Kitabı oku: «Der zweite Killer», sayfa 4
»Ich weiß.«
»Was sie allerdings nicht wissen: Es handelt sich um einen bisher unbekannten Stamm von Clostridium difficile.«
Er breitete eine Reihe Mikroskop-Aufnahmen vor ihr aus und erklärte:
»Die obere Serie zeigt die normale Reaktion von C. difficile auf verschiedene Antibiotika. Unten sehen Sie die Reaktion der Mutation aus Ihrer Probe. Fällt Ihnen etwas auf?«
Es war eine rhetorische Frage. Die Bakterien aus Eddie Jones‘ Magen reagierten auf kein einziges getestetes Antibiotikum.
»Resistent«, murmelte sie, nicht vollkommen überrascht.
Schulz nickte. »Wir wollten es genau wissen, haben sämtliche Typen von Antibiotika überprüft, stets mit dem gleichen Resultat. Die Keime in Ihrer Probe sind nicht einfach resistent. Sie sind total resistent gegen alle Antibiotika. Wir nennen solche Pathogene deshalb ›TDR‹, totally drug resistant. Diese Bakterien sind absolut tödlich wie die Pest im 14. Jahrhundert, und es gibt kein Gegenmittel – wie im 14. Jahrhundert.«
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Die Stille lastete bleischwer auf ihr. Eddie Jones als Träger einer neuen Pest, gegen die das ganze Arsenal moderner Medizin nichts ausrichten konnte.
»Wie kann so etwas entstehen«, murmelte sie schließlich tonlos, »eine solche Mutation, meine ich?«
»Bakterien sind anpassungsfähiger als der Mensch. Wir wissen heute, dass zu sorglose, häufige Behandlung mit Antibiotika resistente Keime erzeugen kann. Es sind Fälle bekannt, wo beispielsweise eine Lungenentzündung mit viel Antibiotika erfolgreich bekämpft wurde, mit dem Effekt, dass sich dadurch resistente Bakterien im Magen des Patienten ungehindert ausbreiten konnten. Wenn solche Fälle in Kliniken auftreten, gilt höchste Alarmstufe. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn sich diese Keime ausbreiten. Wir könnten nur noch zusehen, wie die Leute sterben.«
»Es gibt ernsthafte Studien der Weltgesundheitsorganisation, die bereits das Ende von Antibiotika mit allen Konsequenzen heraufbeschwören«, fügte Jamie mit Grabesstimme hinzu.
»Ist das nicht ein wenig übertrieben?«
Schulz schüttelte den Kopf. »Tatsache ist, dass kein Antibiotikum gegen solche Bakterien wirkt. ›TDR‹ Keime verhalten sich so, als wäre Penicillin nie entdeckt worden. Um ehrlich zu sein: Die Welt wartet auf einen neuen Alexander Fleming.«
»Gibt es denn keine Alternativen zu Antibiotika?«
»Bis jetzt nicht. Alle Ansätze stecken noch in den Kinderschuhen. Die Pharmaindustrie hat zu lange geschlafen. Antibiotika-Forschung lohnt sich einfach nicht.«
»Bis es zu spät ist.«
»Fünf vor zwölf ist jedenfalls vorbei«, stimmte Schulz zu mit einem Blick auf seine Versuchsreihe. »Spät, aber immerhin, hat man jetzt begonnen, sich mit der Ursache der Resistenz zu befassen. PPMOs sind eine mögliche Lösung. Das sind Peptide, die gezielt die Gene in der Bakterie stilllegen, die für die Resistenz verantwortlich sind. Antimikrobielle Peptide, AMPs, sind eine andere Variante. Die greifen die Zellmembran der resistenten Bakterien an und zerstören sie.«
»Das hört sich alles ziemlich vage an.«
»Ist es auch«, bestätigte Jamie, »leider.«
Chris schwieg, in Gedanken versunken. Ihr Fall war gerade um eine Dimension komplizierter geworden. Mit C. difficile trat ein zweiter Killer auf den Plan, still und unsichtbar, tödlicher als jeder Scharfschütze. Schulz unterbrach ihren Gedankengang:
»Sie müssen mir verraten, woher diese Keime stammen, Kommissarin. Unser Institut ist verpflichtet …«
Sie wehrte ab. »Ich würde es Ihnen sagen, wenn ich könnte, glauben Sie mir. Wir tappen selbst im Dunkeln. Bis vor einer Stunde wusste ich noch nicht, dass resistente Bakterien in unserm Fall eine Rolle spielen.«
Das US-Lazarett in Landstuhl erwähnte sie nicht, obwohl es nun ganz oben auf ihrer Liste stand.
