Kitabı oku: «Alle roten Pfeile kamen aus Osten - zu Recht?», sayfa 5
TEIL I: | Die marxistisch-leninistische Ideologie als Grundlage des Verhaltens des Ostblocks1 |
Matthias Wild |
1.1 Einleitende Bemerkungen
Der Einfluss des Marxismus-Leninismus auf das Wahrnehmen, das Beurteilen und das Handeln der Entscheidungsträger im Ostblock wurde von der westlichen Forschung teilweise unterschätzt.2 Es ist zwar eine Tatsache, dass die Ideologie im hier interessierenden Zeitraum 1945–1966 nicht mehr die gleich grosse Rolle spielte wie zu Lenins Zeiten; die politischen Entscheidungen waren nun zunehmend von Pragmatismus und Routine geprägt. Daraus zu folgern, die Ideologie sei irrelevant geworden und die sowjetische Aussenpolitik sei primär vom «nationalen Interesse» geleitet worden und ausschliesslich pragmatisch gewesen, ist jedoch falsch. Der Marxismus-Leninismus war in den Ländern des Ostblocks die Staatsideologie und – zumindest in der Sowjetunion – «the most cohesive moral force in […] society».3 Die Mitglieder des Politbüros der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, welche faktisch die über alle Angelegenheiten entscheidende Führungsgruppe darstellten, standen deshalb in der Pflicht, ihre Macht durch die korrekte Anwendung der Prinzipien des Marxismus-Leninismus in der Lösung aktueller Probleme zu rechtfertigen. Hätten sie dies nicht getan oder sogar öffentlich die Gültigkeit der Ideologie in Frage gestellt, hätten sie ihre eigene Legitimationsgrundlage untergraben. Die ideologischen Prinzipien bildeten für die Mitglieder der sowjetischen Führung somit «a framework or analytical prism through which they observe and interpret events».4 Der Einfluss der Ideologie konnte zwar von Fall zu Fall sehr unterschiedlich sein, insgesamt jedoch war sie stets von zentraler Bedeutung für die Gestaltung der Politik. Der aus der Tschechoslowakei stammende amerikanische Historiker Vojtech Mastny schreibt in diesem Zusammenhang: «Mit der Ausnahme von absichtlicher Irreführung aus taktischen Gründen gab es keinen grundsätzlichen Gegensatz zwischen dem, was die massgebenden Moskauer Politiker und ihre osteuropäischen Anhänger sagten, und dem, was sie glaubten. Beides war von denselben ideologischen Prinzipien abhängig; deshalb wurde das politische Handeln auch viel mehr von der marxistischen Doktrin (oder genauer gesagt: ihrer Version dieser Doktrin) bestimmt, als viele Leute im Westen zu glauben bereit waren. Das betrifft jedoch weniger die Zielsetzung als vielmehr die Denkweise, welche die sowjetische Betrachtung und Einschätzung der Aussenwelt und die Gestaltung der daraus folgenden Politik bestimmte. Das gilt in ganz besonderem Mass für das Militär, das die herrschende Ideologie ohne nennenswerte Vorbehalte verinnerlichte, viel mehr als für die von steigender Korruption gekennzeichnete politische Elite. Die sowjetischen Militärs waren bis zum Ende als kompromisslose Feinde des Westens die treusten Bewahrer des Sowjetsystems […].»5
Die Theorien der marxistisch-leninistischen Ideologie beeinflussten also in hohem Mass die sowjetische Politik, unter anderem die Militärpolitik. Gleichzeitig blieben diese Theorien ihrerseits nicht unbeeinflusst von der praktischen Wirklichkeit, in welcher sich die Sowjetunion innenpolitisch und aussenpolitisch befand. So kam es – ausgelöst zum Beispiel durch Neuerungen im Bereich der Technik – in der UdSSR regelmässig zu Anpassungen beziehungsweise Umdeutungen der ideologischen Doktrin.6 Dabei konnten zuvor «häretische» Thesen plötzlich zu «orthodoxen» Leitsätzen werden. Diese Veränderungen vollzogen sich stets abrupt, indem der Generalsekretär der KPdSU die neu gültige Doktrin offiziell verkündete. Eine öffentliche Debatte über die richtige ideologische Auslegung des entsprechenden Aspekts fand vorgängig nicht statt. Mit anderen Worten: Zu einem bestimmten Zeitpunkt hatte im ganzen Ostblock immer nur eine Auffassung Gültigkeit.
