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Michael Schumacher und Malaysian Air 370: Überleben als Signatur der Gegenwart
Auch der Tod hat seine Geschichte. Das gilt bisher nicht für den Tod als die dem menschlichen Leben – wie dem Leben in jeder biologischen Gattung – gesetzte Grenze, auch wenn die machtvolle Verschiebung des durchschnittlichen Sterbealters über die vergangenen Jahrzehnte Stimmen geweckt hat, die dazu aufrufen, den Tod nicht mehr als unumgänglich hinzunehmen. Geschichte aber hat der Tod schon immer aufgrund der möglicherweise nur den Menschen gegebenen Möglichkeit gehabt, ihn in der Imagination als individuelles oder kollektives Ende vorwegzunehmen und sich auf die dabei entstehenden Visionen einzustellen. Zu dieser »Geschichte des Todes« hat sich eine mittlerweile unter Historikern gängige These herausgebildet, nach der immer dann ein kollektiver Blick auf den Tod dominiert, wenn er als Übergang »zwischen« dem irdischen und einem anderen, transzendenten Leben gesehen wird, während an den als absolute Grenze erfahrenen Tod, den Tod »im« Leben« ohne Transzendenz, eher eine individuelle Sicht gebunden ist.
Spuren dieser beiden grundsätzlichen Formen des Verhältnisses zum Tod lassen sich – durchaus ungleich verteilt – in vielen Epochen der verschiedenen Kulturen entdecken, doch für die inzwischen zur »globalen« Lebensnorm gewordene westliche Tradition markiert die Zeit um 1900 einen besonders dramatischen Einschnitt. Seit jenen Jahren galt es in vielen Gesellschaften – mit lange wachsender Tendenz – nicht mehr als ausgemacht, dass auf das Erdenleben ein Leben in anderen Sphären folgen würde, was sehr bald zu einer deutlichen Faszination durch den individuell perspektivierten »Tod im Leben«, durch den Tod als absolute Grenze führte. Unter gebildeten Lesern damals weltweit erfolgreiche Bücher, zum Beispiel Miguel de Unamunos »Del sentimiento trágico de la vida«. (1912) oder Martin Heideggers »Sein und Zeit«. (1927) belegen jene geschichtliche Bewegung, indem sie der Gegenwart des Todes (aus jeweils anderen Gründen) eine zentrale Stellung innerhalb der menschlichen Existenz einräumen. Zugleich erfreuten sich im frühen zwanzigsten Jahrhundert solche Sportarten besonderer Beliebtheit, deren Regeln eine Konfrontation individueller Athleten mit der unmittelbaren Bedrohung durch den Tod inszenieren, wie zum Beispiel Bergsteigen, Boxen, der Stierkampf und auch die über verschiedene Distanzen führenden Langläufe. Seither freilich hat sich die Geschichte des Todes nicht so eindimensional auf der Ebene der Individualität weiterentwickelt, wie man das einst erwartete. Um die Tendenz – halb ironisch – im Bild eines Laufwettbewerbs zu beschreiben: Der Tod als Übergang und die ihn begleitende kollektive Perspektive haben in den vergangenen Jahrzehnten »aufgeholt«, ohne den Tod im Leben und den individuellen Blick ganz an den Rand zu drängen.
Vielleicht gehört es zur historischen Signatur des Todes in der Gegenwart unseres frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts, dass diese beiden Formen der Erfahrung und der Reflexion sich heute ohne deutliche Spannung oder Konkurrenz gegenüberstehen. Wenn wir uns auf zwei Situationen konzentrieren, welche derzeit weltweit die Öffentlichkeit faszinieren, auf die Agonie des großen Formel-I-Rennfahrers Michael Schumacher (die noch mit seiner Rückkehr ins bewusste Leben enden könnte) und auf das Verschwinden von Malaysian Airlines Flug 370 aus der Reichweite der institutionalisierten technischen Beobachtung, dann mag ein weiteres Element in den Vordergrund treten, das die beiden gegenwärtigen Erfahrungsformen des Todes verbindet.