Kaiserslautern
Alois Jung setzte die Tasse wieder ab, ohne zu trinken. Der kalte Kaffee schmeckte zu sehr nach abgestandener Milch. Der Junge war immer noch nicht da.
»Ludwig, komm bitte herunter. Es ist Zeit für die Schule, und ich muss zur Arbeit.«
Es blieb ruhig, abgesehen vom morgendlichen Lärm der Nachbarskinder im Reihenhaus. Verdächtig ruhig.
»Ludwig?«
Der Junge war zehn, hochintelligent, wie die Lehrer sagten, und brauchte pausenlose Fürsorge wie ein Säugling. Manchmal zweifelte er, ob Ludwig je so etwas wie Selbstständigkeit erlangen würde. Viertel vor acht, höchste Zeit. Er nahm den Sportteil aus der Zeitung, wie an jedem Werktag, und schob ihn in die Innentasche des Arbeitskittels. Auf halbem Weg zur Treppe blieb er erschrocken stehen. Ludwig rief nach seiner Mutter. Panik lag in seiner Stimme, als fürchte er, Mama für immer zu verlieren. Er hämmerte mit den Fäusten an eine Tür. Die Rufe steigerten sich zum zornigen Geschrei. Alois schüttelte den Kopf. Der Junge konnte schnell ausfällig werden. Das würde sich wohl auch nicht so bald ändern. Seufzend stieg er die Treppe hoch.
»Ludwig, beruhige dich. Was ist los?«
Der Knabe stand vor dem Bad. Ohne ihn zu beachten, schrie er weiter nach Mama und schlug mit den Fäusten auf die Tür ein. Alois zwang sich, ruhig zu bleiben. Darin hatte er Übung nach all den Jahren.
»Ist die Mama da drin? Kati?«
Er wollte nachsehen, doch Ludwig versperrte ihm den Weg, prügelte jetzt auf ihn ein und schrie weiter.
»Ist ja gut, Ludwig«, versuchte er zu beruhigen.
Gleichzeitig begann sein Herz schneller zu schlagen. Nichts war gut, wenn Kati im Bad saß und nicht antwortete. Warum sollte sie sich einschließen? Seine Gedanken überschlugen sich. Er schob Ludwig unsanft zur Seite und drückte auf die Klinke. Die Tür war nicht verschlossen, doch etwas blockierte sie. Er drückte kräftiger dagegen.
»Kati?«
Angst schwang jetzt in seiner Stimme mit. Er versuchte nicht, sie zu verbergen. Durch den Spalt sah er Katis Füße. Sie lag am Boden. Ihr Körper war es, der die Tür blockierte. Er sah und hörte Ludwig nicht mehr, hatte nur noch Augen für seine Frau, die krumm und reglos am Boden lag, als hätte sie ein Gaul in den Magen getreten.
»Kati, um Gottes willen …«
Seine Stimme versagte. Die Knie gaben nach. Er sank neben ihr zu Boden, bettete ihren Kopf in den Schoß und streichelte ihr Haar, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Ein Wimmern wie aus weiter Ferne löste die Schockstarre. Sie regte sich, versuchte sich aufzurichten und zuckte mit einem spitzen Schrei zusammen. Ludwig warf sich weinend auf seine Mutter. Sie versuchte, zu sprechen, aber selbst die Bewegung der Lippen löste neue Krämpfe aus. Alois‘ Hände zitterten. Er drückte seiner Kati einen Kuss auf die fieberheiße Stirn und presste ein paar heisere Worte heraus, von denen nur »Krankenwagen« zu verstehen war. Sie schien nicht verletzt zu sein. Jedenfalls sah er kein Blut. Ihr Magen quälte sie bis zur Bewusstlosigkeit. Seine eigenen Därme begannen sich zu verknoten, während er die Treppe hinunter stolperte zum Tisch, auf dem das Handy lag.
Kati hatte das Bewusstsein wieder verloren, als er ins Bad zurückkehrte. Die zehn Minuten bis zum Eintreffen des Notarztes genügten nicht, um Ludwig zu beruhigen. Er glaubte, Mama sei gestorben und überhäufte ihn in seiner Not mit Vorwürfen und wüsten Beschimpfungen. Alois ließ es wie üblich an sich abprallen. Er hörte ohnehin nicht richtig zu. Seine Gedanken waren bei Kati.
»Ins LRMC nach Landstuhl«, wies er den Fahrer des Rettungswagens an.
Kati arbeitete dort seit Jahren als Nurse, er als Techniker. Das US-Lazarett, eine Stadt am Rande der Stadt, war ihre zweite Heimat geworden. Katis Vertrauensärztin wirkte schon beinahe so lang im Medical Center wie sie als Schwester.