Im Folgenden soll die Entwicklung derjenigen Theorien der marxistischleninistischen Ideologie aufgezeigt werden, die für die militärpolitischen Entscheidungen in Bezug auf Westeuropa von 1945 bis 1966 prägend waren. Es geht dabei um die Theorien dieser Ideologie zum Verlauf der Weltgeschichte, zu Krieg und Frieden sowie zur Neutralität.
1.2 Die marxistisch-leninistische Auffassung von Geschichte
1.2.1 Die Theorie des historischen Materialismus
Die von Karl Marx und Friedrich Engels entwickelte Geschichtsauffassung beruht auf einem materialistischen Grundsatz: «Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.»7 Dieser Leitgedanke führte Marx und Engels zur Überzeugung, dass die gesamte Weltgeschichte als Geschichte der materiellen Verhältnisse der Gesellschaft zu verstehen sei.8 Was den historischen Prozess konkret vorantreibe, das sei der Widerspruch zwischen den Produktivkräften9 und den Produktionsverhältnissen.10 Zu diesem Widerspruch komme es, weil die Menschen die Produktivkräfte ständig fortentwickelten, um ihre immer neuen und zusätzlichen Bedürfnisse befriedigen zu können. Wenn die Produktionsverhältnisse nicht mehr der Entwicklung der Produktivkräfte entsprächen, komme es zu gesellschaftlichen Krisen und zu Kämpfen zwischen unterschiedlichen sozialen Klassen mit unterschiedlichen sozialen Interessen.11 Diese Kämpfe könnten zur Revolution führen, zur Ablösung der herrschenden – das heisst über die Produktionsmittel verfügenden – Klasse und zu neuen Produktionsverhältnissen.
Dieses Erklärungsmodell – die Theorie des historischen Materialismus – führte Marx und Engels zur Schlussfolgerung, dass die Geschichte der Menschheit eine Aufeinanderfolge «ökonomischer Gesellschaftsformationen»12 sei.13 Konkret durchlaufe die Menschheit folgende «Formationen»: die klassenlose Urgesellschaft; die antagonistischen Klassengesellschaften der Antike (Freie und Sklaven), des Mittelalters (Feudalherren und Leibeigene) und des neuzeitlichen Kapitalismus (Bourgeoisie und Proletariat); die sozialistische Gesellschaft sowie – als höchste und letzte Gesellschaftsform der Weltgeschichte – die klassenlose Gesellschaft des Kommunismus. Marx und Engels waren überzeugt davon, dass die kapitalistische Gesellschaftsordnung aus den ihr immanenten Bewegungsgesetzen zwangsläufig zusammenbrechen und durch die proletarische Revolution in eine sozialistische Gesellschaft umgewandelt werde; diese werde ihrerseits in der klassenlosen und damit in sich widerspruchsfreien kommunistischen Gesellschaft ihre Vollendung finden.
Der Theorie von Marx und Engels fügte Vladimir Il’ič Lenin Anfang des 20. Jahrhunderts – der ausbleibenden Revolution in den kapitalistischen Staaten14 und den rückständigen Verhältnissen in Russland Rechnung tragend – die Thesen von der «Partei neuen Typs» und von der «Diktatur des Proletariats» hinzu. Die erste These besagt, dass beim Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus der kommunistischen Partei eine entscheidende Rolle zukomme – als Partei von Berufsrevolutionären, welche das revolutionäre Bewusstsein von aussen in die Arbeiterklasse hineinzutragen habe und die nach erfolgreicher Revolution die Führung in der Entwicklung von der sozialistischen zur kommunistischen Gesellschaftsordnung innehabe.15 Die zweite These bezieht sich auf die Zeit nach erfolgter proletarischer Revolution: In der Übergangsperiode, die den Zeitraum vom Zusammenbruch der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung bis zum Eintritt der klassenlosen Gesellschaft umfasst, müsse die Arbeiterklasse – beziehungsweise ihre «Avantgarde», die kommunistische Partei – diktatorisch, das heisst, ohne an Gesetze gebunden zu sein, herrschen. Denn nur auf diese Art könne es gelingen, die Bourgeoisie endgültig zu eliminieren.16
