Kitabı oku: «Staatsfeinde»

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Staatsfeinde

Impressum

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

Hansjörg Anderegg

Hansjörg Anderegg

Staatsfeinde

Der 9. Fall mit BKA-Kommissarin Chris

Thriller

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-201-3

E-Book-ISBN: 978-3-96752-699-8

Copyright (2021) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung der Bilder:

Stockfoto-Nummer: 1800052372, 1391207630

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Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

KAPITEL 1

Aachen

Nichts als verstaubte Klassiker in dem Laden: Seneca, Plato, Thomas von Aquin, Leibnitz, Nietzsche. Bertrand Russells ›Philosophie des Abendlandes‹ fasste die alle bequem auf achthundert Seiten zusammen. Das Buch aus dem Jahre 1946, wohl das jüngste Werk im Antiquariat Rosenblatt, lag aufgeschlagen neben Jakobs Leiche.

Wer erschießt einen Neunzigjährigen?, schoss es Phil durch den Kopf, bevor der Schock einsetzte und er am ganzen Körper zu zittern begann, als herrschte klirrende Kälte in Jakobs Refugium im Schatten des Aachener Doms. Das Haus schlief, tot wie der alte Mann. Phils Augen füllten sich mit Tränen. Neunzig Jahre hatte Jakob Rosenblatt auf diesem Planeten überlebt, als Kind zugesehen, wie die Nazis seine Eltern mitten in der Nacht abführten. Niemand hatte je wieder etwas von ihnen gesehen oder gehört. Die Rosenblatts aus Aachen blieben verschollen, als hätte es sie nie gegeben. Jakob aber war der lebende Beweis ihrer Existenz und ihres Wirkens. Hatte er auch nie wirklich darüber gesprochen, verstand Phil dennoch, dass Jakob gerade deshalb die Gräuel überstanden hatte und trotzig uralt geworden war.

Das Telefon fiel ihm beinahe aus der Hand, als er die 110 anrief.

»Wie lautet die Anschrift?«, wollte die Beamtin wissen.

»Äh – Pontstraße.«

»Hausnummer?«

Er kannte sie nicht. Seit zwölf Jahren, seit der Studienzeit an der TH, wohnte er gegenüber Jakobs Antiquariat, ohne eine Sekunde über dessen Hausnummer nachgedacht zu haben.

»Antiquariat Rosenblatt«, antwortete er heiser und legte auf.

Trotzdem gehörten Jakobs stickige Zimmer voller staubiger Bücher und vergessener Spinnweben beinahe zu seiner Wohnung. Den Master hatte er zwischen Jakobs toten Philosophen geschrieben. Die Gewissheit, dass sich viele Texte in diesen Wälzern längst als leere Behauptungen und Irrtümer erwiesen hatten, beruhigte den Informatiker. Phil war nicht an den Ergüssen der Philosophen interessiert. Er wollte die Tiefen des menschlichen Geistes ergründen, verstehen, was hinter den Gedanken eines Leibniz oder Schopenhauer steckte und weshalb. Was ist die Essenz des menschlichen Geistes? Diese einfache Frage, unendlich schwierig, vielleicht unmöglich zu beantworten, trieb ihn um, seit er die Pubertät hinter sich gelassen hatte. Phil Schuster, der erste Mensch, der einem Computerprogramm menschlichen Geist einhauchte? Unmöglich war es nicht. Andere Leute träumten vom großen Geld.

Sirenengeheul näherte sich. Erschrocken stellte er fest, immer noch wie angewurzelt vor Jakobs Leichnam zu stehen und auf die Blutlache unter seinem Kopf zu starren.

»Mir wird schlecht«, antwortete er auf die erste Frage.

Die Mundwinkel des Kommissars sanken eine Etage tiefer, was er nicht für möglich gehalten hätte. Sein Gegenüber rettete sich mit einem Satz rückwärts außer Reichweite.

»Kotzen Sie mir bloß nicht auf die Stiefel, junger Mann!«

Phil riss den Blick endlich los vom Toten. Mit Mühe gelang es ihm, das Würgen zu unterdrücken und den Herrn in der Lederkluft anzusehen. Grau meliertes Haar, Boxernase, mindestens einmal gebrochen, stand der Typ da und blickte durch ihn hindurch, als interessierte er sich nicht im Mindesten für den Tatort oder seine Antworten. Er hatte sich als Kriminalhauptkommissar Tom Fischer, LKA NRW, vorgestellt.