Ludwig wich auf dem Weg zum Lazarett nicht von Katis Seite. Daran änderte auch die Beruhigungsspritze nichts. »Wahrscheinlich akute Darmentzündung«, war die vorläufige Diagnose, die er von den Ärzten hörte. Sie brachten seine Frau auf die Intensivstation.
»Mama braucht jetzt absolute Ruhe, damit sie schnell wieder gesund wird«, versuchte er dem Knaben zu erklären.
Ludwig hörte ihm nicht zu. Aufgeregt lief er vor der Scheibe auf und ab, die ihn vom Krankenbett trennte. Hin und wieder blieb er stehen, drückte die Nase platt und klatschte die flache Hand aufs Glas, um ihr zu zeigen, dass er für sie da war. Kati schlief im Halbdunkel, von starken Schmerzmitteln ruhiggestellt. Alois konnte sie nicht fragen, wie in aller Welt er die nächsten Stunden der Ungewissheit mit dem verängstigten Ludwig an der Seite überstehen sollte.
Landstuhl
Der Offizier in khakifarbener Uniform der US-Navy fiel niemandem auf beim Betreten des Medical Centers. Routiniert erwiderte er den Gruß eines weiblichen Sergeanten. Er kannte sich aus im Lazarett, denn kaum etwas hatte sich verändert seit seinem letzten Aufenthalt – außer dem vietnamesischen Gesicht am Empfang.
»Wo finde ich Dr. Fisher, 1st Lieutenant Matt Fisher?«
Die schlanken Finger der Soldatin huschten über die Tasten des Computers.
»Haus 12, Sir«, sagte sie mit verbindlichem Lächeln. »Wenn Sie die Straße beim Eingang links hinauffahren …«
»Danke, ich weiß Bescheid.«
Auch das war gleich geblieben. Haus 12, das Haus der Pest. Dort isolierte man die armen Teufel mit ansteckenden Krankheiten, damals wie heute. Auf dem Weg zum Haus 12 stellte er fest, dass sich doch etwas geändert hatte. Kameras überwachten jetzt rundum jeden Winkel des Geländes. Die Feststellung war ihm nur ein verächtliches Schmunzeln wert. Kein Mensch begegnete ihm auf dem Korridor. Ein Rollstuhl stand neben einer offenen Zimmertür. Eine Schwester war dabei, das Zimmer auszuräumen. Wie ein Geist stand er plötzlich hinter ihr.
»Wo finde ich das Büro von Dr. Fisher?«
Sie wirbelte herum. Ein erstickter Schrei entfuhr ihr. Schon halb abgewandt, hörte er sie stammeln:
»Das – das letzte Büro links, Sir.«
Matt Fisher saß am Schreibtisch und musterte ihn über den Rand der Brille hinweg.
»Noch nichts von Anklopfen gehört , Lieutenant?«
Er schloss die Tür und riegelte ab.
»Verdammt, was soll das?«
»Wir müssen reden.«
Fisher war aufgesprungen. Die Hände auf die Tischplatte gestützt, deckte er ihn mit giftigen Blicken ein.
»Wer sind Sie, was erlauben Sie sich?« Ohne die Antwort abzuwarten, wies er ihm die Tür. »Verschwinden Sie aus meinem Büro, sofort!«
Er trat näher an den Schreibtisch.
»Eddie Jones hat Ihnen vertraut.«
Er sah die Wahrheit in Fishers Augen. Aus seinem Mund kam eine Lüge:
»Eddie Jones – der Name sagt mir nichts. Gehen Sie jetzt.«
Wie aus dem Nichts lag plötzlich eine leere Schachtel Neomycin auf dem Schreibtisch.
»Sie haben ihm diese Scheiß Pillen verschrieben und ihn elend verrecken lassen. Eddie Jones war ein guter Mann. Warum haben sie ihm nicht geholfen?«
Fisher sank mit einem Seufzer in seinen Sessel.
»Ich werde sicher nicht mit Ihnen über meine Patienten sprechen, Lieutenant, wer immer Sie sind.«
»Eddie Jones war also Ihr Patient. Ich frage Sie noch einmal: Wieso haben Sie ihm nicht geholfen?«
Fisher schielte aufs Telefon.
»Lassen Sie das! Sie sagen mir jetzt, warum sie Eddies Behandlung abgebrochen haben.«
Fishers Augen hafteten auf der Medikamentenschachtel.
