Kitabı oku: «Unentrinnbar», sayfa 5

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Endlich fand er die Straße, die abrupt in einen Feldweg mündete. Der unbefestigte Untergrund zwang ihn, die Geschwindigkeit zu drosseln. Langsam, viel zu langsam fuhr er in den Wald hinein, sah die unauffällige Abzweigung und parkte kurz danach vor dem Forsthaus, das sich Schlösschen nannte. Der Abend war noch jung. Nur drei Autos standen auf dem Parkplatz. Den blauen Mercedes kannte er. Er atmete erleichtert auf. Sie war da.

Milan nickte ihm freundlich zu und ließ ihn eintreten, ohne nach dem rosa Kärtchen zu fragen. Der Mann musste ein phänomenales Personengedächtnis haben. In der Eingangshalle trat die Hausherrin auf ihn zu, deren Gedächtnis offenbar genauso gut funktionierte.

»Captain Hook«, grüßte sie mit strahlendem Lächeln, das ihre Zähne entblößte, als wollte sie in seine Nase beißen.

Schnell streckte er ihr die Hand entgegen, um sie auf Abstand zu halten. »In der Tat, Frau Juliane. Heute bin ich allerdings nicht zum Vergnügen hier. Ich muss dringend mit der jungen Frau sprechen, die vor etwa zwei Stunden mit dem blauen Mercedes hier eingetroffen ist. Sie nennt sich Tess. Ist sie drin?«

Juliane machte ein ernstes Gesicht. »Bedaure, aber wir legen größten Wert auf Diskretion, wie Sie wissen. Ich darf keine Auskunft über unsere Gäste geben. Aber wenn Sie eintreten möchten …«

»Nein, ich muss nur Tess dringend sprechen, verstehen Sie?«

Sie schien nicht zu verstehen. Die Frau zerrte an seinen Nerven. Er überlegte, ob er sie einfach ignorieren und Tess suchen sollte. Dabei riskierte er zumindest ein paar blaue Flecke und möglicherweise eine gebrochene Nase. Bereits streckte Milan den Kopf zur Tür herein.

»Alles in Ordnung?«, fragte er mit einem misstrauischen Blick auf Jonas.

Plötzlich wusste er, wie er die gute Juliane überzeugen konnte. »Hören Sie«, sagte er in vertraulichem Ton. »Es ist eine äußerst heikle Angelegenheit. Tess sollte eigentlich eine Therapie beginnen – Alkohol, Sie wissen schon. Da ist sie seit Tagen nicht erschienen. Jetzt lässt sie ihr Mann polizeilich suchen. Früher oder später werden die hier auftauchen und alles auf den Kopf stellen.«

»Was sagen Sie da?«, platzte Juliane aufgeregt heraus, dass ihr Mieder Mühe hatte, den wogenden Busen zurückzuhalten. »Polizei? Das fehlt uns gerade noch.«

»Eben. Diese Peinlichkeit will ich auch Tess ersparen. Ich möchte sie so schnell wie möglich diskret von hier wegbringen. Das verstehen Sie doch?«

Polizei, diskret, diese Sprache verstand Juliane ausgezeichnet. »Sie ist wahrscheinlich unten in der Bar«, murmelte sie hastig. »Kommen Sie.«

Die wenigen Gäste befanden sich erst in der Aufwärmphase. Sie vergnügten sich am Büfett im Foyer des Theaters. Tess war nirgends zu sehen. Die Grotten, Käfige und ausgeklügelten Apparaturen, an denen sie vorbeikamen, warteten noch auf die ersten Gäste. Die Bar machte den gleichen, verlassenen Eindruck, bis er die Schuhe sah, die hinter der Theke hervorguckten. Der Anblick versetzte ihm einen Stich ins Herz, denn er kannte die schwarzen High Heels.

»Tess!«, rief er von panischer Angst ergriffen und stürzte sich hinter die Theke.

Sie lag reglos am Boden, das Gesicht in einer kleinen Blutlache. Es stank nach Erbrochenem und Alkohol. Eine Hand umklammerte noch den Hals der zerbrochenen Wodka-Flasche, deren Splitter verstreut um sie herumlagen wie höhnische Grabbeigaben. Jonas fiel auf die Knie, drehte ihren Kopf behutsam zur Seite, fühlte ihren Puls, während er ihr das Haar liebevoll aus dem Gesicht strich. Unfähig zu sprechen, wartete er atemlos auf ein Lebenszeichen. Er beugte sich über sie, bis sein Ohr ihre blutverschmierte Nasenspitze berührte. Er glaubte, ihren Atem zu spüren. Seine Finger fanden endlich die richtige Stelle an ihrem Hals. Ihr Herz schlug schwach, aber es schlug.