Noch vor wenigen Jahren hätte eine derart gravierende Hirnverletzung, wie sie Schumacher vor drei Monaten erlitt, keinerlei Hoffnung auf Heilung gelassen. Neben den fortgeschrittensten chirurgischen Methoden eröffnet aber neuerdings eine temporäre Herabsetzung der Körpertemperatur genau diese Perspektive. Aus dem bloßen, rein vegetativen und eben perspektivenlosen Überleben ist – zumindest für Patienten mit schier unbegrenzten finanziellen Ressourcen – ein langfristiges Über-Leben als potentieller Heilungsprozess geworden. Medizinische Fortschritte mit dieser Funktion nähren in der distanzierten Beobachter-Sicht aber auch eine ganz andere, eher halbbewusste Hoffnung. Das ist Hoffnung, dass sich die direkte, individuell»jemeinige«. (wie Heidegger sagte) Konfrontation mit dem Tod als unvermeidlichem und absolutem Ende in eine vage bleibende, aber zugleich immer entfernter erscheinende Zukunft verwandeln könne. Anders formuliert: Eine neue Modalität des Überlebens wird wie ein Schritt auf dem Weg zu individueller Unsterblichkeit und säkularer Ewigkeit erlebt.
Der entscheidende Assoziationshorizont für den von seiner vorausberechneten Route abgekommenen Flug der Malaysian Airlines hat sich schon seit den sogenannten Materialschlachten des Ersten Weltkriegs entwickelt. Er ist beherrscht von der Furcht, dass technologische Systeme, welche das Leben der Menschheit immer spürbarer umgeben, durchdringen und auch ermöglichen, zu ihrer Auslöschung benutzt werden und im Falle von Funktionsstörungen auch zu ihrer von niemandem beabsichtigten Auslöschung führen könnten. Aus den religiösen Vorstellungen vom »Ende der Welt« ist die Furcht vor den potentiellen Folgen der menschengeschaffenen Technik geworden, welche mit der Furcht vor ebenfalls technologiebedingten, aber deutlicher ökologischen Visionen wie »Global Warming«, fortschreitender demographischer Expansion oder der Erschöpfung lebensnotwendiger Rohstoffe konvergiert.
Noch nie wohl ist das Leben der Menschheit so deutlich und in so vielfältigen Perspektiven wie heute als Kampf um das Überleben erfahren worden. In ihrer Konvergenz aber werfen die neuen individuellen Überlebens-Hoffnungen und die neuen kollektiven Überlebens-Bedrohungen Fragen auf, wie sie bis heute nur selten mit einer ihrer existentiellen Bedeutung entsprechenden Deutlichkeit formuliert werden. So sehr sind wir vom Über-Leben und seinen Herausforderungen auf kollektiver wie individueller Ebene fasziniert, dass die Frage nach dem guten Leben, die Frage nach jenen Formen der Existenz verschwunden ist, welche alle dem Überleben geltenden Bemühungen doch eigentlich erst lohnend machen können. Derzeit wollen wir anscheinend deshalb – oder jedenfalls: deshalb vor allem – überleben, weil wir uns den Gedanken an ein Ende der Menschheit oder, was tatsächlich die noch größere Herausforderung ist, den »jemeinigen« Gedanken an den eigenen Tod ersparen wollen. »Ethik«, so wie sie heute von Philosophen entwickelt und von erstaunlich breiten Gesellschaftsschichten mit obsessiver Konsequenz kultiviert wird, zielt bloß auf Regelwerke zur Vermeidung von Spannungen, Konflikten und Frustrationen. Kühne Visionen des guten Lebens hingegen – wie zum Beispiel der marxistische Traum von der »klassenlosen« sozialen Welt oder der romantische Traum von der Rückkehr zur »Authentizität« einer idealen Vergangenheit – gehören nicht mehr zu unserer Gegenwart und ihrer Ethik. Erstaunlicherweise arbeiten wir nicht einmal an der konkreteren und realistischeren Vision eines guten Lebens unter Bedingungen, welche das Überleben der Menschheit auf Dauer stellen könnte. Immer geht es nur um die Vermeidung oder um das Herausschieben des Endes, nie um die Qualität des Lebens davor.