»Sie sind Phil Schuster? Sie haben die Leiche entdeckt?«, wiederholte er, sichtlich besorgt um seine Stiefel.

Phil nickte. Eine Beamtin brachte ihm ein Glas Wasser. Es gab Leute beim LKA Düsseldorf, die Gedanken lesen konnten. Der Rechtsmediziner verrichtete seine Arbeit, und die Kriminaltechniker begannen wie ein Schwarm Außerirdischer, die Spuren zu sichern.

»Erzählen Sie!«, forderte Kommissar Fischer ihn auf.

Dabei streifte ihn ein süßsaurer Hauch aus dem Mund des Polizisten, dass das Würgen augenblicklich wieder einsetzte. Das Wasser verhinderte Schlimmeres.

»Ich muss hier raus«, murmelte er mit erstickter Stimme.

Fischer nickte stumm. In sicherem Abstand folgte er ihm auf die Straße. Es war eine warme Sommernacht, für einmal trocken und Freitag. Halb Aachen hatte sich in den Kneipen und auf der Pontstraße versammelt. Angeheiterte Schaulustige versuchten immer wieder, die Absperrung vor dem Antiquariat zu durchbrechen. Fischers Miene verfinsterte sich. Auch das hätte er nicht für möglich gehalten. Der Mann war zudem bewaffnet. Phil traute ihm nicht. Rasch begann er zu berichten, um ihn abzulenken.

»Ich wohne gegenüber im zweiten Stock. Gegen acht kam ich von der Arbeit nach Hause. Mir ist gleich aufgefallen, dass noch Licht brannte in Jakobs Laden, und die Haustür stand halb offen. Jakob schließt sonst pünktlich um fünf.«

Fischers Augenbrauen hoben sich drohend.

»Woher wollen Sie das wissen, wenn sie bis spät abends arbeiten?«

»Ich weiß es eben. Hören Sie, ich kenne Jakob Rosenblatt seit mehr als zehn Jahren, habe das halbe Studium in seinem Antiquariat verbracht. Wir sind – waren gute Freunde.«

»Auch gute Freunde …«

Weiter kam er nicht. Der Rechtsmediziner unterbrach ihn:

»Fertig.«

»Wurde auch Zeit.«

»Sie mich auch. Wollen Sie lieber auf meinen schriftlichen Befund warten?«

»Erzählen Sie schon, verdammt noch mal. Diesen Radau hier hält ja keine Sau aus.«

Phil gab vor, sich nicht für den Bericht des Mediziners zu interessieren und spitzte die Ohren.

»Der Mann ist aus nächster Nähe im Stehen erschossen worden. Ein Schuss genau zwischen die Augen.«

»Kaliber .45, HK45 vielleicht«, unterbrach eine Technikerin, den Plastikbeutel mit einem Projektil in der Hand. »Es steckte auf Augenhöhe im Büchergestell hinter der Leiche.«

»Todeszeitpunkt?«

»Vermutlich heute Abend zwischen sechs und sieben«, antwortete der Rechtsmediziner. »Genaueres nach der Obduktion.«

»Kampfspuren?«

Mediziner und Technikerin schüttelten den Kopf. Die Beamtin, die Gedanken lesen konnte, trat herbei.

»Die Tür zum Hausflur stand offen. Herr Rosenblatt muss den Täter oder die Täterin hereingelassen haben, ohne Verdacht zu schöpfen.«

Der Mediziner verabschiedete sich mit angedeutetem Kopfnicken, ohne von jemandem beachtet zu werden.

»Er muss sofort tot gewesen sein, nicht wahr?«, fragte Phil leise.

Fischer zuckte nur die Achseln. Seine Partnerin zeigte mehr Mitgefühl.

»Davon ist auszugehen«, stimmte sie mit besorgtem Blick zu. »Besser?«

»Geht so. Wenigstens musste er nicht auch noch leiden, der arme Jakob. Wer tut so etwas?«

»Wo waren sie zwischen sechs und sieben Uhr heute Abend?«, fragte Fischer ungerührt.

Der Mann nervte. Phil war versucht, ihm einfach den Rücken zu kehren und sich in der nächsten Kneipe volllaufen zu lassen.

»Sie fragen mich jetzt nicht ernsthaft nach einem Alibi«, zischte er wütend. »Ich habe die Polizei alarmiert, schon vergessen?«

Fischer blickte stur durch ihn hindurch und wiederholte die Frage.