»Sie lebt!«, krächzte er heiser. »Ein Arzt! Wir brauchen einen Krankenwagen, schnell!«

Juliane beobachtete die Szene wie gelähmt, doch jetzt erwachte sie aus ihrer Starre. Jonas sah zu, wie sie das Telefon aus ihrem Mieder kramte, dann beugte er sich wieder über seine Tess. Er konnte nicht mehr für sie tun, als sie richtig zu lagern, ihr ein weiches Kissen unter den Kopf zu schieben, sie warm zuzudecken. Sie atmete regelmäßig, reagierte aber nicht auf seine Versuche, mit ihr zu sprechen. Unendlich erleichtert stellte er fest, dass sie nicht verletzt war. Das Blut stammte von Nasenbluten, das inzwischen aufgehört hatte. Einmal schlug sie kurz die Augen auf. Er konnte nicht feststellen, ob sie ihn erkannte. Auch wenn sie nicht mit ihm sprechen konnte, ihr trauriger Anblick war Anklage genug. Er war schuld an ihrem Absturz, da gab es für ihn keinen Zweifel. Dass er sie gerade noch früh genug entdeckt hatte, bevor sie an ihrem eigenen Erbrochenen erstickte, tröstete ihn kaum. Er erkannte in den langen Minuten, während sie auf den Notarzt warteten, dass sie auf ihn angewiesen war. Er war verantwortlich für dieses zerbrechliche Wesen, das sich oft nur hinter dem Panzer des Zynismus versteckte. Die Beinahekatastrophe öffnete ihm die Augen. Er erkannte die Aufgabe, und er würde seine Verantwortung wahrnehmen, denn er liebte sie. Daran änderten auch keine Heiratsurkunden und Eheverträge irgendetwas.

Wie in Trance fuhr er hinter dem Rettungswagen durch die Nacht. Nebelschwaden reflektierten das blinkende Blaulicht, als ginge ein stilles Gewitter nieder über die schlafende Landschaft am Rande des Schwarzwalds. In der Uniklinik setzte er sich an ihr Bett und wich keine Sekunde von ihrer Seite, bis sie die Augen erneut aufschlug.

»Jonas«, wisperte sie, »verlass mich nicht.«

Sie tastete nach seiner Hand, klammerte sich fest, als fürchtete sie, er wäre nur ein Trugbild. Sie fragte nicht, was geschehen und wie sie hierher gekommen war. Nur seine Gegenwart schien ihr wichtig. Lächelnd erwiderte er ihren Händedruck.

»Ich liebe dich«, sagte er leichthin, als wären es nicht die drei Wörter, die nur unter größten Vorbehalten und begleitet von tausend Zweifeln über seine Lippen kommen durften. Nur im richtigen Augenblick bedeuteten sie mehr als eine leere Floskel, und dieser Zeitpunkt war jetzt gekommen. Sie wussten es beide wie zwei verschränkte Elementarteilchen, die nur zusammen existieren und untergehen konnten. Sie zog ihn zärtlich zu sich. Ihre Lippen trafen sich, und für kurze Zeit gab es nur noch sie zwei im endlosen Universum.

Bis die Tür mit einem Knall aufflog. Lars stürmte ins Zimmer. »Tess, um Gottes willen!«, rief er schwer atmend.

Lars gab vor, Jonas nicht zu bemerken, der sich leise in den Korridor zurückzog. Er würde die beiden eine Weile allein lassen. Nicht sehr lange, nahm er sich vor. Dann würde er sich wieder ans Bett seiner Geliebten setzen, ohne sich von Lars oder sonst wem stören zu lassen.

Die Schonzeit war noch nicht abgelaufen, als Lars aus dem Zimmer kam und mit versteinerter Miene auf ihn zutrat.

»Sparen wir uns die Höflichkeiten«, brummte er in verhaltenem Zorn. »Hätten Sie nicht möglicherweise Tess das Leben gerettet, wären Sie jetzt fristlos entlassen, Dr. Herzog. Einzig diesem Umstand haben Sie es zu verdanken, dass sie nicht hochkant rausfliegen und in keinem Pharmaunternehmen in diesem schönen Land mehr Arbeit finden. Den Job bei Hauser sind Sie ab sofort los. Melden Sie sich morgen früh bei Herrn Caprese vom Vertrieb. Er wird Ihnen die letzte Chance in dieser Branche bieten. Ich kann nur raten: Ergreifen Sie diesen Strohhalm – und lassen Sie endgültig Ihre dreckigen Finger von meiner Frau.«