Hat uns die Überlebensobsession blind gemacht für jene Sehnsucht nach Glück am Horizont des bloß physischen Lebens, welche erst das Überleben lebenswert macht? Liegt zum Beispiel ein Glückspotential in der elektronischen Technologie, ein Potential, das nicht einfach nur zu immer größerer Abhängigkeit führt? Das immer intensiver gewordene Betonen der Frage nach den notwendigen Bedingungen vor allem des kollektiven, aber auch des individuellen Überlebens scheint die Möglichkeit – ja die Wahrscheinlichkeit – einzuklammern, dass mit dieser Frage die Fähigkeiten der menschlichen Intelligenz überfordert sein könnten. Davon aber auszugehen, dass es zwischen dem Potential der menschlichen Intelligenz und den zentralen Herausforderungen unserer Zukunft eine Symmetriebeziehung geben müsse, wirkt heute wie ein Restbestand aus längst säkularisierten religiösen Kosmologien.
Vielleicht ist ja schon das bloße Überleben eine Vorstellung vom Leben, deren verdeckter utopischer Anspruch uns grundsätzlich überfordert.
Schicksal – gibt es das noch?
»Schicksal« gehört nicht zu den intellektuell ernstgenommenen Begriffen unserer Zeit, und im Prinzip ist das seit dem achtzehnten Jahrhundert schon immer so gewesen. Denn die verschiedenen Positionen und Variationen der Aufklärung laufen ja in dem Selbstanspruch zusammen, dass Menschen individuell wie kollektiv die Gestalt und die Zukunft ihres Lebens in die eigene Verantwortung nehmen – und wenn man diesen Schritt mit den Worten »sein Schicksal in die Hand nehmen« beschreibt, wird auch sichtbar, wie eindeutig das Wort »Schicksal« immer mit »Fremdbestimmtheit«, meist sogar mit Fremdbestimmtheit und negativen Folgen, assoziiert war. Auf Englisch ist es möglich, in diesem Sinn – noch klarer – zu sagen, dass »fate« das Gegenteil von »agency« ist, eben die Gegenposition zum Anspruch der Selbstbestimmung und Selbstbildung.
Natürlich waren auch die alleroptimistischsten Aufklärer nicht blauäugig genug, um davon zu träumen, dass Menschen je alle fremdbestimmten Beeinträchtigungen oder Unfälle von sich fernhalten könnten. Auf freiem Feld stehend von einem Blitz getroffen zu werden, das blieb auch nach dem achtzehnten Jahrhundert eine realistische Befürchtung. Aber vielleicht ist es ja auf der anderen Seite nicht nur eine ironisch-intellektuelle Schreckreaktion, wenn man sich daran erinnert, dass jener Blitz, der in Friedrich Hölderlins Gedicht »Wie wenn am Feirtage« einen Dichter auf dem Feld trifft, für etwas Positives steht, nämlich für die Kraft der Inspiration (auch wenn sie unser Leben versengt) – und dass Benjamin Franklin, ein Aufklärer, den Blitzableiter erfand.
So extrem ist der – den Begriff des »Schicksals« auf permanente Distanz setzende – aufklärerische Ehrgeiz der Selbstbestimmung inzwischen geworden, dass es den meisten von uns Zeitgenossen des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts recht ist, selbst die individuelle und kollektive Verantwortung für Katastrophen oder apokalyptische Menschheitsbedrohungen zu übernehmen, um sie nur nicht als Folgen eines Versagens der Technik oder als Auswirkung eines Naturereignisses (etwa eines Vulkanausbruchs) sehen zu müssen. Deshalb sucht die Ursachenaufklärung bei Flugzeugabstürzen stets und fast obsessiv nach Anzeichen für »menschliches Versagen«, so wie es uns politisch wichtig ist, »global warming« als einen Prozess in den Blick zu bringen, der von Menschen ausgelöst wurde und von Menschen hätte neutralisiert werden können – wenn wir ihn nur als Gefahr rechtzeitig ernst genommen hätten. Keinen Gedanken – nicht einmal den konkreten Gedanken an das zugleich evolutionäre und historische Ende der Menschheitsgattung – halten wir für unerträglicher als den Gedanken an das Schicksal im Sinn unvermeidbarer und unumkehrbarer Fremdbestimmtheit.