»Ich war bei der Arbeit wie gesagt. PR-Agentur Stein in Köln.«

Fischers Augenbrauen schossen bis zum Anschlag in die Höhe.

»Ist das verboten?«, fragte Phil provozierend.

Verblüfft stellte er fest, wie sich Fischers Lippen zu einem spöttischen Lächeln verformten.

»Sie arbeiten also für den guten John Stein im Kölnturm.« Mit einem Seitenblick auf seine Partnerin fügte er hinzu: »Überprüfen!«

»Ob John Stein gut ist, ist Ansichtssache.«

Er hatte genug von Fischers Show, aber der Kommissar war noch nicht fertig.

»Steckt der liebe John hinter der neusten Hetzkampagne im Netz, die das halbe LKA auf Trab hält? Ihre PR-Agentur ist doch auf Müll wie Facebook und Twitter spezialisiert. Stimmt’s oder habe ich recht?«

»Was hat das jetzt wieder mit Jakobs Tod zu tun?«, brauste er auf. »Im Übrigen beschäftige ich mich nicht mit Steins Kampagnen. Ich bin für die Softwareentwicklung zuständig. War›s das?«

Fischers Partnerin konnte nicht nur Gedanken lesen, sie arbeitete auch schnell.

»Das Alibi ist bestätigt«, stellte sie fest.

Fischer nahm es widerwillig zur Kenntnis und herrschte ihn an:

»Morgen um zehn im LKA Düsseldorf fürs Protokoll.«

»Als hätte ich nichts Besseres zu tun«, brummte er und ging über die Straße zu seinem Haus. Dessen Nummer kannte er immerhin auswendig. Die Kneipe war keine Option mehr. Die Bemerkung des Kommissars über die Hetzkampagne im Netz ließ ihm keine Ruhe. Er stieg zur Wohnung hinauf und setzte sich an den Computer. Eher widerwillig loggte er sich in seinen Twitter-Account ein. Die unsozialen Netzwerke, wie er sie nannte, interessierten ihn nur aus der Sicht des Ethnologen. Wie der Völkerkundler das Verhalten eines unbekannten Stammes erforscht, beobachtete er die Reaktion der Benutzer auf gezielt gestreute Reize. Das Netz mit seiner Milliarde Nutzer war hervorragend geeignet, mehr über die menschliche Psyche zu erfahren. Er schmunzelte beim scheinbaren Widerspruch, ausgerechnet die Spielwiese voller Falschmeldungen und abstruser Verschwörungstheorien zur Analyse des menschlichen Geistes zu verwenden. Die Methode schien zu funktionieren – und wie!

Nach kurzer Zeit verschwand sein Lächeln. Blankes Entsetzen packte ihn. Die Hetze im Netz entlud sich explosionsartig gegen einen Mann, den er kannte, denn er wohnte gegenüber in Jakobs Haus, immer dann, wenn er eine Auszeit vom Politik-Zirkus in Brüssel brauchte. Das war ziemlich häufig der Fall. Dann brannte schummriges Licht hinter roten Vorhängen in seiner Wohnung wie in einem Puff, so wie jetzt. Nur das übliche Schattenspiel fehlte an diesem Abend.

Tom Fischer ging in den Hausflur zurück und schloss die Tür hinter sich, nachdem der Leichenwagen mit den sterblichen Überresten des Antiquars abgefahren war. Mit leidender Miene hielt er seiner Partnerin zur Versöhnung eine zerknitterte Tüte hin.

»Gummibärchen?«

Sie schüttelte wie üblich den Kopf und fragte zurück:

»Aspirin?«

Er würgte zwei Tabletten trocken hinunter. Sein Schädel würde deswegen nicht weniger brummen. Da musste man schon mit anderem Geschütz auffahren.

»Wo bleiben die verdammten Rückmeldungen? Schlafen die alle noch? Befragt keiner die Hausbewohner?«

»Viele sind es nicht. Gerade mal zwei Parteien wohnen hier nebst Herrn Rosenblatt. Seine Wohnung befindet sich im ersten Stock über dem Laden. Die Spusi hat nichts Auffälliges entdeckt, was mit dem Mord in Verbindung stehen könnte.«

»Weiter oben? Hat denn kein Schwein diesen Schuss gehört?«

Sie schüttelte den Kopf. »Wir müssen annehmen, dass der Täter einen Schalldämpfer benutzt hat.«

»HK45 mit Schalldämpfer, Schuss aus nächster Nähe zwischen die Augen – ein Professioneller?«