Seltsamerweise berührte Jonas die unerwartete Standpauke nicht mehr als ein Schnitt beim Rasieren. Er warf dem CEO von ›BWpharm‹ einen verächtlichen Blick zu und ging zurück ins Krankenzimmer. Dort beugte er sich lächelnd über das blasse Gesicht im Meer der roten Haare. Er küsste Tess sanft auf die Stirn und murmelte: »Alles wird gut.«

Kapitel 4

Gestüt Walpurga, Badenweiler

Jonas zog seinen Arm vorsichtig unter dem Kopfkissen hervor, um Tess nicht zu wecken. Neben ihr aufzuwachen war nichts Ungewöhnliches mehr. In ihrem Bett auf dem Gestüt des Holzbrinck-Brüderle-Clans aufzuwachen hingegen schon. Ein schneeweißer Zuckerguss überzog die Weide, das Gebüsch und den Wald draußen vor dem Fenster zur Terrasse. Sein Blick kehrte zurück ins Zimmer. Welch ein Wandel, dachte er schmunzelnd. Vor ihm lag nicht mehr die zerbrechliche Porzellanpuppe mit dem unendlich traurigen Gesicht wie noch vor Kurzem im Spitalbett. Diese Tess mit dem zarten Rosa auf den Wangen, dem angewinkelten Bein über der Decke, als wollte sie im nächsten Moment aufspringen in den neuen Tag, diese Tess sprühte selbst im Schlaf vor Lebensfreude. Ein warmer Schauer lief ihm über den Rücken. Diese Augenblicke, die Stunden mit Tess waren ihm Lohn genug, um die drohenden schwarzen Wolken wenigstens zu verdrängen, die sich über seiner beruflichen Zukunft zusammenzogen. Seit er seinen Fuß unfreiwillig ins Reich des Vertriebsleiters Caprese gesetzt hatte, nur um Tess möglichst nah zu bleiben, arbeitete er in einem Irrenhaus. So kam ihm jedenfalls das mittlere Kader der rasenden Generika-Verkäufer vor, zu dem er sich dank überragender Bildung neuerdings zählen durfte. Caprese war ein Sklaventreiber, dessen Mathematik sich auf stark monoton wachsende Umsatzkurven beschränkte. Jonas’ echter Doktortitel förderte den Umsatz, war wohl sein Trugschluss. Er und sein Chef würden bald feststellen, wie sehr sie sich irrten. Jonas Herzog, Forscher aus Berufung, seit er denken konnte, ein Verkäufer! Ein Klinkenputzer, ein Drücker, der ahnungslose Ärzte und Apothekerinnen mit Gratisreisen und steuerfreien DVD-Playern an die Generika der ›BWpharm‹ binden sollte – eine groteske Vorstellung.

Hausers Abteilung verkraftete seinen überraschenden Wechsel entschieden schlechter als er selbst. Dennoch traute er Patrick und dem Rest des ehemaligen Teams zu, das Projekt ›XORACIN‹ zu einem guten Abschluss zu bringen. Sein kreativer Beitrag war geleistet. Das Unternehmen würde im Lauf der folgenden Jahre Millionen sparen bei der Herstellung des Medikaments und entsprechend höhere Margen kassieren. In dieser Beziehung fühlte er sich den Leuten nicht weiter verpflichtet. Er war sozusagen vogelfrei im Unternehmen des Herrn Brüderle, der ihn nicht hinauszuwerfen wagte, um das Holzbrinck’sche Erbe nicht zu gefährden. Dafür sorgte Tess mit Nachdruck. Warum also sollte er nicht das Spesenkonto der ›BWpharm‹ ausschöpfen, solange niemand etwas dagegen unternahm? Nur eines störte ihn bei seinem neuen Steckenpferd: Die häufigen Reisen in die Deutschschweiz und nach Bayern, Landesteile, für die er auf dem Papier verantwortlich war. Schade konnte Tess Hotelzimmer nicht ausstehen. Die sinnlosen Geschäftsreisen hätten mit ihrer Begleitung unvergessliche Erlebnisse werden können. Einmal war es ihm beinahe gelungen, sie für eine kurze Reise nach Basel zu gewinnen. Dass Lars dabei doppelt für sie zahlen würde, war ein unglaublich starkes Argument.

»Davon träume ich die ganze Zeit«, lachte sie, als er nackt aus der Dusche kam.

»Lars auch«, grinste er.

