfen. Dementsprechend würde der Krieg mit äusserster Heftigkeit ausgetragen werden und würde lange dauern. Die Verluste an Menschen und Material wären riesig und die Zerstörungen weltweit unvorstellbar hoch. Als Sieger aus diesem Entscheidungskampf, der von Seiten des kapitalistischen Lagers ein ungerechter Eroberungskrieg und von Seiten des sozialistischen Lagers ein gerechter revolutionärer Befreiungskrieg wäre, würde letztlich – so lautete die auf der Theorie des historischen Materialismus basierende offizielle sowjetische Ansicht – gesetzmässig das kommunistische System hervorgehen.
Die Vorstellungen der sowjetischen Führung bezüglich des militärischen Charakters des zukünftigen Kriegs waren während der ganzen «Stalin-Phase» der Nachkriegszeit geprägt von der Erfahrung des «Grossen Vaterländischen Kriegs».30 Als kriegsentscheidend galten Stalins fünf «ständig wirkende Faktoren» (Stabilität und Sicherheit des Hinterlandes, Moral der Truppe und der Heimatfront, Qualität und Quantität der Grossverbände,31 Bewaffnung der Streitkräfte, Führungsfähigkeiten der Kommandanten und ihrer Stäbe). Diese widerspiegeln Stalins Vertrauen in die gewaltigen menschlichen und materiellen Ressourcen, die dem totalitären Regierungssystem zur Verfügung standen. Interessant ist, dass die für die militärische Entschlussfassung wichtigen Faktoren, wie Überraschung, Zeit, Raum, Bilden von Schwergewichten, Freiheit des Handelns usw., als zweitrangig eingestuft wurden, wahrscheinlich weil sie dem parteipolitischen Einfluss weitgehend entzogen waren.
Die Bedeutung von Einzelwaffen, speziell der Nuklearwaffen, in einem zukünftigen Krieg wurde demgegenüber – zumindest nach aussen hin – als relativ gering eingeschätzt. Anders als im Westen fand in der Sowjetunion keine offene Diskussion über die Wirkung von Nuklearwaffen sowie über die entsprechenden Folgen für die Kriegführung und den Charakter des Kriegs statt. Der Grund für die scheinbare Weigerung, den entscheidenden Einfluss der Atomwaffen auf die Kriegführung anzuerkennen, war wahrscheinlich nicht prinzipieller, sondern vielmehr technischer Natur: Die Sowjetunion besass bis 1949 keine Atomwaffen, und in den folgenden Jahren bis zu Stalins Tod im Jahr 1953 wies sie gegenüber den Vereinigten Staaten in diesem Bereich noch immer einen beträchtlichen Rückstand auf. In dieser Situation wäre die Betonung der Superwaffe des potentiellen Gegners sowie der Tatsache, dass die UdSSR über kein Mittel verfügte, um Nuklearschläge gegen ihr Territorium zu verhindern, einem Eingeständnis der Unterlegenheit gleichgekommen, was für Stalin nicht in Frage kam.
2.2.4 Strategische Ziele in einem zukünftigen Krieg32
Aufgrund der politischen Charakterisierung eines Kriegs als des entscheidenden Zusammenstosses zwischen dem kommunistischen und dem kapitalistischen System – die einschlägige Literatur ist meist unzureichend quellengestützt – darf vermutet werden, dass es vorwiegend galt, dieses Szenario mit allen Mitteln zu verhindern. Im Fall des Scheiterns dieses politischen Handelns lautete das militärische Minimalziel wahrscheinlich: diesen Krieg nicht zu verlieren und das sozialistische System zu erhalten. Das Maximalziel müsste logischerweise gelautet haben: das gesamte kapitalistische System zu zerschlagen. Da die Sowjetunion zu Stalins Zeiten jedoch nicht in der Lage war, mit den zur Verfügung stehenden Waffen die eigentliche «Bastion des Kapitalismus», die USA, anzugreifen, dürfte das zweite Teilziel in Wirklichkeit darin bestanden haben, wenigstens Westeuropa zu unterwerfen und zu sowjetisieren, das heisst, die unterjochten Völker zu ihrer Befreiung vom Kapitalismus anzuregen.33
2.2.5 Mittel und Methoden der Führung eines zukünftigen Kriegs34
Der Abbau der sowjetischen Streitkräfte, die sich ab dem März 1946 «Sowjetarmee» und nicht mehr «Rote Armee» nannten, wurde mit dem Demobilisierungsgesetz vom 23. Juni 1945 begonnen und dauerte rund zwei Jahre. Die Kriegsstärke von 11,3 Millionen Mann wurde auf 2,8 Millionen verringert,35 und viel Armeematerial wurde zivilen Bereichen zugewiesen. Die in verschiedenen Ländern – unter anderem in der Tschechoslowakei – stationierten Truppen wurden schrittweise abgezogen; zuletzt auch aus Nordkorea, als dort eine kommunistische Regierung die Macht übernommen hatte.