»Wieso sollte ich das tun?«
Er beugte sich vor, bis er Fishers Atem riechen konnte, und sagte ruhig:
»Weil Sie keine Schmerzen ertragen, stimmt‘s?«
Der Arzt wich erschrocken zurück. Die Erinnerung an den Patienten Jones war plötzlich wieder da.
»Ich habe die Behandlung nicht abgebrochen«, murmelte er. »Es gab keine Behandlung. Mr. Jones’ Krankheit ist unheilbar.«
»Und verdammt ansteckend«, ergänzte er wütend. »Ich will die Namen und Adressen aller andern Patienten mit Eddies Problem, die Sie im Stich gelassen haben.«
»Mir reicht‘s.«
Fisher griff zum Telefon. Er hatte ihn im Schwitzkasten, bevor seine Hand den Hörer berührte.
»Die Namen!«, zischte er ihm ins Ohr.
Ein ängstliches Stöhnen war die Antwort. Fishers Blick wanderte zu einem Schrank gegenüber dem Schreibtisch.
»Finde ich die Namen dort?«
Es klopfte. Jemand wollte eintreten. Ein Ruck ging durch den Körper des Arztes. Er bäumte sich auf, versuchte, um Hilfe zu rufen. Ein kurzer Druck mit dem Arm auf die Gurgel löste das Problem. Die andere Hand riss den Kopf des Arztes herum, bis es knackte. Dieser Quacksalber würde nie mehr einen Kameraden im Stich lassen. Jemand rief Fishers Namen, als er den toten Körper hinter dem Schreibtisch zu Boden gleiten ließ, dann war Ruhe. Er kurbelte die Jalousie herunter und begann zu suchen. Fishers Telefon schrillte. Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, ebenso wenig von den lauter werdenden Stimmen auf dem Flur. Er war hier, um ein Versprechen einzulösen. Diese Ehrensache würde er mit aller Gründlichkeit zu Ende bringen, wie er es stets getan hatte.
Die Krankenblätter im Aktenschrank sprachen keine ihm bekannte Sprache. Dennoch fand er bald, wonach er suchte. Die Fälle, die ihn interessierten, lagen etwas abseits auf einem gesonderten Stapel. Fisher hatte genau gewusst, was mit seinen Patienten los war. Er nahm die Akten heraus und verschloss den Schrank wieder. Zeit für den geordneten Rückzug. Er streifte die Arbeitskleidung des Toten über und lauschte. Im Augenblick schien sich niemand für Dr. Fisher zu interessieren. Der Zeitpunkt war günstig. Schon fast an der Tür, kehrte er noch einmal zum Schreibtisch zurück. Ein Krankenblatt lag offen neben dem Telefon. Der Name der Patientin weckte alte Erinnerungen: Kati Jung-Gruber. Die Frau war erst am Vortag eingeliefert worden. Er verstand nicht viel vom medizinischen Kauderwelsch, aber genug, um die Parallelen zu Eddie zu sehen. Er packte die Akte zu den andern, wartete, bis die Schritte im Flur verhallten, und verließ das Zimmer.
Kati lag in ICU, der Intensive Care Unit, ein Umweg von wenigen Schritten. Er fand die Station verlassen vor. Nur die Patientin lag reglos im Bett. Er hätte sie nicht wiedererkannt ohne das Namensschild. Weiß wie das Laken, schien sie tief zu schlafen. Sie atmete flach aber selbstständig. Bei jedem Atemzug hörte er ein leises Rasseln. Es war sinnlos, sie aufzuwecken. In diesem Zustand würde sie keine Fragen beantworten.
Er spürte einen Luftzug im Rücken. Seine Nackenhaare sträubten sich. Jeden Muskel angespannt, drehte er sich langsam um. Ein Techniker stand unter der Tür.
»Wie geht es Kati, Doc?«, flüsterte er.
Alois Jung stand auf der ID an seiner Brusttasche, Katis Ehemann, vermutete er. Laute Rufe und das Geräusch schneller Schritte drangen vom Flur herein. Man hatte Fishers Leiche entdeckt, Grund genug, seine Rolle als Arzt noch etwas länger zu spielen.
»Schließen Sie bitte die Tür«, sagte er zum Techniker. »Ihre Frau braucht absolute Ruhe. Ihr Zustand ist unverändert aber stabil. Machen Sie sich keine Sorgen.«
»Sie haben gut reden, Doc.«
Der Deutsche sprach ein nahezu perfektes Englisch. Selbst der amerikanische Akzent fehlte nicht. Er trat ans Bett und begann, Katis Wangen zu streicheln.