Anders als Marx und Engels, die davon ausgingen, dass die sozialistische Revolution zuerst in den fortgeschrittensten kapitalistischen Gesellschaften stattfinden würde,17 behauptete Lenin zudem, im aktuellen – dem sogenannten «imperialistischen» – Stadium des Kapitalismus könne die sozialistische Revolution durchaus auch in schwächer entwickelten Ländern beginnen.18 Für Lenin war also nicht mehr ein bestimmter ökonomischer «Reifegrad» das entscheidende Kriterium für die Möglichkeit eines Umsturzes, sondern eine vorhandene «revolutionäre Situation» in der Gesellschaft.19 Auf diese Weise rechtfertigte Lenin die Durchführung der Revolution im feudalistisch-bäuerlich geprägten Russland. Sein Nachfolger, Iosif Vissarionovič Stalin, ging diesbezüglich noch einen Schritt weiter: In der Absicht aufzuzeigen, dass der Sowjetstaat trotz der ausgebliebenen Weltrevolution keine «isolierte Anomalie» darstelle, sondern voll und ganz in Übereinstimmung stehe mit den marxistisch-leninistischen Vorstellungen über den weltweiten Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus,20 schuf Stalin die Lehre vom «schwächsten Kettenglied». Diese besagt, dass im Zeitalter des Imperialismus «die einzelnen nationalen Wirtschaften […] sich in Glieder einer einheitlichen Kette, genannt Weltwirtschaft, verwandelt» hätten und dass «die Kette der imperialistischen Weltfront» zwangsläufig «dort reissen» müsse, «wo die Glieder der Kette am schwächsten» seien.21 Dabei könne «es sich erweisen […], dass das Land, das die Revolution begonnen hat, das Land, das die Front des Kapitals durchbrochen hat, kapitalistisch weniger entwickelt ist als andere entwickeltere Länder, die jedoch im Rahmen des Kapitalismus verblieben seien. Im Jahr 1917 erwies sich die Kette der imperialistischen Weltfront in Russland als schwächer denn in anderen Ländern. Dort riss sie auch und gab der proletarischen Revolution den Weg frei.»22
Abb. 9: Karl Marx. (Osteuropabibliothek, Zeitschrift Sowjetunion. Jahrgang 1961)
Abb. 10: Vladimir Il’ič Lenin. (Osteuropabibliothek, Zeitschrift Sowjetunion. Jahrgang 1962)
Den Sozialismus mit seiner «Diktatur des Proletariats» betrachtete Lenin als eine kurzfristige Übergangsphase.23 Dies erwies sich jedoch je länger, je mehr als Fehleinschätzung. Im Verlauf der 1960er-Jahre korrigierte die KPdSU deshalb ihre bisherige Haltung und «erkannte», dass der Sozialismus ebenfalls eine «relativ selbständige sozialökonomische Formation in der historischen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus im Weltmassstab» sei.24 Keine Änderungen gab es bezüglich der Einschätzung des Kommunismus. Er galt weiterhin als höchste Stufe in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und wurde definiert als «eine klassenlose Gesellschaftsordnung, in der die Produktionsmittel einheitliches Volkseigentum und sämtliche Mitglieder der Gesellschaft sozial völlig gleich sein werden, in der mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auf der Grundlage der ständig fortschreitenden Wissenschaft und Technik auch die Produktivkräfte wachsen und alle Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums voller fliessen werden und wo das grosse Prinzip herrschen wird: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Der Kommunismus ist eine hochorganisierte Gesellschaft freier arbeitender Menschen von hohem Bewusstsein, in der gesellschaftliche Selbstverwaltung bestehen wird, in der die Arbeit zum Wohle der Gesellschaft zum ersten Lebensbedürfnis für alle, zur bewusst gewordenen Notwendigkeit werden und jeder seine Fähigkeiten mit dem grössten Nutzen für das Volk anwenden wird.»25 Der Staat, der als «Herrschaftsapparat zur systematischen Ausübung der Diktatur einer bestimmten Klasse über andere Klassen» entstanden sei, verschwinde beim Übergang zum Kommunismus und werde ersetzt durch die gesellschaftliche Selbstverwaltung.26
Zusammenfassend lässt sich somit festhalten: Marx und Engels sowie ihre Anhänger gingen von der Grundannahme aus, dass für den Verlauf der Geschichte letztlich immer die wirtschaftliche Entwicklung ausschlaggebend sei. Von dieser Grundannahme leiteten sie die These ab, dass sämtliche menschlichen Gesellschaften dazu bestimmt seien, kommunistisch zu werden; und sie vertraten die Ansicht, dass diese Tatsache zu begrüssen sei.