»Da könntest du recht haben, falls er überhaupt träumt. Jetzt hat er wohl kaum Zeit dazu.«

»Gut für ihn. Wie lange bleibt er in Berlin?«

Sie zog sich ein transparentes, schwarzes Nichts über, das sie als Morgenmantel benutzte, und antwortete verschmitzt: »Du brauchst dich nicht zu beeilen.«

»Na dann«, seufzte er scheinbar erleichtert und ließ sich aufs Bett fallen.

Zu seiner Verblüffung zog sie ihn wieder hoch. »Aufstehen«, befahl sie. »Mitkommen. Ich habe eine Überraschung für dich.«

Er hatte gerade noch Zeit, seinen Bademantel überzuwerfen, bevor sie aus dem Zimmer verschwand. Sie führte ihn die Dienstbotentreppe hinunter in die Bibliothek.

»Willst du mir die Geschichte der Lady Chatterley vorlesen?«, fragte er verwundert.

»Ich wette, die kennst du auswendig. Nein, mir schwebt etwas ganz anderes vor.«

Er glaubte zu ahnen, worauf der morgendliche Bibliotheksbesuch im Negligé hinauslief und sah sich nach geeignetem Mobiliar um, als sie ihn wieder überraschte.

»Setz dich«, verlangte sie, zeigte auf einen der unbequemen Biedermeiersessel und entschwebte in ihrem durchscheinenden Feengewand wie Tinker Bell aus Peter Pans Dachkammer zum Fenster hinaus. Nicht hinaus natürlich, dafür war es draußen zu kalt. Bei der Bücherwand, die das fast raumhohe Fenster umrahmte, hielt sie an und begann, einen schweren Wälzer nach dem andern aus einem Regal zu räumen, das sie gerade noch erreichen konnte. »Du könntest mir eigentlich helfen, Großer«, entschied sie beim dritten Band. »Komm her.«

Gehorsam trat er hinzu und zog zwei weitere Bücher aus dem Regal: das BGB mit zugehörigen Gesetzen und EG-Richtlinien und seinen fettsüchtigen Bruder, das HGB, unter besonderer Berücksichtigung des Wettbewerbsrechts. Beide neuwertig.

»Verrätst du mir, was das werden soll?«, fragte er verwundert. Kaum hatte er es gesagt, glaubte er zu verstehen. »Ein Safe«, murmelte er albern beim Anblick der schmalen Stahltür mit dem Zahlenschloss.

»Ich wusste, du würdest ihn finden«, spottete sie.

Sie schloss für einen Moment die Augen, dann tippte sie behutsam die sechs Ziffern des Codes ein. Das Schloss entriegelte mit einem metallischen Klick, die Tür sprang auf.

»Reichlich fantasielos von Lars – das eigene Geburtsdatum«, lachte sie.

»Passt ganz gut zu ihm«, stimmte Jonas zu. »Und was soll da drin sein? Die Kronjuwelen? Hast du dich endlich entschlossen, mit mir durchzubrennen?«

»Wer weiß, vielleicht sind es die Kronjuwelen«, sinnierte sie. »Lars scheint das Versteck jedenfalls wichtig zu sein. Du erinnerst dich, was ich dir über den Streit vor dem Blackout erzählt habe?«

»Ungern.«

Am liebsten hätte er alles, was an die schlimme Geschichte im ›Forstschlösschen‹ erinnerte, für immer vergessen. Ihr Absturz war viel mehr als ein kurzer Filmriss. Er wusste jetzt, dass sie sich damals umbringen wollte mit einem tödlichen Cocktail aus Schlaftabletten und Wodka.

»Ich hab dir nicht alles erzählt. Lars wollte mir weismachen, du würdest mich nur benutzen, um an seine Akten zu kommen. Er glaubte, du hättest in der Bibliothek danach gesucht. Darum hättest du mich hier beglückt, wie er es formulierte.«

»Akten? Welche Akten? Das ist doch von vorn bis hinten erstunken und erlogen …«

»Ich weiß«, lächelte sie. »Ich würde mich daran erinnern, aber das können wir jetzt nachholen. Werfen wir doch einen Blick in sein Schließfach, was meinst du?«

Lars war ein hinterhältiger Intrigant. Er verdiente nichts Besseres. Der erste Blick in den Safe enttäuschte. Er war leer bis auf ein paar unbeschriftete Kassetten, wie man sie früher in Diktiergeräten verwendet hatte. Sie lagen auf drei Mappen mit Dokumenten.

»Nun?«, fragte Tess ungeduldig, nachdem er die Mappen kurz angesehen hatte.