Vielleicht ist ja die nun schon seit einigen Jahrzehnten anhaltende Beliebtheit von »Kontingenz« als existentieller und historischer Modalität Symptom für eine vorbewusste Konzession in dieser Hinsicht. »Kontingent« heißen Phänomene, die wir weder als »unmöglich« ausschließen noch als »notwendig« außermenschlichen Prinzipien und Entwicklungen zuschreiben wollen. Was wir »kontingent« nennen, das kann nicht dem aufklärerisch-narzisstischen Vorzeichen des Selbstbestimmten unterstellt, muss aber auch nicht als fremdbestimmt interpretiert werden. Niemand ist für das Kontingente verantwortlich.
Doch trotz all dieser Diskurse und zur Institution gewordenen Vorurteile – es klingt nun seit einiger Zeit schon nicht mehr ganz so verheißungsvoll wie einst, wenn einer, von »Kontingenz« ausgehend, gleich zu sprechen kommt auf Mechanismen der »Kontingenz-Bewältigung«, durch die das zunächst weder Fremdnoch Selbstbestimmte am Ende der Selbstbestimmung unterworfen werden soll. Durch Versicherungen zum Beispiel (und in noch komplexerer Weise durch Rückversicherungen) wollten und wollen wir immer wieder – historisch gesehen: nicht zufällig gerade seit dem Zeitalter der Aufklärung – »in die menschliche Hand nehmen«, was ihr zunächst entkommen zu sein schien. Doch während Versicherungen als Kontingenzbewältigungs-Maschinen heute größere Gewinne abwerfen mögen als je zuvor, scheint die intellektuelle Aura des Kontingenz-Begriffs verblasst – so dass man heute wieder erstaunlich oft ironische, witzig gemeinte und manchmal sogar ganz ernsthafte Anspielungen auf die Dimension des Schicksals hört. Diese beginnende Verschiebung in unseren Reaktionen auf Fremdbestimmtsein nimmt selbst dem meist schwerfälligen Pathos etwas von seiner Peinlichkeit, mit dem Martin Heidegger durch sein gesamtes philosophisches Werk hindurch den Begriff des Schicksals in verschiedenen Zusammenhängen verwendet hat: früh schon, in dem 1927 veröffentlichten Hauptwerk »Sein und Zeit«, wo er vom Tod als Schicksal der individuellen Existenz schreibt, dem wir uns »entschlossen« und »offenen Auges« aussetzen sollen; später dann und mit wachsender (aber nie definitiver) Klarheit in der Charakterisierung von »Wahrheitsereignissen« als Momenten der »Selbstentbergung des Seins« – wo sich Dinge dem Dasein perspektivenlos, in ihrer Absolutheit also, zeigen sollen, um als Schicksal das Dasein zu überwältigen und in eine existentielle Richtung zu »schicken«. (die implizite Unterstellung eines wortgeschichtlichen Zusammenhangs zwischen »Schicksal« und »schicken« ist übrigens – wie Spekulationen dieser Art meistens bei Heidegger – einfach falsch). Doch wie der »Blitz« in Hölderlins Gedicht und wie eben auch Heideggers »Selbstentbergung des Seins« haben literarische und philosophische Darstellungen, die das Schicksal in einem und dann immer überwältigenden Moment kondensieren, ihre eigene – ästhetische – Aura und Verführung, die es uns ermöglicht, das aller Selbstbestimmung entgegenstehende Überwältigtwerden in eigene heroische Größe umzumünzen und so zu genießen.