»Zehn Jahre hast du hier gearbeitet«, murmelte er, »ohne auch nur einmal krank zu werden, und jetzt das … Wie ist so etwas möglich?«
Auf den günstigen Augenblick wartend, beobachtete der falsche Arzt die Vorgänge draußen unauffällig durch die getönte Scheibe.
»Doc – glauben Sie, Kati habe sich hier im Lazarett angesteckt?«
»Wir wissen es nicht. Die Untersuchungen laufen noch.«
Der Techniker ergriff Katis Hand.
»Das hängt sicher wieder mit dieser Schweinerei in München zusammen. Warum hast du mir nie erzählt, was damals passiert ist?«
»Was meinen Sie damit?«
»Die Münchner Klinik, wo sie vorher gearbeitet hat, da muss etwas Schlimmes geschehen sein. Sie wollte nie darüber sprechen, aber sie hat Albträume gehabt, immer wieder.«
»Die Münchner Klinik …«, wiederholte er nachdenklich.
Die Lage draußen hatte sich etwas beruhigt. Er verabschiedete sich eilends und verließ die Intensivstation. Wie erwartet, beachtete niemand den unbekannten Arzt, der mit dem Aktenbündel unter dem Arm in Riesenschritten dem Ausgang zustrebte. Auf der Höhe des Rollstuhls, der noch immer verlassen im Flur stand, änderte sich die Lage schlagartig. Ein Trupp der Security in Kampfanzügen, Karabiner im Anschlag, stürmte ins Haus. Geistesgegenwärtig ergriff er den Rollstuhl, stieß die Tür zum leeren Zimmer auf und gab vor, das Gefährt hineinzuschieben. Die Männer rannten hinter seinem Rücken vorbei. Kurz danach verließ er das Haus und das Lazarett, ohne behelligt zu werden. LRMC: check.
Kapitel 2
Landstuhl
Eigentlich erwartete Chris, von Militärpolizei in Kampfmontur mit vorgehaltener Maschinenpistole empfangen zu werden, als sie bei der Notaufnahme des Landstuhl Regional Medical Centers vorfuhr. Stattdessen gebot ihr ein Giftzwerg direkt aus dem Ring der Nibelungen in astreinem Pfälzisch, sofort zu verduften. Er gehörte zur Polizeitruppe, die in Kompaniestärke angerückt war mit allem, was zum Aufmarsch am Tatort eines Gewaltverbrechens gehörte: Kriminalbeamte in Zivil, uniformierte Sicherungsmannschaft, Fahrzeuge mit Material und Personal zur Spurensicherung, Notarzt, Rettungswagen. Und alle standen in Gruppen herum oder saßen in den Autos wie bestellt und nicht abgeholt.
»Was ist denn hier los?«, fragte sie eher belustigt als beunruhigt.
Alberich lief rot an. »Haben sie Flääschknepp in den Ohren? Sie sollen verschwinden. Das ist ein Tatort.«
»Sieht eher aus wie ein Truppenaufmarsch.«
Sie beeilte sich, den Ausweis zu zücken, bevor er auf den Gedanken kam, sich ein Leid anzutun.
»HK Chris Roberts, BKA«, sagte sie, »und mit wem habe ich das Vergnügen?«
Er drehte eine halbe Pirouette. Sie vernahm einen unterdrückten Fluch. Jedenfalls hörte es sich so an.
»Das auch noch!«, stieß er zähneknirschend aus.
Sein Kopf drehte sich ruckartig von ihr zur Truppe und zurück wie bei einer Schleiereule, die sich nicht zwischen zwei fetten Mäusen entscheiden kann. Sie stieg aus und sah erst jetzt die Fahrzeuge und Männer in Kampfanzügen, die den Zugang blockierten. Er zeigte ihr stumm den Dienstausweis: Hauptkommissar Frank Leich, LKA Rheinland-Pfalz.
»BKA«, brummte er, ihr Kinn mit stechendem Blick fixierend. »Wie kommen Sie so schnell hierher? Gibt es zu wenig Arbeit in Wiesbaden?«
»Berlin.«
»Was?«
Ihm fehlten die Worte.
»Ich bin hier für eine Besprechung. Mit Ihrem Tatort habe ich nichts zu tun. Worum geht es überhaupt?«
»Das wüsste ich auch gern, verdammter Mist. Wir haben einen Notruf erhalten. Ein Arzt sei erschlagen aufgefunden worden. Jetzt lassen uns die arroganten Säcke nicht ermitteln. Der Notruf sei ein Versehen, behaupten sie.«
»Behauptet wer?«
»Der Kommandant höchstpersönlich, Oberst Jeremy Cooper, der Lange dort drüben bei der Artillerie.«
Lang war jeder in seinen Augen, aber Colonel Cooper überragte tatsächlich all seine Untergebenen.