»Ich weiß nicht – scheint ziemlich altes Zeug zu sein.«

»Vielleicht sind es die Kassetten …«

»Möglich. Gibt’s irgendwo ein Abspielgerät?«

Sie zuckte die Achseln. »In seinem Büro eventuell.«

Er nahm sich nochmals die Dokumente vor. Auch sie mussten von besonderer Bedeutung sein. Weshalb würde er sie sonst in dieses Geheimfach stecken? Zwei Mappen waren lediglich mit Jahrzahlen beschriftet. Die letzten Jahre der Ära Holzbrinck, bevor Lars die Firmenleitung übernahm. Peinliches, um den alten Patron bei Laune zu halten? Die Anschrift der dritten Mappe klang vielversprechender: ›LIPEXIN‹.

»Was soll daran interessant sein?«, brummte Tess enttäuscht, als er darauf deutete.

»Weiß ich auch noch nicht. ›LIPEXIN‹ ist das Generikum eines bekannten Cholesterinsenkers aus dem Hause ›BWpharm‹.«

Sie rümpfte die Nase. »Ein Medikament.«

»Eben. Ich frage mich, was Unterlagen über ein Medikament in diesem Geheimfach zu suchen haben. Irgendetwas stimmt nicht mit diesem ›LIPEXIN‹. Da verwette ich meine Hose.«

»Welche Hose?«

»War natürlich symbolisch gemeint. Nein im Ernst: Diese Sache stinkt. Gibt es ein Kopiergerät im Haus?«

»In seinem Büro. Das weiß ich sicher.«

Fünf Minuten später stand er im Nordwestflügel des Haupthauses vor Lars’ Kopiergerät. Nur mit dem Bademantel bekleidet, sah er dem Automaten zu, wie er gemächlich ein Blatt nach dem andern einzog, summend abtastete, unter Ächzen wendete, wieder abtastete und schließlich nach einer Ewigkeit die Kopie auswarf. Ungefähr im gleichen Tempo hatten die Mönche früher die Bibel abgeschrieben. Er wäre beinahe eingenickt, als plötzlich die Tür aufflog. Blass vor Schreck starrte Tess ihn an und keuchte:

»Lars ist da.«

»Ich sollte mir etwas anziehen«, stellte er nach einer Schrecksekunde fest.

»Mach schon! Gib mir die Mappe und verschwinde in mein Zimmer.«

Lars’ überraschende Rückkehr erschütterte sie weit mehr als ihn. Nur in seinem Bademantel wollte er ihm nicht begegnen. So etwas schwächte die Verhandlungsposition. Tess entriss ihm hastig die Dokumente und eilte hinaus. Sie vergaß, ihn zu informieren, wo Lars sich aufhielt, sodass der Weg zurück zu ihrem Zimmer und seinen Kleidern eine Art Geisterjagd wurde, bei der er der Geist war. In der Nähe ihres Zimmers hörte er plötzlich Stimmen.

»Natürlich ist er da«, behauptete Lars erbost. »Sein Auto steht in der Garage.«

»Ach«, staunte Tess, »wie kommt es dorthin?«

»Du findest dich wohl besonders witzig, wie? Mir reicht’s jetzt. Herzog wird gefeuert. Ich werde dafür sorgen, dass er nie wieder einen Fuß in deine Nähe setzt.«

Lars musste schäumen vor Wut. Jonas hätte allzu gern seine glühenden Augen gesehen, aber er wagte nicht, um die Ecke zu spähen.

»Das wirst du schön bleiben lassen«, entgegnete Tess ruhig. »Wie du siehst, habe ich dein schmutziges, kleines Geheimnis entdeckt, das Jonas gesucht haben soll.«

»Was – ist das?«

»L – I – P – E – X – I – N«, buchstabierte sie langsam.

»Das ist die Höhe! Du schnüffelst in meinen Sachen?«

»Wie es aussieht, hätte ich viel früher damit beginnen sollen. Was meinst du, wird dein großes Vorbild, der allmächtige Hubertus von Holzbrinck, dazu sagen, wenn ich ihm diesen Bettel zeige?«

Seine Reaktion verblüffte Jonas komplett. Lars lachte laut auf. Ihre Drohung schien ihn mächtig zu amüsieren.