Sie zuckte die Achseln. »Vielleicht sollte es so aussehen. Ein Auftragskiller hätte allerdings zur Sicherheit auch noch …«

»Auch noch in die Brust geschossen, ich weiß, bin ja kein Anfänger«, unterbrach er schnaubend. »Was ist mit den anderen Stockwerken?«

»In der zweiten Etage wohnt ein Ehepaar Weber. Die sind seit einer Woche auf Kreuzfahrt im hohen Norden, kehren erst nächstes Wochenende zurück.«

»Und zuoberst? Da brennt Licht. Die müssen etwas bemerkt haben.«

Wieder schüttelte sie den Kopf. Es wurde allmählich zur Gewohnheit, was seine Laune nicht verbesserte.

»Die ganze oberste Etage hat ein gewisser Albrecht Scholz gemietet, der bei der EU in Brüssel arbeitet, als Lobbyist der deutschen Automobilindustrie.«

»Endlich mal ein vernünftiger Job. Was hat denn so einer in einem Kaff wie Aachen zu suchen?«

»Wir sind dran. Der Background Check des Opfers und aller Anwohner läuft.«

»Die sollen sich mal ein wenig Mühe geben. Und vergesst unsern Freund Phil Schuster nicht.«

»Bin ich eine Anfängerin?«

Er überhörte den Kommentar, sagte nur:

»Dieser Lobbyist Scholz hat wohl auch nichts gehört oder gesehen, richtig?«

»Keine Ahnung, er sagt bisher gar nichts. Niemand hat bis jetzt auf unser Läuten und Klopfen reagiert.«

Er traute den Ohren nicht. Sein Gesicht lief rot an.

»Herr Scholz ging wohl kurz Zigaretten holen, was?«, schnauzte er sie an. »Tür aufbrechen! Gefahr im Verzug, schon mal gehört?«

Sie wandte sich kommentarlos ab, drehte sich jedoch nach zwei Schritten nochmals um.

»Was? Noch so eine Überraschung überlebe ich nicht«, seufzte er händeringend.

Sie ließ sich nicht beeindrucken.

»Ich fürchte, da müssen Sie durch, Chef. Bei der Hintergrundprüfung ist unserem Analytiker aufgefallen, dass möglicherweise eine Verbindung zwischen dem Lobbyisten Albrecht Scholz und Phil Schuster besteht.«

Die Welt hörte kurz auf zu drehen. Die Überraschung ließ ihn verstummen. Seine Augen hingen an ihren Lippen, als wäre sie im Begriff, Tausender-Chips zu spucken.

»Sie haben doch selbst die Schmutzkampagne im Netz erwähnt. Sieht so aus, als sei Herr Scholz im obersten Stock das Ziel der Angriffe unter dem Hashtag #PlayboyScholz auf Twitter.«

Er räusperte sich kraftvoll und spuckte dabei aus Versehen sein Gummibärchen aus. »Was hat das mit Phil Schuster zu tun?«

»Vielleicht nicht so viel, wie wir vermuten. Die Hetze hat aber mit einigen Kommentaren eines gewissen @philister begonnen. Bisher konnten wir diesen Philister nicht identifizieren, aber ich denke, wir müssen den guten Phil Schuster zu diesem wohlklingenden Pseudonym befragen.«

»Und ob«, krächzte er, »das erledige ich.«

Beim Verlassen des Hauses fing ihn ein junger Uniformierter ab.

»Was ist? Ich bin in Eile, wie man sieht.«

»Entschuldigung Herr Hauptkommissar, ich denke, es ist wichtig.«

»Na was denn? Lassen Sie›s endlich raus, Mann!«

»Wir haben übereinstimmende Aussagen zweier Zeugen von gegenüber. Sie behaupten, ein Polizist sei ungefähr zur Tatzeit aus dem Haus gekommen und auf dem Motorrad Richtung Seilgraben davongefahren.«

»Ein Kollege?«

Der junge Mann nickte. »Motorradstreife, wie es scheint.«

»Diesen Kollegen müssen wir so schnell wie möglich finden.«

Der junge Polizist guckte verlegen aus der Wäsche.

