Kitabı oku: «Turmstraße 4», sayfa 3
»Freilich, Martha. Ich hab das schon immer ausgesprochen feig gefunden, wenn Erwachsene sich an den wehrlosen Kleinen vergreifen. Außerdem sind die eh so leicht zu lenken, wenn sie Zuwendung und Liebe spüren.«
»Ein Kind erziehen, muss was Schönes sein, weil man selber wieder irgendwie zum Kind wird! Und es verbindet die Eltern noch einmal, und es gibt dem Leben einen echten Inhalt und ein Ziel. Dabei bedeutet für viele Menschen ein Kind nur Arbeit und Belastung. Aber für uns wird’s ein Grund sein, dass wir uns miteinander freuen! Sogar den Sorgen und Entbehrungen, die wir vielleicht deswegen haben, werden wir schöne Seiten abgewinnen, und es wird uns noch mehr zusammenschweißen.«
Martha bedachte in diesem Augenblick freilich nicht die schrecklichen Lebensbedingungen, mit denen die gegenwärtige – ach so schöne – gesellschaftliche »Ordnung« viele Eltern und Kinder konfrontierte und die im Volk weit verbreitete Geringschätzung von Bildung und Wissen, die zu den schlechten Beziehungen innerhalb der Familien beitrug. Kinder waren allzu oft unerwünscht wegen der erbärmlichen Umstände, in denen zu leben die Eltern gezwungen waren. Aber weder Martha noch Karl dachten in dieser Stunde an die raue Wirklichkeit. Sie hatten die Arbeitslosigkeit und das Elend verdrängt, und wenn sie doch einmal daran dachten, dann wirkte das alles so fern und unwirklich und schien kein echtes Hindernis darzustellen für ihre Liebe und ihr Streben nach Glück.
An diesem Tag, in diesen wenigen Stunden, ließen die beiden ihren trostlosen, von Mangel und Not geprägten Alltag vollständig hinter sich und genossen den Augenblick der Seligkeit und den Traum von ihrer strahlenden Zukunft.
Die Zeit verging und der Abend kam. Die tief stehende Sonne sandte nur noch vereinzelte Strahlen zwischen den Stämmen der Bäume und Sträucher hindurch zu den Liebenden. Diese waren einander nach und nach näher gekommen, versanken mitunter in wortlose Träumereien und vergaßen die große Welt immer mehr, die irgendwo, fernab von ihnen, lärmte und sich weiterdrehte mit ihren kleinen und großen Schmerzen, Ungerechtigkeiten und Banalitäten. Schon wurde es dunkel um Martha und Karl, die sich immer noch eng umschlungen in ihrer Zuflucht verbargen.
Ihre Münder flüsterten schmeichelnde und kosende Worte, tauschten Liebesschwüre aus und bekräftigten diese mit heißen Küssen. Dazwischen herrschte oft über längere Zeit Stille, während der sie gegenseitig dem Pochen ihrer Herzen lauschten. Unterdrückte, kaum beherrschbare Leidenschaft ließ ihren Atem schwer werden und die Nähe des jeweils anderen verwirrte ihre Sinne. Begierig sog Karl die Wohlgerüche des weiblichen Körpers ein. Sehnsucht, ein neuartiges Verlangen und eine unerklärliche Angst ließen Martha erschauern.
»Karl!«, flehte sie flüsternd. »Wir sollten jetzt gehen!«
»Nein Martha! Noch nicht! Zwei liebende Herzen, weit weg von all den anderen Menschen – ist das nicht wunderschön?«
»Karl! Mir ist ein bissl bang! Ich weiß nicht …«
»Wovor fürchtest dich, Schatz?« Und nach einem tiefen Seufzer setzte er nach: »Martha, ich kann nicht weggehen, bevor wir uns nicht vollständig gehören!«
»Nein, Liebling! Nicht vor der Hochzeit! Und schon gar nicht da, es könnt ja wer kommen!«, widersprach Martha schwach.
Karl blieb beharrlich. »Martha, meine Angebetete«, drang er in sie, »jetzt zeig mir, dass du mich gern hast! Du brauchst keine Angst haben, hierher verirrt sich niemand. Außerdem würden wir den schon lang vorher hören.«
Mit diesen Worten zog er sie an sich und küsste sie auf ihren Mund mit einer Leidenschaft, deren Glut ihr Blut derart erhitzte, dass sich durch die heftige Erregung in ihren bebenden Atem seufzende Laute mischten. Karl, berauscht vom brennenden Wunsch sie zu besitzen, war sich plötzlich seiner Worte so sicher wie nie zuvor und brach mit der unüberwindlichen Kraft der Überzeugung ihren Widerstand, sodass sie sich schließlich hingab.