»Ja, was meinst du, wird er dazu sagen?«, äffte er sie nach. »Dein Vater …«

»Stiefvater!«

»Dein Stiefvater steckt selbst knietief in dieser Sache. Also lass den Unsinn und gib mir die Mappe.«

Jonas hatte genug gehört. Den Rest des Ehezwistes wollte er sich schenken. Immerhin hatte er offenbar die richtigen Dokumente kopiert. Blieb nur noch das Problem, ungesehen aus dem Haus zu kommen. Das war nicht so einfach, denn die beiden standen vor Tess’ Zimmertür. Er erinnerte sich schwach, dass ihr Gemach nicht nur aus dem Schlafzimmer bestand. Wie es sich für ein fürstliches Anwesen gehörte, bewohnte sie eine weitläufige Suite, die selbstverständlich auch einen separaten Dienstboteneingang benötigte. In größter Eile versuchte er, einen virtuellen Plan in seinem Kopf zu zeichnen. Vor allem durfte er keine Minute länger in diesem Korridor bleiben, wenn er nicht doch noch, samt seinen Kopien, entdeckt werden wollte. Er irrte eine Weile durch die Gänge, bis er schließlich den Weg über die richtige Treppe zu Tess’ Hintertür fand. Die beiden zankten sich immer noch draußen vor ihrem Salon. Er hörte nicht mehr hin, zog sich in Windeseile an, schlich die Hintertreppe hinunter zur Garage und brauste los.

Freiburg

Mittleres Kader hin oder her, im Bürotrakt der Verkäufer gab es nur anonyme Arbeitsplätze. Verrichtungsboxen, wo das fliegende Personal den Laptop aufladen und ans Intranet stecken konnte. Jeder besaß ein persönliches Schließfach als Pultschublade. Mehr lag nicht drin im Reich des Margenkönigs Angelo Caprese. Einzig er und seine Stellvertreterin Angelika Schätzle residierten in einem einigermaßen akzeptablen Zweierbüro. Angelo und Angelika – Holzbrincks Angels, wie sie das Fußvolk nannte. Genauso wie Charlie’s Angels waren sie keine himmlischen Lichtgestalten, sondern knallharte Kämpfer. Die Schätzle stand ihrem Boss in nichts nach, wenn es um die Durchsetzung der aggressiven Umsatzziele ging. Ihr Charme gegenüber den Mitarbeitern, oder vielleicht allen Mitmenschen, beschränkte sich darauf, dass sie kaum sprach und nur stumm grüßte durch ein angedeutetes Kopfnicken, denn ihre Stimme drang direkt durch die dickste Schädeldecke ins Stammhirn und führte zu unheilbaren Lähmungen. Schätzle, dachte Jonas, als er geistesabwesend sein Urnenfach öffnete, dass ich nicht lache. Der Name war ein verstecktes Oxymoron. Sie war das genaue Gegenteil eines Schätzchens. Und sie kam federnden Schrittes auf ihn zu.

Sie schenkte ihm einen kurzen Blick, deutete ein Nicken an und legte einen Computerausdruck auf seinen aktuellen Schreibtisch. Ihr Gesichtsausdruck gab nicht preis, ob sie gute oder schlechte Nachrichten überbrachte. Er gab nie etwas preis, soweit er sich erinnerte.

»Pro memoria Abschluss«, las er laut aus der Überschrift vor.

Er verstand so gut wie nichts von Buchhaltung, begriff jedoch sofort, worum es ging. Es waren schlechte Nachrichten. Das Jahresende nahte, und die Zahlen und Grafiken auf dem Blatt stellten die miserable Verkaufsbilanz seiner ›Gruppe Süd‹ dar, inklusive ebenso miserable Prognose für die letzten paar Wochen des Geschäftsjahres.

»Sieht nicht gut aus«, gab er zu, um sie nicht unnötig zu reizen.

»Verdammt schlecht sieht es aus«, stimmte sie zu.

Sie sprach leise, aber das Kreischen ihrer Stimme ging ihm durch Mark und Bein.

»Sieht vor allem ganz schlecht aus für Ihren Bonus«, fuhr sie gnadenlos weiter.

»Welchen Bonus?«, wollte er entgegnen, aber er unterdrückte den Drang zur Satire. Humor war keine ihrer Stärken. Stattdessen nickte er nur und machte ein betroffenes Gesicht.

»Was gedenken Sie, dagegen zu unternehmen?«

Er sah, wie sie sich anschickte, ihre Frage gleich selbst zu beantworten, wahrscheinlich mit einer Repetition ihrer ›Regeln für die Pharmareferenten‹. So nannte man die Klinkenputzer.