Eine andere bildliche und begriffliche Darstellungstradition hingegen wirkt (auf mich zumindest) vergleichsweise gnadenlos und sowohl philosophisch als auch existentiell produktiver. Die stoischen Philosophen der späteren Antike haben Schicksal als series causarum (als Reihe oder als Verknüpfung von Gründen) beschrieben, und zum allegorischen Bild der griechischen Moiren oder der römischen Parzen als Schicksalsgöttinnen (die ursprünglich Geburtsgöttinnen waren) gehören eine Spindel, aus der das Garn des Lebens läuft, und das in dieses Garn eingewebte Schicksalsmuster. Anders als der Blitz oder die Epiphanie des Seins, die uns Menschen zu im doppelten Sinn des Worts »reinen« Opfern machen, so dass wir uns keine Verantwortung zuschreiben müssen und deshalb von Schuld ganz frei sind, gehören zum Schicksal als »Serie von Gründen« oder als »Lebensgarn« durchaus Momente, Entscheidungen und Akte, die wir als unsere eigenen sehen können und müssen, für die wir selbst verantwortlich sind. Sie kreuzen sich, sie sind »verwoben« mit äußerlichen, fremdbestimmten Momenten und fremdbestimmenden Ereignissen, welche die negativen Folgen und die Schuld selbstbestimmter Akte oft so intensivieren, dass sie irreversibel werden: unumkehrbares Schicksal und am Ende nicht mehr aufzuhebende Schuld, die eigene Verantwortung wächst ins Monströse.
Wenn wir uns erst einmal in solchen series causarum verfangen haben, gefällt es uns oft – denn es wirkt wie eine erleichternde Übertreibung –, über sie als eben unumkehrbares (und ohnehin: unverdientes) Schicksal zu klagen – weil uns eine solche Selbstsicht von Verantwortung oder Schuld zu erlösen verspricht. Bei allen Forderungen nach Selbstbestimmung ist es aber auch klar, dass wir Selbstbestimmung ohne weiteres drangeben, wenn uns eine Umkehr ins Gegenteil Entlastung verschafft. Das sind die Augenblicke, in denen wir entdecken, dass die Moiren und die Parzen heimlich schon das Garn um unseren Hals geschlungen und begonnen haben, es enger zu ziehen, wie bei einer von Michael Corleone ausgedachten Mafia-Exekution.
Für meine Kontamination des antiken Mythos mit dem Hollywood-Mythos bitte ich den gebildeten Leser um Entschuldigung. Nicht zu weit vom Berliner Pergamon-Altar hat sie, die Kontamination, mir geholfen, meinen bleiernen Tag zu verweben mit dem Schmerz eines pazifischen Morgens.
»Gott ist tot.« – Was können wir mit Nietzsches Feststellung heute anfangen?
Ich versuche, Notizen von zwei Seminarsitzungen und einem Kolloquium über den Begriff »Vitality« in eine argumentative Ordnung zu bringen, die sich in noch vagen Zügen anzubieten scheint. Dabei geht es nicht primär um eine historische Rekonstruktion der von Nietzsche intendierten Bedeutung – und ebensowenig um die philosophiegeschichtliche Auslegung eines auf Nietzsche bezogenen, 1951 zuerst veröffentlichten Essays von Martin Heidegger, aus dessen Perspektive wir den Satz »Gott ist tot.« erörtert haben. Interessiert bin ich an der (von Heideggers Text ermutigten) Intuition, dass es eine Bedeutung geben könnte, durch die Nietzsches Satz eine Gültigkeit in unserer Gegenwart bewahrt. In einer Gegenwart erstens, die es für Intellektuelle wieder akzeptabler macht als im späten neunzehnten und im zwanzigsten Jahrhundert, mit der Existenz eines Gottes zu rechnen; in meiner amerikanischen Gegenwart zweitens, wo (habe ich einmal gelesen) über neunzig Prozent der Mitbürger damit rechnen, dass es einen persönlichen Gott gibt, der sie liebt.