Den Heimweg legte das junge Paar überwiegend in Stille zurück, beider Brust erfüllt von diesem großen Ereignis, ihre Mienen getragen von feierlichem Ernst.
Der Abend dieses wunderbaren Sonntags hielt für Karl schließlich noch Schmerzliches bereit. Müde hatte er sich bald von seiner noch erschöpfteren Geliebten und deren Mutter verabschiedet. Gerade als er vom ersten Stock in den zweiten stieg, waren Schreie des Entsetzens, aufgeregte Stimmen und hektisches Wirrwarr zu vernehmen. Türen fielen krachend ins Schloss, hysterisches Kreischen erschallte.
Karl beschleunigte seine Schritte die Stufen aufwärts. Frauen, Männer und Kinder hatten ein Ziel: das oberste Geschoß. Auf der schmalen Treppe herrschte reges Gedränge.
Karl erblickte seinen Vater und rief ihn an: »Warum rennen die alle so – und wohin?«
»Ein Unglück ist geschehen!«, antwortete der und lief weiter.
Karl folgte ihm, einem Impuls der Neugier gehorchend. Im vierten Stock angekommen, konnte er zunächst weder selbst etwas erkennen noch auf anderem Wege das Geringste in Erfahrung bringen. Eine dichte Menschenmenge drängte sich im hinteren Teil des Ganges zusammen. Schreien, Stoßen, Nachfragen. Es roch nach Leuchtgas. Immer noch strömten die Menschen aus den unteren Etagen herauf. Bald war Karl völlig eingekesselt. Jetzt schämte er sich, blind seiner Sensationslust gefolgt zu sein.
Da erschien der Kugelkopf der Hausmeisterin. Mit ihrer Autorität bahnte sie sich einen Weg durch das Menschengewimmel. Und schließlich erfuhr auch Karl den Grund der allgemeinen Aufregung.
In Wohnung Nummer 53 lebte bei Familie Capka ein alter Arbeiter, Peter Müller, als Untermieter. Am Samstag war er gleichzeitig mit Karls Vater aus der Fabrik entlassen worden. Der alleinstehende Alte hasste und fürchtete das Elend der Arbeitslosigkeit so sehr, dass er sich das Leben genommen hatte. Er hatte auf einen Moment gewartet, in dem die Familie außer Haus und er alleine in der Wohnung war. Die Capkas fanden ihn später tot neben seinem Sessel. Die Wohnung war voll des giftigen Gases, alle Ritzen an der Tür und den Fenstern waren sorgfältig verstopft worden.
Niedergeschlagen ging Karl in seine Wohnung. Auch seine Angehörigen, die alle in den vierten Stock gelaufen waren, kamen bald erhitzt und tief betroffen zurück.
Das Gesicht des Vaters zeigte schmerzliche Trauer und seine Stimme zitterte merklich, als er sagte: »Der arme Kerl! So viele Jahre waren wir Arbeitskollegen. So ein End hat er sich nicht verdient. Ein ganzes Leben schuftet man und verbraucht seine ganze Kraft, und dann sind es nur der Strick oder das Gas, die einen vor Elend und Hunger bewahren. Es ist eine furchtbare Welt!«
Die schönen Bilder des Tages verblassten in Karls Erinnerung, und wieder erschien ihm alles trostlos und deprimierend. Der gnadenlose graue Alltag lag ihm schwer auf der Brust. Ein Rundblick durch die enge Wohnung mit den schäbigen Möbeln, die auch das letzte bisschen freien Raum beanspruchten, schmerzte ihn. Allerhand Gewand hing auf Haken an den Wänden, weil der einzige Kasten zu klein und für einen weiteren kein Platz war. Den nahmen größtenteils die zwei riesigen Bettgestelle ein, deren eines den Eltern, das andere ihm und seinem Bruder gehörte. Anna schlief auf einer faltbaren Liege, die untertags in einer Ecke stand. In einem anderen Winkel befand sich ein weiteres Klappbett, das früher Erna und Heinrich als Ruheplatz gedient hatte. An einer Wand, die stumm, aber deutlich nach frischem Anstrich schrie, hingen ein blinder Spiegel und einige Bilder, von denen eines die Eltern in jungen Jahren zeigte, während auf den anderen verschiedene Heilige zu sehen waren. Als Karl ein kleiner Bub gewesen war, hatte die Mutter jeden Abend gemeinsam mit den Kindern vor diesen Bildern zu Gott und den Heiligen gebetet. Aber im ausweglosen Elend war vor langem schon die fruchtlose Frömmigkeit der Familie erfroren.
