Kitabı oku: «Politiker wider Willen», sayfa 3
Gibt es Gott? Gibt es ihn nicht? Die Chancen sind für beide Auffassungen gleich. Was tun? Sich enthalten? Unmöglich! Ich muss wetten, gegen meinen Willen. Welches ist die beste Wette? Durch das Befolgen der mathematischen Lösungsregeln kommt Pascal dazu, auf die Existenz Gottes zu wetten. Aber auch wenn sein Verstand keinen Widerstand mehr leistet, weiss er aus Erfahrung, dass dies nicht genügt. Der Glaube kommt vom Herzen, nicht von der Intelligenz!
Pilet, selbst begabter Mathematiker und von der Mutter zum gläubigen Christen erzogen, versteht Pascal. Wenn ein grosser Denker wie Pascal den christlichen Glauben mit wissenschaftlicher Logik vereinbaren kann, beruhigt dies den grübelnden Youngster, der selbst Zweifel gehegt haben muss. Pascal, sagt Pilet, hat jetzt nur noch ein Ziel: Christus zu folgen, ihm überallhin und allzeit zu folgen. Zu diesem Schluss kam er – «auch wenn es Condorcet missfallen sollte» –, nicht weil er verrückt war, sondern «allzu logisch». «C’était être chrétien et mathematicien.»
Protokollführer Répond scheint es, dass «diese Kandidatenarbeit den Bellettriens imponiert hat». Am Schluss der Sitzung wird Marcel Pilet zusammen mit acht anderen Kandidaten in den Verein aufgenommen. Zwei Wochen später, bei seinem nächsten Auftritt, kommt das selbstbewusste Neumitglied weniger glimpflich davon.
Pilet deklamiert zwei Gedichte von einer zutiefst unbekannten Dichterin, deren Name ich ärgerlicherweise vergessen habe. Es ist darin die Rede von wilden Pferden, die durch eine blühende Wiese galoppieren. Simond, der erste Kritiker, findet die von Pilet vorgetragenen Gedichte idiotisch.
Die Kollegen kritisieren zudem seine abgehackte, herunterleiernde Vortragsweise und seine unangenehme «Ich pfeife darauf»-Haltung.
6. Pareto
Marcel Pilet geniesst die geselligen Abende mit Belles-Lettres im «Guillaume», aber er macht auch mit dem Studium der Rechte zügig vorwärts. In seinem ersten Semester – Winter 1907–1908 – belegt er elf Vorlesungen und bezahlt dafür 120 Franken Studiengeld. Die juristische Fakultät mit Sitz in der alten Académie geniesst einen hervorragenden Ruf. Geachtete Rechtslehrer wie die Professoren Roguin, Rambert, de Felice oder Herzen unterrichten neben dem schweizerischen auch das deutsche und französische Zivilrecht. Dies zieht zahlreiche Ausländer, vor allem Deutsche, aber auch Studenten aus der Türkei, anderen Mittelmeerländern, dem Nahen Osten und Afrika nach Lausanne.
Der juristischen Fakultät angeschlossen ist seit 1901 die Ecole des sciences sociales et politiques, an der kein Geringerer als Vilfredo Pareto (1848–1923), einer der Väter der Soziologie, lehrt. Pilet besucht in seinem ersten Semester beide von Pareto gegebenen Kurse, Economie politique und Sociologie. Paretos Theorie des Elitenkreislaufs, die ihn berühmt gemacht hat, bleibt umstritten, aber niemand bezweifelt die Originalität und Integrität des vom Waadtländer Staatsrat nach Lausanne geholten italienischen Gelehrten. Paretos These, dass Eliten auch in Revolutionen nicht von einer Masse ersetzt werden, sondern von einer Ersatzelite, hat Pilet überzeugt.
Als Nationalrat wird sich Pilet an Pareto erinnern, wenn er in einer Rede die Bedeutung des Bauernstands für das gute Funktionieren unserer Institutionen hervorhebt. Die Bauern seien ein Element der Ruhe und der Besonnenheit, die es der Schweiz erlaubt hätten, «eine vollständig stabile Regierung zu bewahren». In der Stadt verlören die Generationen «ihre moralischen und intellektuellen Kräfte» schneller als auf dem Land, und würden nach einer gewissen Zeit von anderen Generationen abgelöst.
Dies ist es, war man gemeinhin die «Zirkulation der Eliten» nennt. Die Eliten kommen aus der Landschaft. Man muss verhindern, dass diese Quelle versiegt.