»Was ist jetzt schon wieder?«

»Das Problem ist: Es gab zu der Zeit keine solche Streife in der ganzen Stadt. Wir haben alle Wachen angefragt. Niemand weiß etwas von diesem Kollegen.«

Fischer spürte einen bitterem Geschmack im Mund, schob sich ein gelbes Gummibärchen ein und befahl:

»Weiter suchen!«

In Gedanken versunken betrat er das Haus, in dem Schuster wohnte. Der Kollege auf dem Motorrad war möglicherweise keiner. Dirty Harry – Phantom Harry, schoss ihm spontan durch den Kopf. Unwillkürlich fröstelte ihn. Aus Schusters Wohnung im zweiten Stock drang gedämpfte Klaviermusik. Er läutete und klopfte gleichzeitig. Kurz bevor er die Nerven verlor, öffnete Schuster die Tür einen Spaltbreit.

»Sie schon wieder. Ich hätte es mir denken können«, seufzte er und ließ ihn eintreten.

»Machen Sie das Geklimper aus. Wir müssen reden.«

»Das Geklimper nennt sich Nocturne Opus neun Nummer zwei von Frédéric Chopin, und am Flügel sitzt Maurizio Pollini. Nocturne ist übrigens französisch und bedeutet Nachtstück, passt also.«

»Ich bin nicht gekommen, um mir eine verdammte Vorlesung anzuhören, und der Herr Pollini soll sich meinetwegen aufs Klo setzen.«

Schuster erwies ihm immerhin die Gnade, die Musik leiser zu stellen, sodass er den Apparat nicht erschießen musste.

»Worüber wollten Sie mit mir reden? Ich habe alles gesagt, was ich weiß.«

»Genau das glaube ich nicht. Kennen Sie einen Herrn Albrecht Scholz?«

Täuschte er sich, oder sah Schusters Gesicht plötzlich blasser aus? Der junge Mann verbarg etwas wie vermutet. Zu seinem Erstaunen trat Schuster nach kurzem Zögern die Flucht nach vorn an.

»Den Playboy gegenüber?«, fragte er scheinbar amüsiert.

Fischers Zunge schob den klebrigen Rest des Gummibärchens einige Mal hin und her, während er auf mehr wartete.

»Klar kenne ich den Playboy Scholz«, fuhr Schuster fort. »Der wohnt in Jakobs Haus. Ich wette, jeder in unserer Straße kennt ihn. Der ist ja nicht zu übersehen bei seinem Lebensstil. Die Tussis, die er dauernd anschleppt – manchmal zwei oder drei gleichzeitig.«

»Aber nicht jeder nennt ihn Playboy Scholz, Hashtag PlayboyScholz, um genau zu sein, nicht wahr, Herr Philister?«

Treffer!, dachte er, denn Schuster hatte die Sprache verloren. Der Triumph währte nicht lange. Schuster setzte ein gezwungenes Lächeln auf und gab vor, kein Wort zu verstehen.

»Sie sind dieser Philister auf Twitter, der die Hetze gegen Herrn Scholz angezettelt hat. Warum?«

Der Frontalangriff verfehlte die Wirkung. Schuster hatte sich wieder gefasst.

»Ich verstehe immer noch nur Bahnhof«, behauptete er kühl und drehte die Musik lauter.

Er war jetzt überzeugt, dass Phil Schuster dieser Philister war, und fragte sich, weshalb er so ein Geheimnis daraus machte. Hetze im Netz war ja noch keine Straftat. Irgendetwas an diesem Schnösel störte ihn gewaltig. Im Moment waren ihm leider die Hände gebunden.

»Was interessiert Sie überhaupt der Scholz?«, fragte Schuster gereizt. »Ich dachte, Sie suchen den Mörder des bedauernswerten Jakob Rosenblatt.«

»Genau das machen wir.« Er verließ die Wohnung mit der Warnung: »Zehn Uhr im Präsidium.«

Kaum im Treppenhaus, erreichte ihn der Anruf seiner Partnerin.

»Das müssen Sie sich ansehen, Chef, sofort!«, sagte sie aufgeregt. »Wir sind in der Wohnung von Albrecht Scholz.«

Die Tür zur Wohnung des Lobbyisten Scholz wies keinerlei Einbruchspuren auf.

»Sie war nicht verschlossen«, bestätigte ein Techniker.

Als er eintrat, schlug ihm eine Wolke süßlichen Parfüms der billigen Sorte entgegen, das zum gedämpften Rotlicht passte. Für einen Augenblick wähnte er sich im Puff über der Bar, die er einst als Drogenfahnder hochgenommen hatte. Eine Mitarbeiterin der Kriminaltechnik war dabei, Scheinwerfer zu installieren, um die Szene fotografieren zu können. Geblendet vom plötzlich aufflammenden Flutlicht, kniff er fluchend die Augen zu. Was er auf den ersten Blick gesehen hatte, verdarb ihm die Lust auf weitere Süßigkeiten.