»Diese Hunde!« Jäh unterbrach Antons laute, angriffslustige Stimme Karls düstere Gedanken. »Habt ihr das heut in der Zeitung gelesen, dass in Amerika Getreide vernichtet wird? Mit Weizen werden dort Schweine gefüttert und Lokomotiven geheizt, weil sonst wegen der Überproduktion die Preise fallen würden! Und bei uns sind letzte Woche Brot und Mehl teurer geworden!«
»In Amerika hungern ja auch Millionen! Das hab ich vor ein paar Tagen gelesen«, brachte sich Anna aus der Küche ein, deren Türe wie üblich offen stand.
»Zerstückeln sollte man diese Gauner, die in Zeiten wie diesen mit vollgefressenen Bäuchen aus Profitgier Lebensmittel vernichten!«, rief die Mutter aufgeregt.
»Was für ein herrliches Dasein«, murrte der Vater. »Die Fruchtbarkeit der Erde ist für manche Leut ein Unsegen, und mitten im größten Überfluss fehlt vielen Menschen das Allernotwendigste! Ehrlich, das Leben ist nimmer lebenswert. Ich beneid den alten Müller. Der hat’s hinter sich, der ist draußen aus der Irrenanstalt, die man Welt nennt.«
Karl schüttelte geistesabwesend den Kopf. Nein, sterben wollte er trotz allem ganz sicher nicht! Er hatte ja seine Martha, und es warteten im Leben noch viele glückliche Stunden auf ihn. Für immer konnten die Umstände nicht so schlimm bleiben. Er interessierte sich genauso wenig für Politik wie der Großteil der Arbeiter, die in indolenter Resignation ihr freudloses Dasein ertrugen. Aber er hatte dennoch vom Kampf der Arbeiterklasse gegen die Ausbeutung durch das Kapital gehört, über die sozialistische Bewegung, die eine Veränderung der Welt anstrebte, und er hegte die vage Hoffnung, dass irgendetwas passieren könnte, was dem herrschenden Elend ein Ende setzte.
Er malte sich die Zukunft nun wieder schöner aus. Er dachte an das eheliche Zusammenleben mit seiner Angebeteten und an die Freuden als Vater von geliebten Kindern, die einst um ihn herumtollen würden. Unter ihren Liebkosungen würde sich seine Müdigkeit verflüchtigen, wenn er von einem anstrengenden Arbeitstag heimkäme. Er sah sich in einer hellen, einfachen, aber gemütlich eingerichteten Wohnung in einem der modernen Bauten, wie sie die Gemeinde Wien laufend errichtete. Im Kreise seiner Familie würde er jeden Sonntag Ausflüge machen und die Schönheit der Natur genießen, im Sommer wandern, im Winter Skifahren oder auf dem weichen Schnee rodeln gehen. Tiefes Mitleid mit seinen Eltern und Geschwistern, deren trostloses, sorgenvolles Alltagsgrau nicht durch solch heilsame Hoffnungen erhellt wurde, überkam ihn. Und er verspürte den lebhaften Drang, ihnen etwas Aufmunterndes, etwas Tröstliches zu sagen, aber so sehr er auch nach passenden Worten suchte – er fand keine und blieb still.
3
Die Tage verstrichen einer wie der andere bei Familie Weber: freudlos und eintönig. Draußen zog der Frühling vorbei, mit blauem Himmel und dann und wann mit Leben spendendem Regen, der aber, wenn er in langen, nassen Schnüren vom Himmel fiel, alles noch trister und farbloser erscheinen ließ. Herr Weber war immer wieder auf Arbeitsämtern anzutreffen, wo er ehrenamtlich in der Gewerkschaftssektion mithalf und Beitragsmarken klebte. Hin und wieder spazierte er durch die Straßen, plauderte mit ebenfalls arbeitslosen Freunden und ehemaligen Kollegen, oder er fuhr mit der Tramway zum Stadtrand, von wo er zu Fuß in den Wald ging, um seiner neuen Leidenschaft zu frönen: dem Schwammerlsuchen. Dabei lief er trotz seines Alters so rastlos zwischen den Bäumen bergauf und bergab, dass sich nur selten jemand fand, ihn zu begleiten.