»Die Abschlüsse in Basel haben sich leider verzögert«, flunkerte er schnell, um ihr zuvorzukommen. »Ich bin aber zuversichtlich, dass noch einiges hereinkommt bis zum Abschluss.«

»Wie viel?«

»Das Budget werden wir nicht ganz erreichen. 85 bis 90 Prozent, nehme ich an. Das wird sich natürlich ändern mit dem neuen ›XORACIN‹, sobald wir es günstiger anbieten können, ohne Margen zu verlieren.«

Er konnte es nicht lassen. Bei jeder Gelegenheit betonte er die goldene Zukunft dank seiner großartigen Erfindung. Sein Mantra stellte sie vielleicht nicht zufrieden – unmöglich, das festzustellen – aber es stellte sie ruhig. Sie schnappte sich ihr Papier wieder und ließ ihn stehen. Er wartete, bis sie draußen war, bevor er hörbar aufatmete.

Er schob seinen Laptop zur Seite. Den brauchte er vielleicht später für Recherchen im elektronischen Archiv. Zuerst nahm er sich die kopierten Dokumente vor. Was an Fachliteratur zum Blutfettsenker ›LIPEXIN‹ publiziert war, kannte er mittlerweile. Falls sich in Brüderles sorgsam gehüteten Papieren ein Geheimnis verbarg, handelte es sich wohl kaum um eine wissenschaftliche Sensation. Was also versteckte der CEO? Die ersten Seiten brauchte er nur zu überfliegen. Es waren Zulassungsdokumente und Kopien der Verträge mit Zulieferern. Die üblichen Klauseln mit genauen Vorgaben über die Reinheit chemischer Substanzen waren mit gelbem Filzstift markiert, die einzige Überraschung. Er blätterte schnell weiter. Es folgte eine endlose Reihe von Sitzungsprotokollen und zugehörigen Notizen. Er war schon fast beim letzten Blatt, fragte sich ärgerlich, was er übersehen hatte, als er unvermittelt stutzte. Vor ihm lag ein einseitig von Hand beschriebenes Blatt.

LIPEXIN Markteinführung – Interne Genehmigung

Stand als Überschrift über einem kurzen Text. Am meisten Platz auf der Seite nahmen die Unterschriften ein, von denen Jonas zwei auf Anhieb erkannte: diejenigen von Lars Brüderle und dem alten Patron, Hubert von Holzbrinck. Das Blatt trug das Datum 21. Dezember des Jahres vor der Einführung, war also ziemlich genau acht Jahre alt. Lars hatte es damals offenbar in seiner Funktion als Leiter des Rechtsdienstes ausgefertigt, wenn er das Kürzel über seiner Unterschrift richtig deutete. Der gut leserliche Text lautete:

Die unterzeichnenden Mitglieder der BWpharm AG Geschäftsleitung erklären ihr uneingeschränktes Einverständnis zur Einführung des Generikums BW3270-KTU100-00, das unter dem Freinamen LIPEXIN-BWpharm angeboten wird. Sie erklären ferner, von den Ergebnissen der erweiterten Studie BW3270-KTU100-1039.A Kenntnis genommen zu haben.

Das Erstaunlichste an dieser Erklärung war nicht der Text, sondern die Tatsache, dass sie handschriftlich vorlag. Sonst wäre sie Jonas vielleicht nicht aufgefallen. Er sah sich die Unterschriften genauer an. Noch eine Dritte kannte er: Angelo Caprese, Vertriebsleiter, schon damals. Was stand in dieser Studie, dass die Geschäftsleitung ausdrücklich bestätigte, sie zu kennen? Ohne diese Studie konnte er den Sinn der Erklärung nicht verstehen, das war klar. Dennoch las sich der kurze, handschriftliche Text, als wollten sich die Unterzeichner gegenseitig versichern: Wir hängen da alle mit drin.

Jonas hatte beim ersten Durchgang nichts über eine solche Studie gesehen. Sein Puls erhöhte sich, als er zum zweiten Mal sorgfältig Blatt für Blatt in die Hand nahm, um Hinweise darauf zu finden. Die offiziellen Zulassungsdokumente erwähnten keine erweiterte Studie unter dieser Bezeichnung. Er begann, die Protokolle genauer unter die Lupe zu nehmen. Das Gefühl, etwas Wichtiges übersehen zu haben, kehrte zurück. Es verstärkte sich mit jeder Seite, bis er sich plötzlich an die Stirn schlug.

»Trottel«, schimpfte er laut genug, dass sich der unbekannte Mitarbeiter am nächsten Tisch erstaunt zu ihm umdrehte. »Entschuldigung, ich meinte mich«, beruhigte ihn Jonas lächelnd.