»Na dann lassen Sie uns mal mit Karl dem Großen reden, kommen Sie. Vielleicht erweist er dem Bundeskriminalamt die Gnade einer Audienz.«
Colonel Cooper empfing sie aalglatt, korrekt aber abweisend wie Kommissar Leichs Gesicht. Der BKA-Ausweis beeindruckte ihn nicht.
»Bitte verlassen Sie das Gelände, Sie befinden sich auf dem Territorium der Vereinigten Staaten von Amerika«, sagte er in der Sprache Neuenglands, die nahezu ohne R auskommt.
Chris war sich nicht sicher über die Rechtslage und verabscheute juristische Scheingefechte, dennoch hielt sie seinem durchdringenden Blick stand, ohne zu blinzeln, und markierte Gelassenheit.
»Der Notruf kam aus Ihrer Klinik«, sagte sie in ihrem Oxford-Englisch mit gut hörbarem R. Beim Verdacht auf ein Gewaltverbrechen müssen wir ermitteln. Das wissen Sie.«
»Das ist Sache der US Justiz.«
»Also gab es ein Gewaltverbrechen.« Sie benutzte seine Denkpause, um etwas weiter auszuholen: »Das ist ein Krankenhaus. Ich nehme nicht an, dass sie über eine eigene KTU verfügen. Hier wartet ein halbes Dutzend Spezialisten des LKA darauf, wichtige Spuren zu sichern, um das Verbrechen so schnell wie möglich aufzuklären. Das müsste doch auch in Ihrem Interesse sein, Colonel. Mit jeder verlorenen Minute sinkt die Wahrscheinlichkeit, den Täter zu fassen.«
Mit steinerner Miene wiederholte Colonel Cooper die Einladung, das Gelände zu verlassen. Der Mann hatte offensichtlich einiges zu verbergen. Hauptkommissar Leichs Miene verdüsterte sich von abweisend zum deutlichen »Leck mich!«. Er war im Begriff, Coopers Aufforderung zu folgen. Sie brauchte dringend eine Eingebung. In diesem Moment erschien ihr das blasse Gesicht des Referendars Seidel.
»Augenblick«, sagte sie und rief ihn an.
An Coopers ratlosem Blick erkannte sie, dass er wie erwartet der hastigen, deutschen Konversation nicht folgen konnte. Sie nahm das Handy vom Ohr, ohne die Verbindung abzubrechen, nickte mit ernstem Gesicht und sagte:
»Ich muss Sie über einen Irrtum aufklären, Colonel. Im NATO-Truppenstatut gibt es eine klare Formulierung, dass die Partner dem jeweiligen Recht des Staates folgen müssen, auf dessen Hoheitsgebiet sie sich befinden.« Sie hielt dem Colonel das Handy hin mit der Bemerkung: »Der Herr Generalstaatsanwalt wird Ihnen das gerne selbst erläutern.«
Er betrachtete das Gerät wie eine eklige Kröte. Sie dankte Seidel für die Auskunft und unterbrach die Verbindung, inständig hoffend, ihr Referendar hätte nichts mitbekommen von der unerwarteten Beförderung zum Generalstaatsanwalt. Es arbeitete hinter Colonel Coopers Stirn, doch nach einigem Grübeln gab er seinen Leuten den Befehl, den Zugang freizugeben. Er wandte sich an einen Offizier, der die Unterhaltung steif und stumm mitverfolgt hatte.
»Major, führen Sie die Herrschaften zum Tatort in Haus 12.«
Chris horchte auf. Sie war im Haus 12 mit Dr. Fisher verabredet. Schlimmes ahnend, fragte sie:
»Wie heißt das Opfer?«
»1st Lieutenant Matt Fisher«, antwortete der Major, der sich als Tom Anderson vorstellte.
Solche Zufälle gab es nicht. Nicht, wenn es sich um Mord handelte. Wie befürchtet, hatte man den Toten bereits in die Leichenhalle gebracht. Die gesamte Belegschaft schien sich in Dr. Fishers Büro und auf dem Flur versammelt zu haben. In diesem Durcheinander nach Spuren zu suchen, war etwa so Erfolg versprechend wie eine Spurensicherung am Berliner Ostkreuz zur Stoßzeit. Hauptkommissar Leich ließ die Schultern hängen und schrumpfte um ein paar weitere Zentimeter angesichts dieses Tatorts. Während er das Haus räumen ließ, so gut es ging, versuchte sie, sich vorzustellen, was sich hier abgespielt haben mochte. Nichts deutete auf einen Kampf hin, außer vielleicht der Stuhl etwas abseits vom Tisch. Kein Blut, jedenfalls auf den ersten Blick, keine Unordnung, Jalousie heruntergelassen, als hätte Dr. Fisher sein Büro nur für ein paar Stunden verlassen wollen. Selbst den Schreibtisch hatte er aufgeräumt, wie es schien. Keine Akte, keine Zettel lagen herum, der Computer hatte sich schlafen gelegt, Stand-by. Sie sah unter dem Tisch nach. Was sie hervorzog, jagte ihren Puls an die Decke.