1.2.2 Die Theorie von der allgemeinen Krise des Kapitalismus
Von besonderer Bedeutung für die marxistisch-leninistische Einschätzung der Nachkriegsentwicklungen war die Theorie von der allgemeinen Krise des Kapitalismus. Diese basierte im Allgemeinen auf der von Marx formulierten These, dass es durch den Grundwiderspruch des Kapitalismus – den Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privaten Form der Aneignung – zu tiefgreifenden periodischen Wirtschaftskrisen, Kriegen und Klassenkämpfen komme,27 sowie im Speziellen auf Lenins Imperialismustheorie:28 Lenin behauptete, dass der Kapitalismus um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in sein höchstes und letztes Stadium eingetreten sei – in das Stadium des Imperialismus. Dieses sei gekennzeichnet durch die Entstehung von Monopolen, durch die in Politik und Wirtschaft führende Rolle von Grossbanken sowie durch internationale Kartelle und koloniale Ausbeutung. Durch den Imperialismus gerate der Kapitalismus in eine allgemeine Krise; er werde zum «parasitären, verfaulenden»,29 «sterbenden»30 Kapitalismus am «Vorabend der sozialistischen Revolution».31 Seine Ablösung durch den Sozialismus und den Kommunismus werde notwendig und unvermeidlich.
Allerdings kam es trotz Krisen und Kriegen nicht zum erwarteten raschen Untergang des Kapitalismus. Dieser Entwicklung trug die KPdSU zu Beginn der 1960er-Jahre Rechnung: Sie passte die Theorie von der allgemeinen Krise des Kapitalismus an die Realität an. Die offizielle Doktrin lautete nun, dass die Krise des Kapitalismus beziehungsweise der Übergang zum Kommunismus eine Periode von längerer Dauer sei und in drei Etappen unterteilt werden könne:32
Die erste Etappe der allgemeinen Krise des Kapitalismus habe begonnen mit der Entfesselung des Ersten Weltkriegs durch die imperialistischen Länder. Durch die Oktoberrevolution habe der Kapitalismus aufgehört, das einzige und allumfassende sozial-ökonomische Weltsystem zu sein; der Kampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus sei zum «Hauptinhalt der Weltgeschichte» geworden. Der «revolutionäre Kampf der Arbeiterklasse» in den kapitalistischen Ländern habe einen stürmischen Aufschwung erlebt, worauf die «imperialistische Bourgeoisie» mit härtesten Gewaltmassnahmen gegenüber den Werktätigen reagiert und in einzelnen Ländern faschistische Regimes errichtet habe. Die aggressivsten Gruppen der «Monopolbourgeoisie» hätten durch Anwendung nackter Gewalt, vor allem in Form eines neuen Weltkriegs, einen Ausweg aus der Krise zu finden versucht.
Die zweite Etappe der allgemeinen Krise des Kapitalismus habe begonnen im Verlauf des Zweiten Weltkriegs und sich fortgesetzt mit den sozialistischen Revolutionen in einer Reihe von Ländern Europas und Asiens.33 Diese Etappe sei durch vier Merkmale charakterisiert gewesen: 1. das Abfallen mehrerer Länder Europas und Asiens vom Kapitalismus und die Verwandlung des Sozialismus in ein Weltsystem; 2. den fortschreitenden Zerfall des imperialistischen Kolonialsystems; 3. das Heranwachsen neuer Widersprüche zwischen Staaten des imperialistischen Lagers, vor allem aufgrund des amerikanischen Imperialismus und seines Kampfes um die Weltherrschaft; 4. die weitere Vertiefung und Erweiterung der Klassenantagonismen in den kapitalistischen Ländern. Die Imperialisten hätten sich mit diesen historischen Veränderungen nicht abgefunden: «Unmittelbar nach Kriegsende begannen sie eine fieberhafte Aufrüstung, um ein neues Weltgemetzel vorzubereiten, und sie entfesselten den kalten Krieg34 gegen die Länder des Sozialismus. Die zweite Etappe der allgemeinen Krise des Kapitalismus war durch die verstärkte Aggressivität des Imperialismus, durch die Verschärfung der die Welt bedrohenden Kriegsgefahr gekennzeichnet.»35