Nietzsche hat sich auf denselben Sachverhalt, den er im Satz von Gottes Tod anvisiert, wohl auch mit der Formulierung vom »Nihilismus« bezogen, der sich »wie eine Wüste ausgedehnt« habe und weiter ausdehne. Das Wort »Nihilismus« bezeichnet dabei eine Form der menschlichen Existenz, die nicht mit einer den Menschen übergeordneten, für sie »transzendentalen«, zum Beispiel von Göttern bewohnten Sphäre rechnet. Unter dieser Voraussetzung könnten wir, so sah es Heidegger, den sonst in unserer intellektuellen Tradition meist positiv gesehenen Prozess der Neuzeit, einschließlich der Aufklärung, dessen zentrale Dynamik die Dynamik der »Säkularisierung« war, als fortschreitende »Ausdehnung des Nihilismus« identifizieren.
Säkularisierung aber ist nichts anderes als die Umschreibung von Eigenschaften und Funktionen der Götter auf die Menschen: Anstelle der von Gott geoffenbarten Tafel-Gebote aus dem Alten Testament treten eine neue Moral und Gesetzbücher, deren Legitimität darin liegt, dass ihre Orientierungen von der Mehrheit der Betroffenen akzeptiert und getragen werden; im neuzeitlichen Begriff von »Geschichte« verstehen sich die Menschen als Agenten einer permanenten (nicht selten als zielgerichtet aufgefassten) Veränderung der Welt, welche ein von Gott oder von den Göttern verhängtes Schicksal ersetzen soll; ein den Normen und Gesetzen entsprechendes Leben soll durch Erfolg und Sicherheit im Diesseits belohnt werden, nicht mehr durch ein himmlisches Leben nach dem Tod. Dies sind nur einige Beispiele aus der Vielfalt von Figuren der Säkularisierung.
Nietzsche deutete die ihm auffällige Tendenz seiner Zeitgenossen, nach »Werten« zu suchen, als eine Reaktion auf den Prozess der Säkularisierung (auf die Ausdehnung der Wüste des Nihilismus) und auf sein Endergebnis. Denn mit der fortschreitenden Absorption der Gegenstände des Glaubens und mit ihrer Überschreibung auf die Menschen waren jene höheren Orientierungen verschwunden, an denen das Leben früher selbstverständlich ausgerichtet war.
Während des vergangenen halben Jahrhunderts haben sich – oft auf Veränderungen im Alltag reagierend – philosophische Positionen herausgebildet, in denen der Prozess der Säkularisierung und die Ausdehnung des Nihilismus zu einem logisch nicht mehr überbietbaren Höhepunkt und Ende gekommen sind. Das ist zum einen die vom Begriff »Linguistic Turn« markierte Überzeugung, dass mit den Horizonten der menschengemachten Sprache auch die Grenzen des für Menschen erreichbaren Wissens vorgegeben seien; das ist zum zweiten der »Konstruktivismus« als intellektuelle und auch praktische Anwendung der These, dass sich hinter viel (oder hinter allem) von dem, was wir für »Tatsachen« halten, »soziale Konstruktionen von Wirklichkeit« verbergen. Doch selbst in unserer (ganz wörtlich: vollkommen) säkularisierten Welt kann man sich dazu entschließen, an Gott zu glauben – und es ist sogar denkbar, dass solcher Glaube gerade durch die Vollendung der Säkularisierung wieder wahrscheinlicher und plausibler geworden ist (etwa weil nun keine existentielle Energie mehr in den Prozess der Säkularisierung zu investieren ist). Nur gehören solche Entscheidungen, an Gott zu glauben, in die Sphäre des Privaten, sie setzen die Existenz Gottes nicht mehr – wie es vor dem Beginn der Säkularisierung der Fall gewesen war – im Sinn derselben Wirklichkeit voraus, zu der man etwa die Natur oder die Politik oder den Sex gerechnet hatte. So gesehen bleibt Gott tot (und Nietzsches Feststellung zutreffend), selbst wenn viele unserer Zeitgenossen – privat – zu ihm zurückgekehrt sind.