»Ihr habt nichts verändert?«, fragte er zur Sicherheit, was ihm nur strafende Blicke eintrug.

Die Partnerin fasste zusammen:

»Der Tote heißt Albrecht Scholz, der Besitzer dieser Wohnung. Er lag so gekrümmt am Boden, als wir eintraten. Die Wohnungstür war übrigens nicht verschlossen, keine Einbruchspuren.«

»Habe ich auch bemerkt, stellen Sie sich vor«, brummte er.

Die Leiche lag mitten im Wohnzimmer. Erstaunlich wenig Blut hatte sich auf dem Teppich unter dem Kopf ausgebreitet.

»Verblutet ist er nicht«, murmelte er wie zu sich selbst.

Die Partnerin wagte zu spekulieren:

»Sieht aus, als hätte er sich hinknien müssen und wäre mit einem Genickschuss getötet worden.«

Für einmal stimmte er ihr uneingeschränkt zu.

»Es war eine Hinrichtung«, stellte er fest, »eine verdammte Hinrichtung wie die Chinesen sie praktizieren, um Kosten für den Knast zu sparen. Wo bleibt eigentlich unser Medizinmann?«

Der Rechtsmediziner trat ein, während die Technikerin die letzten Fotos schoss.

»Gut geschlafen?«, begrüßte er ihn.

Ein wütender Blick streifte ihn. »Das nächste Mal sollten Sie vielleicht gründlicher nachsehen, bevor sie mich ziehen lassen, Sherlock Holmes.«

Die Arbeit des Mediziners war schnell erledigt.

»Chirurgisch präziser Genickschuss wieder aus nächster Nähe«, diagnostizierte er, »hätte ich nicht besser hingekriegt.«

»Wann?«

»Vor drei, vier Stunden schätze ich.«

»Also zur selben Tatzeit zwischen sechs und sieben heute Abend. Irgendwelche Abwehrverletzungen?«

Der Mediziner schüttelte den Kopf. »Die Obduktion wird zeigen, ob es Fremd-DNA unter den Fingernägeln gibt aber sonst …« Nach kurzem Zögern fügte er grinsend hinzu: »Ist auch nicht verwunderlich.«

Da der Arzt schweigend begann, sein Besteck einzupacken, herrschte er ihn an:

»Finden Sie das lustig? Warum hat er sich nicht gewehrt?«

»Sehen Sie mal in jenem Aschenbecher nach und riechen Sie daran.«

»In diesem Boudoir riecht man gar nichts außer Nutten-Parfüm.«

»Der Mensch riecht halt nur, was er kennt«, murmelte der unverschämte Medizinmann laut genug, dass er es hörte.

»Marihuana?«, wagte die Partnerin einzuwerfen.

»Da hören Sie›s, Herr Hauptkommissar. Der Mann war bekifft, als er die letzte Reise antrat. Vielleicht nicht die schlechteste Idee. Genaueres nach der Obduktion.« Bevor er das Zimmer verließ, fragte er die Partnerin dreist: »Sind Sie sicher, überall nachgesehen zu haben?«

Die Bemerkung traf nicht sie, sondern ihn. Er stieß einen leisen Fluch aus und zischte:

»Eines Tages knöpfe ich mir die Sau vor!«

Eine Mitarbeiterin der Spurensicherung hielt ihm den Plastikbeutel mit dem sichergestellten Projektil hin, das den Körper des Opfers durchschlagen hatte und im Parkett stecken geblieben war.

»Kaliber .45 wie im Antiquariat, vermutlich dieselbe Waffe.«

Die Partnerin trat mit einem andern Beweisstücke herbei.

»Das hier war definitiv eine geplante Hinrichtung, Chef.«

In der Plastiktüte befand sich ein Zettel. Der Text, dessen Buchstaben aus einer Zeitung ausgeschnitten waren, lautete:

WIR KRIEGEN EUCH ALLE.

DIE GESCHWORENEN.

»Der Zettel lag unter diesem Stein auf dem Tisch«, fügte sie hinzu, auf einen zweiten Beutel deutend.

»Was soll ich mit einem Scheiß Stein?«, fauchte er.