»Neomycin«, las sie laut von der leeren Packung.
»Neomycin ist ein gängiges Antibiotikum«, sagte eine unbekannte Frauenstimme hinter ihr.
Die Ärztin streckte die Hand zum Gruß aus, zog sie jedoch schnell zurück, als sie Chris‘ Plastikhandschuhe bemerkte.
»Nancy Hogan, medizinische Leiterin des Lazaretts«, stellte sie sich vor.
»Hat Dr. Fisher Neomycin konsumiert?«, fragte Chris, nachdem sie den Gruß erwidert hatte.
»Auf keinen Fall.«
Genau die Antwort, die sie hören wollte. Chris lächelte. Sie gab die Packung einem Techniker mit der Bitte, sie sofort auf Fingerabdrücke zu untersuchen.
»Die Abdrücke müssen umgehend an die KTU des BKA in Wiesbaden übermittelt werden«, schärfte sie dem Mann ein. Sie schrieb Caros Mailadresse auf einen Notizzettel. »Schicken Sie das Material mit einem schönen Gruß von mir an diese Person. Sie weiß, wonach sie suchen muss. Ich warte auf die Antwort.«
Die Ärztin blickte sie verständnislos an.
Chris zuckte die Achseln. »Polizeiarbeit. Wir brauchen übrigens auch die Fingerabdrücke aller Mitarbeiter«, ergänzte sie.
Dr. Hogan seufzte. »Das hat Ihr Kommissar schon angedroht. Ich verstehe das alles nicht. Niemand hat etwas bemerkt. Matt arbeitet seit Jahren bei uns. Er war nicht immer gut gelaunt, aber alle mochten ihn. Unfassbar.«
Chris deutete auf die Überwachungskamera im Korridor, die Dr. Fishers Tür im Blickfeld hatte. »Vielleicht hat sie ja etwas beobachtet. Ich möchte die Aufzeichnungen aller Kameras im und ums Haus.«
Die Ärztin stieß ein bitteres Lachen aus. »Sparmaßnahmen«, murmelte sie verächtlich. »Die Kameras in diesem Sektor sind seit Monaten außer Betrieb. Den Grund erfahren Sie beim technischen Dienst. Soviel ich weiß, hat ein Server den Geist aufgegeben, und neue Investitionen sind praktisch nicht mehr möglich, seit bekannt ist, dass wir umziehen.«
»Sie ziehen um?«
»Dieser Standort wird geschlossen. Man will ein neues Zentrum aufbauen, näher bei der Air Base in Ramstein.«
»Das wird aber noch eine Weile dauern«, warf Chris ein.
»Oh ja, Sie sagen es. Der geplante Umzug taugt aber immer als Grund für einen Investitionsstopp.«
Es gab also keine Aufzeichnungen vom Tatort. Chris fluchte innerlich und zählte stumm bis zehn. Sie sah sich im Büro um. Die Techniker des LKA verrichteten ihre Arbeit gründlich und schnell. Für sie gab es hier nichts mehr zu tun. Bevor sie ging, bat sie die Ärztin, zu prüfen, ob etwas fehlte in den Schränken und Schubfächern.
»Wir brauchen eine genaue Aufstellung«, betonte sie. »Es ist wichtig.«
HK Leich und der Gerichtsmediziner erwarteten sie ungeduldig in der Leichenhalle. Der verstorbene Dr. Fisher wies keine äußerlichen Verletzungen auf, wie sie vermutet hatte.
»Der Leichnam muss selbstverständlich in der Rechtsmedizin untersucht werden«, sagte der Arzt. »Ich fasse nur kurz zusammen, was äußerlich feststellbar ist.«
»Die Staatsanwaltschaft hat die Obduktion bereits angeordnet«, warf Leich ein.