Die meiste Zeit saß er aber zu Hause, wo er ein aus der Bezirks-Arbeiterbibliothek geliehenes Buch nach dem anderen verschlang. Und jeden Morgen studierte er sorgfältig die Zeitung, neben den Nachrichten auch die Stellenangebote, deren es leider nur wenige gab – die Annoncen von Arbeitssuchenden waren deutlich in der Mehrzahl.
Er war nie ein Freund vieler Worte gewesen, aber seit seiner Entlassung zeigte er sich überaus schweigsam. Er sprach selten und dann nur über den schlimmsten Schicksalsschlag seines Lebens: die Arbeitslosigkeit. Nachts redete er oft im Traum und gestikulierte wild mit den Armen, zum Leidwesen seiner Frau, die neben ihm im gemeinsamen Bett lag. Sein Kummer verfolgte ihn mit höhnenden Albträumen bis in den Schlaf. Einmal stand er bei seinen geliebten Maschinen, die ihm allerdings entglitten, sobald er sie zu berühren versuchte. Schließlich flohen sie vor ihm in wildem Galopp. Ein andermal war er im Laufschritt zu seinem Arbeitsplatz unterwegs, der aber unauffindbar blieb. Er rannte durch alle Straßen, sah die gewaltigen Schlote der Fabrik in der Ferne, konnte sie jedoch nicht erreichen, welche Richtung auch immer er einschlug. Wenn er dann morgens schweißgebadet aus solcher Pein erwachte – der alte Wecker in seinem Kopf, der ihn Tag für Tag pünktlich um halb sechs aus dem Bett gerufen hatte, funktionierte noch einwandfrei –, stand er sofort auf, wusch sich und schlüpfte in sein Gewand, als würde er sich zum Weggehen fertig machen. Doch dann setzte er sich für gewöhnlich ans Fenster und beobachtete die Frauen und Männer, die auf ihrem Weg zur Arbeit unten an ihm vorbeiliefen.
Hin und wieder fragte jemand: »Geh, Vaterl, warum bleibst nicht im Bett? Wozu stehst so zeitig auf?«
»Ich kann nimmer liegen«, gab er dann meist zurück. »Ich hab das vierzig Jahre so gemacht und kann jetzt nicht anders.«
Seine Frau versuchte bald im Guten, bald im Bösen, ihn von dieser Gewohnheit abzubringen. Anton verwünschte ihn jedes Mal halblaut, wenn er von unnötigen Geräuschen geweckt wurde, und Anna murmelte etwas von Rücksichtslosigkeit und Kaprizen eines alten Dickschädels, wenn er viel zu früh am Morgen an ihrer Klappliege anstieß. Einzig Karl blieb ruhig. Sein Herz zog sich in bitterem Schmerz zusammen, wenn er sah, wie sehr der Vater litt.
Arbeitslosigkeit wirkt sich auch auf Körper und Geist eines jungen Menschen fatal aus, bei einem älteren jedoch beschleunigt sie den Prozess des Niedergangs. Der alte Weber verfiel zusehends. Es war erschütternd zu beobachten, wie dieser kräftige Arbeitsmann mit dem entschlossenen Gesichtsausdruck oft gedankenverloren dasaß und mit den Fingern auf die Tischplatte trommelte, nicht wissend, was er mit seinen Händen anfangen sollte. Dabei starrte er mit gequälter Miene vor sich hin, während sich in seinen dunklen Augen eine verzweifelte Frage spiegelte. Nach Wochen erfolgloser Stellensuche war er schließlich überzeugt, nie wieder Arbeit zu finden und zu ungewollter Untätigkeit verdammt zu sein. Wenn er so den Untergang der ganzen Familie bis hin zum Verlust der Wohnung in Riesenschritten auf sich zukommen sah, sanken die dichten Brauen über seinen großen Augen zusammen, seine erschlaffenden Gesichtszüge fielen in Falten und sein ganzes Auftreten wirkte müde und kraftlos. Viele seiner Leidensgenossen suchten erbärmlichen Trost im Suff, aber das wollte der alte Weber nicht. Sein Vater war seinerzeit wegen Alkoholismus und daraus erwachsender Exzesse der Schrecken der Familie gewesen, und der Sohn hatte sich schon früh geschworen, das Gift namens Alkohol zu meiden. Es kommt häufig vor, dass Kinder von Säufern – so sie nicht an ihren Lebensumständen und den erlittenen Schlägen zerbrechen – Rauschmitteln konsequent aus dem Wege gehen.