Der Text wühlte ihn auf. Die offene Drohung jagte seinen Puls in die Höhe. Am meisten ärgerte ihn, dass er es nicht verhindern konnte. Seine Partnerin war solche Stimmungsschwankungen gewohnt. Sie sprach ruhig aus, was er dachte:

»Wenn es kein übler Scherz ist, kommt wohl noch einige Arbeit auf uns zu, Chef.«

Er nickte. Nahm man den Text ernst, gab es nur eine Interpretation: Die Hinrichtung des Albrecht Scholz war erst der Anfang. Noch etwas erkannte er klar. Es handelte sich bei beiden Morden höchstwahrscheinlich um denselben Täter, aber die Vorgehensweise im Fall des Antiquars unterschied sich grundlegend von dieser Tat. Jakob Rosenblatt war nicht Opfer einer sorgfältig geplanten Hinrichtung geworden. Der Täter hatte ihn einfach kurzerhand beseitigt, wie man eine lästige Fliege klatscht.

»Scholz war das eigentliche Ziel«, sagte er nachdenklich, »Rosenblatt vielleicht nur ein lästiger Zeuge.«

Die Partnerin stimmte zu:

»Habe ich mir auch gedacht. Die Umstände zeugen jedenfalls von äußerst skrupellosem Vorgehen.«

»Also doch ein Profi?«

»Oder ein Psychopath.«

Ihm graute jetzt schon vor den tausend Fragen, die sie nun beantworten mussten, stets die Drohung dieses verfluchten Zettels im Nacken. Der Täter oder die Täterin würde wieder zuschlagen, plante vielleicht schon die nächste Hinrichtung. Wie sonst sollte er diese Drohung verstehen? Er hoffte inständig, es nicht mit einem Psychopathen zu tun zu haben. Die brauchten nicht einmal ein lausiges Motiv für ihr krankes Verhalten.

»Haben Sie je von solchen Geschworenen gehört, Chef?«

Er verneinte. Im schlimmsten Fall hatten Sie es mit einem ganzen Nest von Psychos zu tun, die aus Gott weiß was für Gründen Herr über Leben und Tod spielten.

»Gibt es immer noch keine Spur von Phantom Harry?«, fragte er.

Die Umstehenden stutzten. Es dauerte einige Sekunden, bis die Partnerin einen Gang höher schaltete.

»Sie meinen den Geister-Cop?«, grinste sie.

»Wenn es ihn denn gibt.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das Phantom bleibt wie vom Erdboden verschluckt wie sein Motorrad.«

»Bloß die Leichen sind leider keine Phantome«, knurrte er.

Ihm reichte es für heute. Er brauchte dringend etwas zum Entspannen.

»Sie wissen, was zu tun ist«, sagte er müde zur Partnerin.

Er wandte sich ab, ging zur Tür und stoppte innerlich fluchend. Die breitschultrige Gestalt des Staatsanwalts versperrte ihm den Weg. Widerstrebend setzte er das falsche Lächeln auf, das er für falsche Kumpels aller Art stets bereithielt.

»Jupp, schön dich zu sehen«, sagte er, ohne Anstalten zu machen, dem Staatsanwalt die Hand zu schütteln.

»Schon die zweite Leiche an diesem Abend«, stellte Jupp Wagner mit einem angewiderten Blick ins Wohnzimmer trocken fest.

Er korrigierte:

»Genau genommen ist das die erste Leiche, Jupp. Der Antiquar unten war Nummer zwei. Meine Kollegin wird dir alles ausführlich erklären. Ich empfehle mich.«

Jupp hielt ihn am Ärmel zurück. »Nicht so schnell, Tom. Nach zwei Morden am selben Abend im selben Haus und offensichtlich ohne familiären Zusammenhang empfiehlt sich hier kein leitender Ermittler. Nicht einmal ein Kumpel aus dem Schützenverein, mit dem ich hin und wieder ein Kölsch gekippt habe.«

»Altbier«, verbesserte er ärgerlich, »aber unter diesen Umständen würde ich sogar ein Kölsch saufen.«

Jupp könnte ihm ohne Zögern die Hölle heißmachen, also blieb er in Gottes Namen am Tatort und hörte sich den Bericht der Partnerin zusammen mit dem Staatsanwalt an.