Jede Gesellschaft braucht eine Elite. Diese Auffassung mag zwar in egalitären Zeiten als «elitär» und «reaktionär» missbilligt werden, aber Pilet leuchteten Paretos Überlegungen ein. Als alt Bundesrat wird er nach Ende des 2. Weltkriegs in einem Vortrag vor «Ehemaligen Leipzigern» eindringlich für die grosszügige Unterstützung der deutschen Universitäten und ihrer Studenten durch die Schweiz plädieren.
Die Ausbildung einer Elite des Denkens ist unentbehrlich, wenn Deutschland wieder in die Gemeinschaft der zivilisierten Völker mit ihren Auffassungen von Recht, Freiheit und Menschenwürde eingegliedert werden soll.
Paretos kühler Pragmatismus, sein Liberalismus, seine Toleranz gegenüber Andersdenkenden und die Unerschrockenheit, mit der er gängigen Meinungen entgegentrat, müssen auf den jungen Studenten Pilet eine starke Wirkung ausgeübt haben. Der Italiener, der in seiner Einschätzung der Gesellschaft und des Menschen zu Pessimismus, wenn nicht gar Zynismus neigte, huldigte trotz angeschlagener Gesundheit in seinem eigenen Leben einer stoischen Philosophie: «Caro mio», schreibt er einmal dem Freund Linaker, «glaube doch, dass carpe diem das letzte Wort der menschlichen Weisheit ist.» Ein «Glas Chianti vom guten» sei mehr wert als «der Humanitarismus und alle seine Albernheiten.»
Am 4. Dezember 1951 wird in derselben Ecole des sciences sociales et politiques, an der Pareto gelehrt hatte, alt Bundesrat Pilet seine eigene Vorlesungsreihe über die «Geschichte der politischen Systeme» mit dem Satz beginnen: «Mein Gott, wie trügerisch sind die Ideen, denen die Leute nachleben und die uns oft in eine Sackgasse stossen.» Die Worte hätten von Pareto sein können.
Eine von Paretos Grundideen ist die, dass menschliches Verhalten und menschliches Denken meist nicht durch Vernunft oder Logik bestimmt werden, sondern durch Gefühle oder Leidenschaften. In einem Brief an einen italienischen Finanzbeamten schreibt er, wenn man gesellschaftliche Tatsachen untersuchen wolle, müsse man sich an die realen Fakten halten und nicht an Abstraktionen und Ähnliches. Um die Soziologie und die Geschichte zu verstehen, dürfe man nie «das Motiv, welche die Menschen, selbst in guten Treuen, für ihre Handlungen geben», als wahr akzeptieren, wenn man nicht zuvor sorgfältig untersucht habe, ob dies den Tatsachen entspreche:
Im Allgemeinen begehen die Menschen nichtlogische Handlungen, aber sie glauben und wollen glauben machen, dass es logische Aktionen sind.
In der vom knapp 18-jährigen Pilet besuchten «Ersten Kurs der angewandten politischen Ökonomie» sagt Pareto, dass von den Vertretern verschiedener politischer Theorien «gar wenige nur die Wahrheit suchen. Die Mehrzahl sucht Argumente für eine These, die ihnen die Leidenschaft eingeredet hat.» Vorurteile jeder Art – «Vorurteile aus Patriotismus, Vorurteile der Klasse, politische Vorurteile, theologische Vorurteile, Vorurteile der finalen Ursachen» – behinderten die Wahrheitssuche.
Niemand ist gefeit gegen Vorurteile, nichtlogisches Handeln und nichtlogisches Denken. In dem erwähnten Brief an Antonucci erzählt Pareto, wie er, der vorher noch nie an einer Universität doziert hatte, in Lausanne Volkswirtschaft und später auch Soziologie zuerst selber studieren musste. Dabei merkte er, dass er viele seiner eigenen vorgefassten Theorien revidieren musste, damit sie «wissenschaftlich wurden»:
Vor allem lernte ich, dem Gefühl zu misstrauen. Wenn jetzt eine Sache meinem Gefühl entspricht, wird sie mir deswegen bloss verdächtig und ich suche mit grösserer Sorgfalt Argumente gegen sie, als wenn es eine Sache wäre, die meinen Gefühlen zuwiderläuft.
Den eigenen Gefühlen misstrauen! Diese von Pareto gepredigte Weisheit hat Pilet zur seinen gemacht; er wird sie nie mehr vergessen. Seine Lausanner Studenten, zu «rigoroser Objektivität und zu einem scharfen kritischen Sinn» anhalten:
Es ist sehr leicht und sehr verführerisch, für wahr zu halten, was eure Ideen bestätigt, oder – ein schlaueres, aber nicht weniger gefährliches Verfahren – in der Auswahl der Fakten bei denen aufzuhören, die keinen Einwand erheben und die euch nicht widersprechen. Der wissenschaftliche Geist verlangt, dass man die Fakten als das nimmt, was sie sind, ob sie euch gefallen oder missfallen.