Allmählich entwickelte sich der Fall doch noch zu einem normalen Mordfall, in dem normale Polizisten und normale Pathologen ihre normale Arbeit verrichten durften. Der Arzt fuhr fort:
»Todesursache ist höchstwahrscheinlich eine Fraktur des Dens axis, ein Genickbruch, herbeigeführt durch ruckartiges Verdrehen des Kopfes.«
»Ein Unfall kann also ausgeschlossen werden?«
Der Arzt nickte. »Letzte Gewissheit wird die Obduktion ergeben. Auf ein Gewaltverbrechen deuten auch die Hämatome an Hals und Oberarmen hin, wie Sie hier sehen. Der Täter muss das Opfer von hinten in einem Zangengriff gepackt haben.«
»Dafür braucht es einen kräftigen Mann?«
»Nicht unbedingt. Wenn man, wie es aussieht, diese Tötungsart geübt hat und die Bewegung schnell genug ausführt, kann das so ziemlich jede Person von dieser Größe bewerkstelligen.«
»Das schränkt den Täterkreis ja mächtig ein«, brummte Leich mit einem vorwurfsvollen Blick auf den Toten.
Chris war anderer Meinung. Diese Tötungsart passte zu Seidels Charakterisierung der Navy SEALs: Killermaschinen. Der Verdächtige im Mordfall Eddie Jones war ein SEAL. Dumm nur, dass dieser Verdächtige schon zehn Jahre tot war. Dennoch deutete ihr Bauchgefühl auch hier auf eine Verbindung zu Seidels Killermaschinen hin.
»Todeszeitpunkt?«, fragte Leich.
»Es gibt erste Anzeichen von rigor mortis in der Gesichtsmuskulatur. Aufgrund der gemessenen Temperatur gehe ich davon aus, dass der Tod vor etwa einer Stunde eingetreten ist, höchstens anderthalb Stunden.«
Der Summton ihres Handys unterbrach sie. Caro, die Freundin von der KTU in Wiesbaden, war am Apparat.
»Sitzt du bequem?«
Caros Frage enthielt die brisante Nachricht bereits, wie sie sogleich erfuhr.
»Um es kurz zu machen«, begann die Freundin, »wir haben einen ›Match‹. Es gibt frische Abdrücke auf der Neomycin-Packung, die eindeutig von derselben Person stammen wie die Fingerabdrücke auf dem Dog tag des ersten Opfers, Ede …«
»Eddie Jones.«
»Genau.«
»Kein Zweifel?«
»Sagte ich doch schon.«
»Verstehe ich das jetzt richtig: Unser Opfer in Landstuhl hatte also Besuch vom Verdächtigen im Mordfall Eddie Jones, der selbst schon seit zehn Jahren tot ist.«
»Genau so sieht es aus«, stimmte Caro zu. »Ich glaube, du musst dich langsam an den Gedanken gewöhnen, dass dein Verdächtiger von den Toten auferstanden ist.«
Sie sah die Schlagzeile schon vor sich: Toter läuft Amok! Noch war nicht erwiesen, ob der Besuch des Geistes etwas mit Dr. Fishers gewaltsamem Tod zu tun hatte, doch alle andern, denkbaren Lösungen des Rätsels schätzte sie als extrem unwahrscheinlich ein. Sie entschuldigte sich, verließ die arktische Waschküche der Leichenhalle und rief Staatsanwältin Winter an. Sie reagierte ungefähr mit ihrer imaginären Schlagzeile auf die Nachricht und begann zu hyperventilieren.
»In Deutschland rennt ein toter Serienkiller herum, noch dazu ein Elitesoldat der US-Navy, und schlachtet wahllos Leute ab! Wie zum Teufel soll ich das meinen Vorgesetzten und der Presse erklären?«
»Am liebsten gar nicht. Jedenfalls sollte die Presse nichts vom Zusammenhang der beiden Fälle erfahren.«
Chris musste sich eine ausführliche Klage über Ungeziefer im Mief der Redaktionsstuben anhören, ehe Winter etwas sagte, was sie kalt erwischte:
»Diese Sache droht aus dem Ruder zu laufen. Ich werde sofort eine SOKO NAVY ins Leben rufen, um Schlimmeres zu verhindern.«
Chris schluckte leer. Sie hätte es ahnen müssen, denn auch im BKA galt die alte Regel politischer Schlaumeier: Hast du ein Problem, bilde eine Kommission.
»Hallo, sind Sie noch dran? Haben Sie mich verstanden?«
»SOKO NAVY, klar«, murmelte sie abwesend. »Wer ist dabei, wie läuft das ab?«
Es blieb auffallend still in der Leitung, während Chris den geistigen Nachbrenner einschaltete, um einen Weg zu finden, ungestört weiter ermitteln zu können. Als Winter zur Antwort ansetzte, sah sie die Lösung klar vor sich.