In den sowjetischen Besetzungszonen in Deutschland und Österreich wurden die Verbände reorganisiert. Das Schwergewicht der Bemühungen lag auf der «Gruppe der Sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland» (GSTD). An deren Spitze stand bis zum März 1946 der damals wohl bekannteste Marschall der Sowjetunion, Georgi K. Žukov.36 Diese Heeresgruppe umfasste rund 40 Divisionen. Der Primärauftrag war die Einhaltung der Bestimmungen des Potsdamer Abkommens, die Sicherung der Demarkationslinie und die Vertretung der militärpolitischen Interessen der Sowjetunion in Berlin. Unter ihrem Schutz begann der Aufbau eines «demokratischen Deutschland» nach sowjetischem Muster, was am 7. Oktober 1949 mit der Gründung der «Deutschen Demokratischen Republik» von Erfolg gekrönt war.
Sowjetische Truppen standen noch nach dem Friedensvertrag von 1947 in Ungarn zur Sicherung der Verbindungswege zu den in Österreich stationierten Besetzungstruppen.
Die Führung der sowjetischen Streitkräfte37 wurde in den ersten Nachkriegsjahren nicht nur in personeller, sondern auch in struktureller Hinsicht verändert.38 Es ist davon auszugehen, dass im Fall eines Kriegs die Führungsstrukturen und -organe nach dem aus dem Zweiten Weltkrieg bekannten Muster umgebaut worden wären. Es wäre wohl wieder ein oberstes Führungsgremium für das Land und die Streitkräfte geschaffen worden.
Die sowjetische Militärstrategie blieb bis zu Stalins Tod von den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs geprägt. Das beweist eine Fülle von Studien, Auswertungen und Ausbildungsunterlagen.39 Die Verhinderung eines zweiten «1941» wurde zum obersten Ziel der Kriegsbereitschaft. Besondere Beachtung erfuhr in den Kriegsauswertungen der Erfolg der «strategischen Angriffe» während der dritten Phase des «Grossen Vaterländischen Krieges».40 Der strategische Angriff, das Offensivprinzip, wurde wieder uneingeschränkt zur Hauptkampfform. Nach einer erfolgreichen und möglichst kurzen Verteidigung durch permanente Grenzschutzkräfte sollten die Angriffsoperationen der alarmierten Fronten in den wichtigsten Operationsrichtungen erfolgen.41
Die Kernaussage bestand darin, dass ein Aggressor auf dessen Territorium zerschlagen werden sollte.
In der Konfrontationszone mussten diese Angriffsoperationen zum Durchbruch durch die rasch bezogenen Verteidigungsstellungen des Angreifers, zur Umzingelung und Vernichtung der feindlichen Verbände bis zur vollständigen Zerschlagung des Aggressors führen.42
Nach Auffassung des U. S. Joint Intelligence Comittee wollte die Sowjetarmee innert zweier Monate bis zu den Pyrenäen vorstossen und erst noch genug Divisionen übrig haben, um etwas später auch Italien, Skandinavien, den Balkan und weite Teile Eurasiens zu erobern. Der britische Generalstab hatte jedoch Zweifel an der Richtigkeit der amerikanischen Einschätzungen. Er hat später indirekt recht bekommen, indem Chruščev in einer Rede im Januar 1960 angegeben hat, dass 1948 bloss 1,8 Millionen Mann zur Verfügung gestanden hätten.43 Von der Tagung im Januar 1951, an der Stalin angesichts der drohenden Niederlage der UNO-Truppen unter amerikanischer Führung in Korea angeblich Angriffsabsichten geäussert habe, haben wir bereits gesprochen. Die Kriegsdrohungen sind wahrscheinlich nur verbal zu verstehen.44