Anton war trotz seiner grobschlächtigen und ungeschliffenen Art in Wahrheit weder dumm noch skrupellos. Oft fühlte er Unbehagen ob seiner moralischen Unzulänglichkeit und beneidete Menschen wie seinen Bruder Karl oder seinen Schwager Heinrich. Stets aufs Neue bedrückte ihn die Inhaltsleere seiner Existenz, und mehrmals schon hatte er sich entschlossen, ganz von vorne zu beginnen, dem die Lebensenergie aussaugenden Alkohol abzuschwören, nicht mehr mit Kartenspiel sinnlos die Zeit totzuschlagen und Geld zu sparen, um es für nützliche Dinge wie Bücher oder Ausflüge zu verwenden.
In diesen einsichtigen Phasen war er oft über mehrere Tage hinweg freundlicher und weniger reizbar als sonst, sprach kaum, las viel und machte sich Gedanken über die Welt. Dann mied er seine »guten Freunde«, seine »Spezln«, völlig und sein Zigarettenkonsum halbierte sich. Einmal war es ihm derart ernst damit, sein Leben von Grund auf zu ändern, dass er tatsächlich den Vorsatz fasste, das Rauchen ganz aufzugeben. Allerdings hielten sich diese Zustände nie besonders lange. Gewöhnlich wischte ein plötzliches Ärgernis oder ein zufälliges Zusammentreffen mit seinen Saufkumpanen die guten Vorsätze abrupt vom Tisch. Eventuelle Gewissensbisse beruhigte er, indem er sich einredete, irgendwann in der Zukunft, aber spätestens, sobald er eine dauerhafte Beschäftigung gefunden hätte, einen neuen Anfang suchen und sich über die Realisierung seiner bescheidenen, doch ambitionierten Pläne Gedanken machen zu wollen.
Seine Angehörigen wussten wenig über sein Innenleben. Sie nahmen ihn so, wie er sich für gewöhnlich gab, und wenn er seine »guten Tage« hatte, schrieb man die Veränderung einer Krankheit oder einer Depression zu.
Auch er empfand die Arbeitslosigkeit als drückend, vor allem, weil er sich ihretwegen kaum Vergnügungen leisten konnte. Zudem verdammte sie ihn zu ziellosem Nichtstun und hielt ihn in Abhängigkeit von anderen. In seinem schönsten Zukunftstraum sah er sich als Besitzer eines Geschäfts oder einer Werkstatt, kurz: als selbstständiger Unternehmer in bescheidenem Rahmen. Doch dieses Ziel durch eigener Hände Arbeit zu erreichen, war ihm schon als ein zu langwieriges, wenn nicht gar aussichtsloses Unterfangen erschienen, als er noch ein regelrechtes Einkommen gehabt hatte. Für einen Arbeitslosen war das nicht zu machen. Daher zerbrach er sich den Kopf, wie er mit einem Schlag reich werden könnte. Kein Wunder, dass er, der immer schon beachtliche Summen von seinem Verdienst für Lotto und Glücksspiele abgezweigt hatte, selbst jetzt noch einen Teil seines Arbeitslosengeldes dafür ausgab. Ein nennenswerter Gewinn stellte sich allerdings nie ein.
Eines Morgens brachte der Briefträger ein Schreiben. Es enthielt die Mitteilung, dass Antons Antrag auf Verlängerung der Arbeitslosenunterstützung wegen Überziehung der Anspruchsfrist abgelehnt worden war.
Zunächst wusste er nicht, wie er es den anderen beibringen sollte, aber nach einiger Zeit sorgenvollen Grübelns überreichte er den Brief wortlos seiner Mutter. Diese las, was sie in Händen hielt, langsam, beinahe Buchstaben für Buchstaben. Als sie verstand, ließ sie mit einem Aufschrei des Entsetzens das Papier fallen. Die Hände über den Kopf zusammenschlagend rief sie: »Großer Gott! Jetzt können wir wirklich verhungern! Das hat uns noch gefehlt!«
»Was ist passiert?« Herr Weber sah von seinem Buch auf und warf seiner Frau einen fragenden Blick zu.