Im November 1960 kamen die Vertreter der kommunistischen Parteien zum Schluss, dass in der Entwicklung der allgemeinen Krise des Kapitalismus eine neue, dritte Etappe begonnen habe. Diese Etappe, welche im Gegensatz zu den beiden früheren Etappen nicht im Zusammenhang mit einem Weltkrieg entstanden sei, sei gekennzeichnet durch das beschleunigte Hinüberwachsen des «Monopolkapitalismus» in den «staatsmonopolistischen Kapitalismus».36 Am deutlichsten zum Ausdruck komme der staatsmonopolistische Kapitalismus in der Politik der «kapitalistischen Integration», welche «gigantische staatsmonopolistische Vereinigungen» wie die Montanunion, Euratom, EWG und EFTA hervorgebracht habe. Diese seien – im Unterschied zu gewöhnlichen internationalen Kartellen privater Monopole – das Resultat einer Übereinkunft zwischen Regierungen; dahinter stünden jedoch ebenfalls die Interessen und der Wille der Finanzoligarchie: «Der ‹Gemeinsame Markt› – das ist das ‹Europa der Trusts›, die moderne Form der Neuaufteilung der Märkte zwischen den grössten Monopolen.»37 Die so entstandenen internationalen staatsmonopolistischen Vereinigungen seien ein Mittel der Imperialisten zur Unterdrückung der demokratischen Bewegungen, der Arbeiterbewegungen sowie – mittels einer Politik des «Neokolonialismus» – der nationalen Befreiungsbewegungen. Initiiert worden sei die kapitalistische Integration von den USA, welche auf diese Weise versuchen würden, das «Vereinigte Europa» in das «Fahrwasser» ihrer aggressiven Politik gegen die sozialistischen Länder zu bringen und so ihre führende Rolle in der kapitalistischen Welt abzusichern. Untrennbar mit dem Staatsmonopolismus verbunden seien die Militarisierung der Wirtschaft sowie die Aufrüstung und der Ausbau der Militär- und Polizeifunktionen, was langfristig auf die Erschöpfung der Volkswirtschaft hinauslaufe. Dies ziehe eine Reduktion der Staatsausgaben für soziale und kulturelle Zwecke nach sich und führe zur «Aufpeitschung des Chauvinismus». Alle diese Erscheinungen würden Lenins Voraussagen über die zunehmende «Fäulnis» des Kapitalismus in seinem letzten Stadium38 bestätigen. Und auch wenn die kapitalistische Wirtschaft in einzelnen Fällen trotz ihrer «Fäulnis» weiterwachse, so sei der Prozess der fortschreitenden Veränderung des Kräfteverhältnisses zu Gunsten des sozialistischen Lagers dennoch nicht aufzuhalten. Die «gegenwärtige Epoche» wurde dementsprechend charakterisiert als eine Epoche, in welcher «der Imperialismus […] in das Stadium seines Niedergangs und Untergangs eingetreten» sei, als «eine Epoche der Revolutionen» sowie «des Übergangs immer neuer Völker zum Sozialismus und des endgültigen Sieges von Sozialismus und Kommunismus auf der ganzen Welt».39
Zusammenfassend lässt sich somit festhalten: In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg galt im Ostblock die Meinung, dass der Kapitalismus sich in seinem Endstadium befinde und der Übergang zum Sozialismus in kurzer beziehungsweise absehbarer Zeit bevorstehe.
1.3 Die marxistisch-leninistischen Ansichten bezüglich Krieg und Frieden
Derjenige Aspekt des Marxismus-Leninismus, welcher das Verhalten des Ostblocks in militärischer Hinsicht hauptsächlich und direkt beeinflusste, war dessen Kriegsund Friedenslehre. Aufgrund der Wichtigkeit dieses Zusammenhangs werden die entsprechenden Ansichten im Folgenden ausführlich dargestellt.