»Ein Phantom als Polizist in Aachen? Ich dachte, der Karneval wäre seit einem halben Jahr vorbei«, brummte Jupp angewidert. »Mehr habt ihr nicht?« Nach einem letzten Blick auf die sterblichen Überreste des Albrecht Scholz fügte er hinzu: »Das sieht mir eher nach Mafia-Methoden aus. Müssen wir diese Geschworenen ernst nehmen?«

»Werde ich morgen überleben? Ich weiß es nicht«, gab Fischer giftig zurück. »Wir stehen ganz am Anfang, Jupp, können nur spekulieren.«

Er überließ es der Partnerin, sich in die Nesseln zu setzen und den Verdacht zu äußern, den sie kurz besprochen hatten.

»Möglicherweise hängt diese Hinrichtung mit der Hetzkampagne im Netz gegen Herrn Scholz zusammen.«

Widerwillig trat Jupp zur Seite, um den Bestattern mit dem Sarg auszuweichen.

»Welche Hetzkampagne? Netz? Ich verstehe kein Wort.«

Statt zu antworten, zeigte ihm die Kollegin eine Reihe Tweets auf dem Handy, die unter anderem die Eliminierung des Schmarotzers Scholz forderten. Jupp lachte trocken auf.

»Das ist doch Kinderkram. Kein Mensch nimmt den Quatsch ernst.«

»Scheinbar doch«, widersprach Fischer.

Trotz der spöttischen Bemerkung schien der Staatsanwalt einigermaßen verunsichert. Die Gelegenheit war günstig, auszusprechen, was er vorher nicht gewagt hatte.

»Der Typ, der den Mord am Antiquar gemeldet hat, spielt möglicherweise eine Hauptrolle in dieser Hetzkampagne, Jupp.«

»Der Hacker von gegenüber? Wundern täte es mich nicht. Gibt es irgendwelche Beweise gegen den Mann?«

»Um die zu finden, müssten wir seine Wohnung durchsuchen, den Computer beschlagnahmen.«

»Ihr wollt einen Durchsuchungsbeschluss auf dieser dürftigen Beweislage? Der Richter würde mich auslachen, dann müsste ich dich erschießen. Willst du das, Tom?«

»Verdammt! Phil Schuster tobt als Philister auf Twitter gegen unser Mordopfer. Das ist doch kein Zufall.«

»Er hat also zugegeben, dieser Philister zu sein?«

Das Schweigen im Boudoir war unerträglich. Jupp wandte sich ab.

»Bringt mir einen Beweis, dann habt ihr euren Durchsuchungsbeschluss«, murmelte er beim Verlassen der Wohnung.

Nach dem Staatsanwalt flüchtete auch er und versuchte, sich ungesehen davonzustehlen wie Phantom Harry. Es half nicht. Draußen überfiel ihn eine Meute Zeitungsfritzen, allen voran die blonde Bitch von der Kölner Abendzeitung. Der Scheinwerfer des Lokalfernsehens folgte ihm auf Schritt und Tritt, als wäre er auf dem Weg ins Dschungelcamp.

»Herr Hauptkommissar, können Sie den Mord an Albrecht Scholz bestätigen?«, rief ihm die Bitch ins Ohr, als stünde er in Köln statt neben ihr.

Er wehrte mit beiden Händen ab. »Ich habe nichts zu sagen. Wir stehen ganz am Anfang der Ermittlungen.«

Julia Hahn ließ nicht locker. »Es gab heute Abend zwei Todesfälle in diesem Haus. Wer sind die Opfer, und gibt es einen Zusammenhang?«

Natürlich gibt es einen Zusammenhang, dumme Kuh, dachte er schwitzend. Laut sagte er mit schlecht unterdrückter Erregung in der Stimme:

»Wenden Sie sich bitte an die Pressestelle. Sie kennen doch das Prozedere, Frau Hahn.«

Er dachte, es überstanden zu haben, als ihn der Hammer traf.

»Stimmt es, dass die Geschworenen mit weiteren Morden drohen?«, rief ein junger Mann aus der dritten Reihe, den er nicht kannte.

Die Frage jagte das Blut durch seine Adern, dass er glaubte, es rauschen zu hören wie den Rhein bei Hochwasser.

»Woher wissen Sie …«

Es entglitt ihm einfach. Erschrocken presste er die Lippen zusammen und nahm den Mann ins Visier, als wollte er ihm im nächsten Atemzug ein drittes Auge verpassen. Rundherum herrschte plötzlich gespenstische Stille. Die versammelte Presse hing an seinen Lippen, als wäre er im Begriff, den nächsten Karnevalsprinzen anzukündigen. Da er eine oder zwei Sekunden zu lange schwieg, flüsterte ihm die Bitch mit hämischem Grinsen ins Ohr:

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