»Der Anton verliert die Arbeitslose!«, antwortete sie, mit Tränen kämpfend. »Da haben wir’s! Jetzt können wir zu fünft mit dreißig Schilling in der Woche leben! Vom Karl und von dir, aber wer weiß, wie lang der Karl noch sein Geld kriegt! Mit dreißg Schilling alles zahlen: Zins, Heizung, Gewand, Wäsche, Essen, Licht – und rauchen wollt ihr ja auch! Aber das eine kann ich dir jetzt schon sagen, Anton: Wirtshaus, Kino und Zigaretten sind gestrichen für dich! Keinen Groschen bekommst von mir. Vielleicht schaust dich auf die Art schneller nach Arbeit um.«
»Na geh«, mischte sich Herr Weber beschwichtigend ein, »verlier nicht gleich den Kopf, Mutter! Freilich ist das ein Unglück. Aber so ist es halt im Leben. Dass der Anton nicht freiwillig auf der faulen Haut liegt, das glaub ich ihm jetzt gern, weil ich das selber kenn, dieses ungewollte ›dolce far niente‹. Und solang ich noch ein bissl von dem verdammten Tabak hab, so lang kriegt auch der Anton hin und wieder seine Zigarette. Der Karl kann froh sein, dass er sich den Unsinn nicht angewöhnt hat, jetzt fehlt’s ihm nicht.«
Karl war bereits am frühen Morgen aufgebrochen, um sich auf eine Stellenanzeige hin zu bewerben. Auch Anna war nicht daheim. Sie hatte die Wohnung einige Minuten zuvor verlassen.
»Das Rauchen ist so was Unnötiges«, keppelte Frau Weber ihrem Ehemann hinterdrein, während sie das zweite Fenster öffnete, das trotz der späten Morgenstunde und des schönen Tages noch geschlossen war. »Schau, wie schwarz die Vorhänge schon wieder sind! Vor acht Tagen hab ich sie ganz sauber aufgehängt. Das macht der unselige Tabakrauch. Und wie viel Geld blast ihr Mannsbilder einfach so in die Luft und vergiftet sie auch noch dabei!«
»Irgendeine Freude braucht der Mensch im Leben«, verteidigte sich Herr Weber, der eben seine Pfeife fertig gestopft hatte. »Wenn ich nicht einmal mehr das haben darf, dann pfeif ich auf das ganze Elend da.«
»Von euch Alten red ich ja gar nicht, ihr könnt euch eure Dummheiten eh nimmer abgewöhnen. Obwohl – was haben denn eigentlich wir Frauen, kannst du mir das sagen? Aber die Jungen, die noch nichts geleistet haben im Leben, die sollten sich schämen, den ganzen Tag an so einem grauslichen, stinkenden Glimmstängel zu lutschen! Und du, Anton, du solltest jetzt schnell schauen, dass du was verdienst! Trag Zeitungen aus oder geh von mir aus als Vertreter.«
»Ja, ja! Ich werd schon was tun«, murrte Anton angewidert. »Mich kotzt das ja selber an, auf eure Gnade angewiesen zu sein. Und eins sag ich euch: Wenn man mich mein Brot nicht mit ehrlicher Arbeit verdienen lässt, dann geh ich stehlen oder einbrechen.«
»Du lieber Himmel!«, schrie Frau Weber auf. »Was sagst du da? Das sind die heutigen Jungen! Hat man als Mutter deshalb so viele Entbehrungen auf sich genommen und sich aufgeopfert für sein Kind, dass es ihr dann nur Schande macht und am End im Häfen sitzt?«
»Geh, der Anton meint’s doch nicht so«, beruhigte Herr Weber. »Eh klar, dass er sich ärgert, er hat’s halt ein bissl übertrieben mit seiner blöden Rede. Aber eins sag ich dir schon, Anton«, und die Stimme des Vaters wurde sehr ernst, »spiel dich nicht mit solchen Gedanken! Wer sich mit dem Teufel einlässt, wird am End von ihm geholt. Und auf Unehrlichkeit gedeiht kein Glück!«
Anton grinste voll Trotz und Verachtung. »Vater, solche moralischen Stubenpredigten sind von gestern. Heutzutage muss jeder selber schauen, wo er bleibt, also ist jeder für sich selbst verantwortlich. Du kannst mir nicht helfen, drum muss ich meinen eigenen Weg gehen.« Bei den letzten Worten hatte Anton den Hut genommen und wollte aufbrechen.
»Anton!«, rief der Vater mit gebieterischer Stimme, sodass der junge Mann automatisch stehen blieb. »Anton, hüt deine Zunge! Noch brauchst du uns. Und wenn du krumme Dinger drehst, gehörst du nicht mehr zur Familie. Hast mich? Mach unserem Namen keine Schand, das bist du uns und deinen Geschwistern schuldig. Ich bin mit Anstand alt worden, und wenn mein eigener Sohn mich in Verruf bringt, das würd ich nicht überleben!«
Anton ging wortlos.