Aufgeregt suchte er den Brief der Zulassungsbehörde, den er vorher nicht weiter beachtet hatte. Da stand es schwarz auf weiß: 28. November. ›BWpharm‹ hatte die offizielle Zulassung bereits am 28. November erhalten, knapp einen Monat bevor die Damen und Herren der Geschäftsleitung ihre interne Genehmigung unterzeichneten. Normalerweise schließt man das interne Genehmigungsverfahren ab, bevor man die offizielle Zulassung beantragt. Die ganze Sache machte überhaupt keinen Sinn, außer …

Jonas packte die Dokumente eilig in sein Schließfach, zog den Schlüssel ab und verließ das Gebäude. Er brauchte frische Luft. Musste sich das Ganze in Ruhe nochmals durch den Kopf gehen lassen. Bei eisigem Wind schlenderte er durch den verlassenen Stadtgarten, sah eine Weile den Enten und Blesshühnern zu, die sich an der schmalen Bucht des Weihers versammelten, die nicht zugefroren war. Er atmete einige Male tief ein, stieß Dampfwolken aus und versuchte dabei, an nichts zu denken.

Bei der Rückkehr ins Büro war er gleich weit wie zuvor. Die erwähnte Studie musste damals zusätzlich außerhalb des offiziellen Zulassungsverfahrens durchgeführt worden sein. Und sie hatte etwas zutage gefördert, das die Zulassung nachträglich hätte infrage stellen können. Eine andere Erklärung gab es seiner Meinung nach nicht. Die Saubermänner Brüderle und Holzbrinck hatten eine Leiche im Keller. Und er stand wieder einmal vor der Gewissensfrage, ob er sie ausgraben sollte. Diesmal fiel ihm die Antwort leichter als seinerzeit in Basel. Bei Brüderle hatte er ohnehin nicht mehr viel zu verlieren, und Tess sollte endlich erfahren, mit wem sie verheiratet war. Er würde der Sache auf den Grund gehen, trotz der unbekannten Risiken.

Das Dokumenten-Archiv der ›BWpharm‹ war elektronisch verfügbar, jedenfalls die letzten zehn Jahre. Er brauchte nur das Netzkabel in den Laptop zu stecken und die Nummer der gesuchten Studie einzutippen. Allerdings nahm er nicht an, etwas unter der Bezeichnung ›BW3270-KTU100-1039.A‹ zu finden. Ein drittes Mal blätterte er die Kopien durch, die das lahme Gerät geschafft hatte, bevor Lars auftauchte. Eine stattliche Anzahl Zusammenfassungen von Tests war darunter, die viele Jahre früher für die Zulassung des Originalpräparats durchgeführt wurden. Da ›LIPEXIN‹ als Generikum auf den gleichen Wirkstoffen beruhte, mussten diese klinischen Tests für die Zulassung nicht wiederholt werden. Man bezog sich lediglich darauf. ›LIPEXIN‹ enthielt zwar gleiche Wirkstoffe, aber ›BWpharm‹ hatte das Herstellungsverfahren vereinfacht. Dafür brauchte es zusätzliche Studien.

Jonas musste sich mühsam durch alle Seiten kämpfen, bis er endlich doch noch fand, was er suchte. Zwei Blätter mussten zum gesuchten Dokument gehören, obwohl die Referenznummer in der Kopfzeile unlesbar war – eine übliche Sicherheitsmassnahme bei solchen Dokumenten, um illegale Kopien zu erkennen. Der Inhalt der vier Seiten ließ keinen Zweifel offen: Er hatte die Leiche gefunden. Sie war noch nicht verwest. Sie stank immer noch.

»Schweine«, murmelte er leise.

Während er die Papiere neu ordnete – die handschriftliche Erklärung und die zwei Blätter der ›smoking gun‹ zuoberst, den Rest chronologisch – überlegte er, ob er gleich Tess informieren sollte. Nachdenklich steckte er die wertvollen Kopien in eine Dokumentenmappe, verziert mit dem schönen Logo der ›BWpharm‹. Vielleicht sollte er, anders als bei Helbling in Basel, nichts überstürzen. Schon damals hätte er wohl besser vorher mit seinem weisen Freund Niklaus gesprochen, bevor er Helbling mit seinen Jugendsünden konfrontierte. Er nahm das Handy aus der Brusttasche und wählte die Nummer, die er nur noch selten benutzte.

»Ho, Jonas, lange nichts gehört«, grüßte ihn Rohner mit seinem nasalen Appenzeller-Akzent.

»Ich weiß, gleichfalls«, lachte Jonas.

»Heimweh nach Rosa?«

»Der ›Braune Mutz‹, klar. Hör mal, ich habe morgen in Basel zu tun. Wäre schön, wenn wir uns auf ein Bier treffen könnten.«

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22 aralık 2023
Hacim:
351 s. 2 illüstrasyon
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9783967526929
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