1.3.1 Die Ansichten bezüglich Krieg
In diesem Unterkapitel soll die Entwicklung der kommunistischen Kriegstheorie von Marx bis Brežnev aufgezeigt werden. Um die Veränderungen und Kontinuitäten herausarbeiten zu können, sind die zu einer bestimmten Zeit gültigen Ansichten in Bezug auf Krieg systematisch hinsichtlich folgender Teilaspekte untersucht worden:
– die Ansichten über die Ursachen (1), die Funktionen (2) und die (Aus-)Wirkungen (3) von Krieg
– die grundsätzliche Einstellung zum Krieg: Sind alle Kriege schlecht beziehungsweise ungerecht? Oder gibt es auch gute, gerechte Kriege? (4)
– die Haltung zum Akt der Aggression, das heisst zum Beginnen eines Kriegs (5)
– die Ansichten über die Voraussetzungen für das Beginnen eines Kriegs durch Kommunisten (6)
– die Ansichten über die Möglichkeit, den Sozialismus auf friedlichem, evolutionärem Wege zu erreichen (7)
– die Ansichten über die Faktoren, die über Sieg und Niederlage in einem Krieg entscheiden (8)
– die Ansichten über das Ausmass beziehungsweise die Form der Austragung eines Kriegs (9)
– die Ansichten über die Voraussetzungen für die Beendigung eines Kriegs (10)
– die Ansichten über die Möglichkeit der gänzlichen Abschaffung beziehungsweise Vermeidung von Krieg (11)
1.3.1.1 Marx’ und Engels’ Kriegsverständnis
(1) Wie sämtliche gesellschaftlichen Erscheinungen erklärten Marx und Engels auch das Phänomen «Krieg» anhand ihrer Theorie des historischen Materialismus.40 Sie gingen beim Aufzeigen der Kriegsursachen also von der materiellen, ökonomischen Grundlage des sozialen Lebens aus, das heisst von der sogenannten «Produktionsweise» mit den beiden Elementen «Produktivkräfte» und «Produktionsverhältnisse»: Wenn – so Marx und Engels – die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse nicht mehr übereinstimmten, verschärften sich die Widersprüche zwischen den sozialen Klassen, von denen die einen durch ihre Interessen mit den alten, die anderen aber mit den heranreifenden neuen Produktionsverhältnissen verbunden seien; die wachsenden Klassengegensätze führten dann zwangsläufig zu Krisen und Kriegen. Diese Vorstellung fassten Marx und Engels wie folgt zusammen: «Alle Kollisionen der Geschichte haben […] nach unsrer Auffassung ihren Ursprung in dem Widerspruch zwischen den Produktivkräften und der Verkehrsform.»41 Generell lässt sich festhalten: Marx und Engels sahen den Grund – den alleinigen Grund – für Krieg in der Existenz eines Klassensystems, das heisst einer Gesellschaft, in welcher es eine «Ausbeuterklasse» und eine «ausgebeutete Klasse» gibt.
Im konkreten Fall der kapitalistischen Gesellschaftsform führten Marx und Engels die Entstehung von Krieg letztlich auf die Grundlage der kapitalistischen Produktionsverhältnisse zurück, nämlich auf die Vorherrschaft des privaten Eigentums über die gesamten Produktionsmittel. Diese habe die Ausbildung eines immer schärferen Gegensatzes zwischen zwei antagonistischen Klassen ermöglicht: der «Ausbeuterklasse» der Kapitalisten, die wegen ihrer Kontrolle über die Produktionsmittel auch immer die herrschende Klasse bildeten, sowie der «ausgebeuteten Klasse» der Lohnarbeiter, welche zwar persönlich frei, jedoch der Produktionsmittel beraubt und deshalb gezwungen seien, ihre Arbeitskraft zu verkaufen.