Seine Mutter keppelte noch eine ganze Weile aufgeregt weiter: »Impertinenzler! So ein undankbarer Bengel! Der wird uns noch was anschauen lassen! Wieso ist der nicht wie die andern, so wie der Karl? Ich hab doch immer alle gleich behandelt und erzogen! Jessas, wer weiß, was mir noch blüht! Als ob mein Leben nicht schon traurig genug wär mit all den Sorgen! Was für Zeiten! Arbeitslosigkeit, Teuerung, überall Hunger und Not, und gleichzeitig vollgstopfte Geschäfte! Heut zu leben, ist beileibe kein Vergnügen …«
Die Wohnungstür ging auf, und durch die dunkle Küche kam Karl ins Zimmer geschlichen.
»Tag«, grüßte er niedergeschlagen und setzte sich erschöpft auf einen Stuhl. »Es ist schrecklich, zum Verzweifeln. Überall.«
»Also nichts?«, fragte die Mutter. »Haben sie dich wieder nicht genommen?«
»Nein«, war Karls knappe Antwort.
Der Vater sah ihn mit besorgter Miene an. »Waren viele Leut dort?«
»So zirka zweihundert. Und einer hat eine Anstellung kriegt. Wir anderen wollten die Fahrtkosten rückerstattet. Die Firma hat sich natürlich geweigert, es hat einen Krawall gegeben, und schließlich haben sie die Polizei grufen. Die hat uns mit Schlagstöcken auseinandergetrieben. Ein paar haben sie ordentlich erwischt, sogar verhaftet haben sie welche, und ich bin davonglaufen. Ich lass mich nicht hauen oder einsperren.«
»Recht so«, stellte Frau Weber fest. »Es hätt ja nichts genützt. Die Herren sind die Herren, und die Herren haben das Geld und das Gesetz auf ihrer Seite. Ein Arbeiter ist nichts wert.«
Karl plagte die Eifersucht. Er sagte sich zwar selbst, dass dieses im Herzen nagende Gefühl in Wirklichkeit unbegründet war, aber er litt sehr darunter.
Martha erzählte ihm immer alles, was im Büro vor sich ging, all die unbedeutenden Zwischenfälle und all die kleinen Freuden ihres beruflichen Alltags. Karl hörte stets aufmerksam und mit so viel Anteilnahme zu, dass er die Geschichten beinahe nacherlebte. Er genoss die vertrauensvolle Mitteilsamkeit seiner Geliebten, die ihm allerdings so auch vor Augen führte, dass er Tag für Tag nur die Zeit totschlug, während sie hart arbeitete und ihr eine wichtige Rolle zukam, indem sie den Lebensunterhalt für sich und ihre Mutter verdiente.
Nun hatte Martha schon vor Tagen von der Einstellung eines neuen Konzipienten erzählt und dabei beinahe mit zu großem Eifer über ihn berichtet. Sie beschrieb ihn als einen attraktiven jungen Mann mit guten Manieren und herausragenden Fähigkeiten. Er beherrschte neben seiner Muttersprache obendrein Französisch und Englisch in Wort und Schrift und präsentierte sich gegenüber seinen Kolleginnen als perfekter Gentleman. Gestern hatte er Martha angeboten, ihr Englisch beizubringen, das zu lernen sie schon die längste Zeit vorhatte. Jetzt bat sie Karl mitzumachen, weil sie es schön fände, wenn sie sich in einer Fremdsprache unterhalten könnten, die nur wenige verstehen. Außerdem wären Englischkenntnisse möglicherweise beiden einmal von Nutzen. Jeden Samstagnachmittag würde Herr Kerner – so hieß besagter Kollege – sich nach Arbeitsschluss mit Martha in einem Kaffeehaus treffen und mit ihr eine Lektion durchnehmen. Am Sonntag wollte sie dann ihrerseits das Gelernte an Karl weitergeben. So würde erst sie Unterricht in Englisch erhalten und danach mit ihm gemeinsam üben. Natürlich suchte sie dafür Karls Einverständnis, aber sie ging voll Hoffnung davon aus, dass er ihr dieses kleine Vergnügen nicht versage.
Als Martha vergangenen Abend in einem fröhlichen Wortschwall alles das auf Karl einprasseln ließ, stimmte der zwar – mit spürbarer Zurückhaltung – zu, doch er fühlte einen schmerzhaften Stich im Herzen.