Ein besonders eklatanter Fall dieses spannungsfreien Nebeneinanders zwischen privatem Glauben an Gott und seinem Verschwinden als transzendentaler Prämisse des Alltagslebens ist die amerikanische Gesellschaft. Dort gehört zu einer demographischen Minderheit, die man fast als »Splittergruppe« charakterisieren muss, wer privat nicht an Gott glaubt; doch auf der anderen Seite mussten die zwei Wörter under God vor wenigen Jahren aus dem Fahneneid (one Nation, under God) gestrichen werden, weil er zur Dimension des Öffentlichen gehört.
Bleibt die Frage, ob die konsequente Säkularisierung und Privatisierung des Gottesglaubens einen Verlust zur Folge hat, den wir spüren, ohne ihn im gegebenen Zusammenhang noch zu verstehen. Heidegger folgt hier Nietzsche, der statt der Suche nach Werten als erster Reaktion zum Tod Gottes auf die Bereitschaft und auf das Bedürfnis der Menschen hoffte, sich vom »Leben« durchdringen und stärken zu lassen. Impliziert ist dabei offenbar, dass uns mit der Privatisierung des Glaubens an Gott eine Quelle existentieller Energie verlorengegangen sei. Welcher Begriff von »Leben« kann aber nun an dieser Stelle alle (zunächst einmal ja durchaus berechtigten) Bedenken abblocken, dass man sich mit dem Setzen auf »Leben« in die Nähe faschistischer Ideologien begibt? Welcher Begriff von »Leben« kann darüber hinaus eine inspirierende Perspektive auf neue Formen der menschlichen Existenz eröffnen? Hier bringt Heidegger Nietzsches Konzept des »Willens zur Macht« ins Spiel. Mit ihm sei nicht die kleine persönliche Gier nach Macht gemeint, sondern eine vor-subjektive Lebendigkeit, ein vor-subjektiver »Wille«, dessen Haupttendenzen Steigerung und Erhaltung seiner selbst sein sollen. Dieser »Wille zur Macht« müsste als außerhalb der menschlichen Existenz liegende Kraft dann offenbar den Ort des ins Private abgedrängten transzendentalen Gottes einnehmen (und ist vielleicht ähnlich wie der »Wille« bei Schopenhauer vorzustellen, das heißt als eine Energie, welche jeglicher Veränderung zugrunde liegen soll).
So kommen wir bei der Frage an, ob es genug sei, sich mit »Gelassenheit«, wie Heidegger wohl betont hätte, dafür zu öffnen, von dem so verstandenen Willen zur Macht durchdrungen zu werden. Eine erste Antwort bezog sich auf Hannah Arendts Buch von der »Human Condition« und auf seine Kritik an einer (faschistischen, aber auch kommunistischen) Verherrlichung des »Lebens an sich«. »Leben an sich«, so Arendt, werde immer nur im Zusammenhang mit der Arbeit als Energiequelle verbraucht. Aktives Leben (und wir können ergänzen: aktives Leben in Abwesenheit eines transzendentalen Gottes) hingegen beginne mit dem individuellen Streben, solche Energie umzusetzen in individuelle Formen. Und Formen entstehen allein unter der Bereitschaft, andere als die gewählte Möglichkeit auszuschließen, sie nicht zu realisieren. Im intellektuellen Leben hieße das zum Beispiel, auf provozierende Thesen zu setzen statt auf die Bemühung, alles zu wissen; im Alltag der Berufe müsste die wahrzunehmende Konsistenz eines jeweiligen Verhaltensstils über die immer beliebige Anpassung an vorgegebene Traditionen und Institutionen dominieren. Als mittelbare Folge von »Gottes Tod« erschiene also an unserem Horizont eine Ästhetik der Existenz.
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