(2) Marx und Engels hielten grundsätzlich sowohl die «ausbeutende» wie auch die «ausgebeutete» Klasse für fähig, einen Krieg zu beginnen. Allerdings würden die beiden Klassen mit einem solchen Schritt komplett unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen:42 Für die «Ausbeuterklasse» der Kapitalisten, die als herrschende Klasse den Staatsapparat und damit auch die Armee kontrolliere, stelle Krieg ein Instrument zur Besitz- und Herrschaftssicherung dar. So würden die Kapitalisten immer dann einen Krieg entfesseln, wenn sie sich davon wirtschaftliche Vorteile – beispielsweise grössere Märkte für ihre Industrien oder Zugang zu billigen Arbeitskräften und Rohstoffen – und/oder politischen Machtzuwachs versprächen. Solche Kriege würden logischerweise meistens von unabhängigen souveränen Staaten geführt und verfolgten den konkreten Zweck der territorialen Vergrösserung, der Plünderung und/oder der Befriedigung von dynastischen Ambitionen.43 Marx und Engels sahen allerdings nicht nur diesen direkten Nutzen, den die Kapitalisten angeblich aus einem Krieg zogen. Sie wiesen darauf hin, dass die «Ausbeuterklasse» zusätzlich von der blossen Existenz des Phänomens «Krieg» profitiere: Solange es nämlich den Krieg als Erscheinung gebe, müssten Armeen unterhalten werden, und diese könnten von der herrschenden «Bourgeoisie» in Friedenszeiten dafür eingesetzt werden, die eigenen Arbeiter niederzuhalten. Eine ganz andere Funktion als für die «Ausbeuterklasse» erfüllt Krieg gemäss Marx und Engels für die «ausgebeutete Klasse»: Für diese stelle Krieg ein Mittel zum Sturz der kapitalistischen Klassenherrschaft und zur Errichtung der sozialistischen Ordnung dar.
Als Quintessenz des eben Gesagten lässt sich festhalten, dass Krieg aus der Sicht von Marx und Engels ein Mittel zur Durchsetzung der Interessen und Ziele einer bestimmten Klasse ist. Dabei ist anzumerken, dass Krieg für Marx und Engels nur eines von mehreren Mitteln darstellt, welche eine Klasse anwenden kann, um ihre Ziele zu erreichen. Andere – gewaltlose – Mittel stellen beispielsweise Drohungen, Bestechung oder aber Zugeständnisse dar.44
(3) Marx und Engels sahen sowohl negative als auch positive Auswirkungen von Krieg. Als wichtigstes Negativum vermerkten sie, dass Kriege riesigen materiellen Schaden sowie schreckliches Elend und Leiden verursachten.45 Gerade das «Proletariat» und die Bauernschaft seien davon besonders stark betroffen. Wegen der Verbesserungen in der Militärtechnologie, welche um die Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt hätten, würden zukünftige Kriege sogar noch wesentlich blutiger und grausamer sein als die bisherigen. Als weiteren negativen Punkt führten Marx und Engels an, dass die meisten Kriege weitere Kriege nach sich zögen. Dies sei deshalb der Fall, weil die im ersten Konflikt unterlegene Partei früher oder später versuchen würde, gewaltsam die Verhältnisse wieder zu ihren Gunsten zu verändern.
Als positive Auswirkung von Krieg registrierten Marx und Engels demgegenüber die mögliche Beschleunigung des revolutionären Prozesses in Richtung Kommunismus:46 Marx und Engels hatten festgestellt, dass jeder Krieg den gesellschaftlichen Strukturen der beteiligten Länder einen gewissen Druck auferlegte und den Niedergang sowie die Ablösung insbesondere von veralteten wirtschaftlichen und politischen Ordnungen fördern konnte.47 Selbst die aus einem Krieg siegreich hervorgegangenen Gesellschaften waren davon betroffen; die besiegten umso stärker. Diese Erkenntnis hatte Marx und Engels auf die These von der revolutionsfördernden Wirkung von Krieg gebracht: Jeder Krieg – auch ein von der «Ausbeuterklasse» geführter – könne unter Umständen den historischen Prozess in Richtung Kommunismus vorantreiben.48 Eine solche Beschleunigung des revolutionären Prozesses war aus marxistischer Sicht natürlich zu begrüssen. Marx und Engels hegten zeit ihres Lebens hinsichtlich jeder kriegerischen Auseinandersetzung die Hoffnung, sie werde den revolutionären Prozess beschleunigen.
(4) Marx’ und Engels’ Auffassung, die Funktion von Krieg bestehe darin, die von einer Klasse verfolgten Ziele durchzusetzen, sowie ihre These von der revolutionsfördernden Wirkung von Krieg bildeten die Grundlage für ihre Einstellung zum Krieg:49 Obwohl Marx und Engels den Krieg angesichts seiner negativen Begleiterscheinungen und Folgen grundsätzlich für ein Übel hielten,50 lehnten sie ihn – im Unterschied zu den Pazifisten – nicht prinzipiell ab. Sie hiessen einen Krieg immer dann gut und hofften auf seinen Ausbruch, wenn sie der Meinung waren, er sei für die Sache des Kommunismus förderlich. Wenn sie jedoch das Gefühl hatten, ein Krieg diene lediglich den Interessen der «Ausbeuterklasse», dann lehnten sie diesen Krieg ab und setzten sich für die Wahrung des Friedens ein. War ein Krieg einmal ausgebrochen, unterstützten Marx und Engels logischerweise jene Kriegspartei, von deren Sieg sie sich den grössten Nutzen für die kommunistische Sache versprachen. Doch wie fanden sie heraus, welche Kriegspartei dies war?