Auch ihr entging seine plötzliche Beklommenheit nicht, darum umarmte sie ihn stürmisch und rief aufmunternd: »Na, na! Mein kleines Dummerchen, wirst doch nicht eifersüchtig sein, oder? Brauchst keine Angst haben, ich bleib für immer die Deine!«
»Aber wenn dir der andere am Schluss besser gefällt? Er hat doch so gute Manieren – und eine Arbeit.«
»Karl, wenn du noch einmal so was sagst, bin ich beleidigt und nehm keine Englischstunden. Ich hab eh kein bissl Freude im Leben, da kann ich auf die eine auch noch verzichten.«
Und Martha zauberte mit impulsiven Küssen und neckischen Worten wieder ein Lächeln auf seine Lippen.
Samstagnachmittag, zu einer Zeit, die er sonst regelmäßig mit seiner Geliebten verbracht hatte, saß Karl schwer bekümmert im Wohnzimmer bei seiner Familie und versuchte, für Marthas bevorstehenden Geburtstag ein Gedicht zu verfassen. Er wollte etwas besonders Berührendes schaffen, war aber zu zerstreut, um passende Verse und gute Reime zu finden. Bald hatte er sein Vorhaben sogar völlig vergessen und starrte mit leerem Blick in eine Ecke.
Wenn er bloß Arbeit hätte! Selbst mit einem bescheidenen Einkommen würde er Martha auf der Stelle heiraten, damit sie ihm niemand mehr streitig machen könnte. Mutter Groner hatte sich schon einverstanden erklärt, beide bei sich aufzunehmen. Er wiederum sehnte sich danach, endlich den derzeitigen Verhältnissen zu entfliehen. Wenn er auch seinen Eltern und Geschwistern in Liebe verbunden war: Aber seit der Kündigung des Vaters herrschten innerhalb der Familie niederschmetternde Schwermut und abstoßende Gereiztheit.
Zu seinem bisherigen Elend und zu den Widrigkeiten seines hoffnungsleeren Arbeitslosendaseins kam nun eine neue Sorge: Er fürchtete um seine Geliebte. Ihn bedrückte nicht einfach nur Eifersucht, sondern die lähmende Angst, ihm würde das bei weitem Beste genommen, das er je gehabt hatte, das einzige Licht in seinem dunklen Alltag, von dem er hoffte, es könnte seine herzerwärmende Sonne in einer kalten, egoistischen Welt sein.
Aber welches Recht hätte er, sie zurückzuhalten, wenn das Glück tatsächlich einen gebildeteren und fähigeren Lebensgefährten für sie auserkoren hatte, der ihr ein sichereres und angenehmeres Leben versprach, als er es ihr je bieten könnte? Wenn er bloß Arbeit hätte! In diesem Fall wäre seine Antwort auf diese Frage eindeutig, denn Wissen lässt sich erwerben und nichts wiegt je den Wert ehrlicher Liebe auf. Er war überzeugt, dass niemand Martha mehr lieben konnte als er.
»Hörst du das, Mutter? Seit der Mann arbeitslos ist, streiten die Nachbarn auch pausenlos.« Annas Worte brachen das Schweigen im Raum und rissen Karl unvermittelt aus seinen Gedanken. Anna bügelte, während Frau Weber mit der Brille auf der Nase beim Fenster saß und Socken und Strümpfe stopfte. Sonst war niemand daheim.
Aus der Nachbarwohnung war durch die Wand ein lautstark ausgetragener Streit vernehmbar. Man konnte deutlich zwei Stimmen unterscheiden: eine scharfe weibliche und eine dunkeltönende männliche. Einige Wörter verstand Karl, manchmal sogar Sätze, meistens die der Frau. In das Gebrüll der Erwachsenen mischte sich das Weinen der verängstigten Kinder.
»Wenn sie sich wenigstens vor den Kindern nicht so ungeniert ausdrücken würden«, sagte Frau Weber empört. »Die verstehen mehr, als man glaubt. Ihr Ältester muss schon so um die zehn sein. Hörst die zwei Kleinen weinen? Aber das kümmert die zornige Mutter nicht. Jessas, wie die mit den Kindern herumschreit!«
Die unflätigen Beleidigungen, die sich die zornigen Nachbarn gegenseitig an den Kopf warfen, waren klar verständlich: Kreteu, Dreckshur, Blindgänger, Kanaille, Hundsviech, Schrapnön, hirnloser Trankler – du bist arbeitsscheu, du lässt uns alle im Dreck ersticken, du trägst unsern letzten Groschen zum Wirt und zu den Huren, und die Kinder hungern, du gibst mein schwer verdientes Geld aus für deinen depperten Schmuck und lauter unnötiges Glumpert … Diese und ähnliche Beschimpfungen drangen aus der Nachbarwohnung zu Karl, Anna und der Mutter, die aufmerksam und doch voll Abscheu lauschten.
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