In gewissen Fällen lag es natürlich auf der Hand, wem die Unterstützung der Marxisten zuteil werden musste. So konnte eine benachteiligte oder unterdrückte Bevölkerungsgruppe eines Landes, welche gegen die betreffende herrschende Schicht kämpfte und dabei aus marxistischer Perspektive progressive Ziele verfolgte, sich des Beistands der Marxisten sicher sein.51 Dies war beispielsweise bei Bürgerkriegen, die zwischen einer «ausgebeuteten Klasse» und einer «Ausbeuterklasse» geführt wurden, der Fall. Als weiteres Beispiel können nationale Freiheitskriege angeführt werden, das heisst Kriege zwischen Nationen, welche staatliche Unabhängigkeit anstrebten, und bestehenden Staaten. Hier sympathisierten Marx und Engels meistens mit den nationalen Freiheitskämpfern. Dies deshalb, weil der Aufbau von starken, zentralistischen Nationalstaaten – und folglich der Untergang der im 19. Jahrhundert noch zahlreich bestehenden, auf feudalen Strukturen basierenden Vielvölkerstaaten und Kleinstaaten – aus marxistischer Sicht eine fortschrittliche Entwicklung darstellte. Generell galt nämlich die Auffassung, dass der Kommunismus nur in Nationalstaaten erreicht werden konnte. Die meisten der erwähnten Bürgerkriege sowie der nationalen Freiheitskriege waren für Marx und Engels also eindeutig gute Kriege. Dabei ist anzufügen, dass die beiden Vordenker des Kommunismus selbst nie die Bezeichnung «gut» verwendeten, sondern diverse andere Ausdrücke – darunter «legitim», «gerecht» und «progressiv».52
Den eindeutig guten Kriegen standen die eindeutig schlechten Kriege gegenüber – von Marx und Engels unter anderem als «illegitim», «ungerecht» und «reaktionär» bezeichnet.53 Schlechte Kriege waren für die Marxisten diejenigen Kriege, bei denen sowohl die Ziele der Kriegsparteien als auch die Wirkung des Kriegs im marxistischen Sinn schlecht waren, das heisst Kriege, die nicht der Sache des Kommunismus, sondern bloss den Interessen der «Ausbeuterklasse» dienten. Dazu zählten die meisten jener Kriege, die territoriale Vergrösserung, Plünderung oder Befriedigung von dynastischen Ambitionen zum Ziel hatten, insbesondere Kolonialkriege. Derartige Kriege lehnten die Marxisten grundsätzlich ab.
Neben den eindeutig guten und den eindeutig schlechten Kriegen gab es auch Kriege, die von Marx und Engels als teilweise gut und teilweise schlecht charakterisiert wurden. Zu dieser Gruppe gehörten vor allem solche Kriege, in denen sämtliche Kriegsparteien der herrschenden Schicht angehörten; konkret also entweder Kriege zwischen den «Ausbeuterklassen» mehrerer Staaten (internationale Kriege) oder Kriege zwischen verschiedenen Gruppen der «Ausbeuterklasse» eines Staates (Bürgerkriege). In diesen Fällen waren die Ziele der Kriegsparteien aus marxistischer Sicht schlecht, da der «Ausbeuterklasse» nützend und damit nicht «fortschrittlich». Die Wirkung solcher Kriege konnte für die Sache des Kommunismus jedoch sehr wohl gut sein, nämlich dann, wenn die Kriege Entwicklungen auslösten, die in marxistischem Sinn progressiv waren. Durfte von einem Krieg derartige Wirkung erwartet werden, dann hiessen Marx und Engels ihn gut, und ihre Unterstützung galt logischerweise derjenigen Seite, von deren Sieg sie sich die grösste «progressive» Wirkung versprachen. Welche Seite dies war, konnten sie oft erst nach einer genauen Analyse der Politik der am Krieg teilnehmenden Parteien sowie der möglichen Folgen des Kriegs entscheiden.