Kein Wunder, dass Pilet in den politischen Kreisen, in denen er sich später bewegen wird, oft auf blankes Unverständnis stiess. Sich selbst und seine Ideen infrage stellen ist dem Durchschnittspolitiker fremd.
Und noch ein weiterer Gedanke Paretos scheint den Rechtsstudenten Pilet dauerhaft beeinflusst zu haben. Pareto sagt, man wisse «wenig oder nichts über die Auswirkungen irgendwelcher Änderungen des sozialen Zustandes», und derjenige, der Änderungen vorschlage, operiere aufs Geratewohl: «Er weiss, wohin er gehen möchte, aber er weiss nicht, wohin er wirklich gehen wird.» Wenn er einen Rat geben müsste, wäre es dieser: Jeder soll sich um seine eigenen Interessen kümmern und sich begnügen, unmittelbare und leicht vorhersehbare Wirkungen anzustreben.
Jegliche Änderung des sozialen Zustands habe ausser einer direkten Auswirkung auch wesentliche indirekte Auswirkungen, die oft schwieriger einzuberechnen seien als die direkten:
Dies ist einer der Gründe, weswegen die Gesetzgeber, wenn sie wirtschaftliche Phänomene regulieren wollten, bisher mehr Schlechtes als Gutes getan haben.
Dass ein neues Gesetz manchmal mehr schadet, als nützt, ist eine Erkenntnis, die den Politiker Pilet-Golaz sein Leben lang begleiten wird.
Pilet ist fasziniert von der «Entwicklung der Gesellschaften und der politischen Systeme» – Titel seiner eigenen Vorlesungen von 1947 – und hat vermutlich von dem reichen historischen Wissen, das Pareto vor seinen Zuhörern ausbreitete, Anstösse zu eigenen weiteren Studien erhalten. Er hat sich schon früh mit Montesquieu und seinem «magistralen Werk» De l’esprit des lois befasst, weil er dessen «so grossen und so tiefen Einfluss auf die Entwicklung der politischen Ideen und den Fortschritt der liberalen Demokratie» erkannte. 1952 wird er seinen Studenten berichten:
Die Lektüre [von De l’esprit des lois] ist nicht gerade unterhaltsam und ich wage nicht euch anzuhalten, sie in Angriff zu nehmen. Ich weiss, welche Mühe ich selber gehabt habe, dies zu tun. Ich war zwanzig und las mit Vorliebe abends. Aber ich kam nicht über Seite 17 hinaus, worauf ich einschlief. Um dieses schläfrige Kap zu umschiffen, musste ich den Vorsatz fassen, am Morgen zu früher Stunde zu lesen. Nicht dass das Werk langweilig oder unverdaulich wäre, überhaupt nicht, aber es ist so reich an Substanz und Materie, dass seine Erfassung nicht in Häppchen geschehen kann. Vergessen wir nicht, dass es das Produkt von mehr als zwanzig Jahren Arbeit, Studien und Nachdenken ist Pilet verehrt Montesquieu, im Gegensatz zum anderen bedeutenden politischen Denker des 18. Jahrhunderts, von dem er zugibt:
Ich mag Rousseau nicht, ich meine den politischen Rousseau, nicht den literarischen Rousseau. Gibt es etwas Köstlicheres, Aufrichtigeres und Melancholischeres als die Rêveries du promeneur solitaire oder die Confessions?
Alt Bundesrat Pilet-Golaz missfällt der politische Rousseau, weil er am Ursprung der «jakobinischen, totalitären» Tendenz der demokratischen Entwicklung steht, die «auf dem Weg über den Marxismus zu den sogenannten Volksdemokratien von heute führt». Bestimmt hätte es Pilet gefreut, wenn er 1952 hätte voraussehen können, dass die «sogenannten Volksdemokratien von heute» keine vierzig Jahre später ein unrühmliches Ende finden würden.
7. Die Bühne ruft
Schon als Gymnasiast ist Marcel Pilet ein eifriger Theaterbesucher. Er erhält die Erlaubnis, im Lausanner Theater, in dem auch die vedettes, die Stars, aus Paris gastieren, sich hinter den Kulissen umzusehen. Die Beziehungen, die sein Vater als Kommunalpolitiker hat, machen es ihm möglich. Und natürlich träumt der junge Theaternarr davon, selbst einmal auf den Brettern, die die Welt bedeuten, zu stehen, vielleicht sogar als Berufsschauspieler.
Die sogenannten théatrales sind eine Tradition bei Belles-Lettres. Jeden Dezember tritt die Theatertruppe der Studentenvereinigung vor vollem Haus im feudalen Lausanner Grand Théâtre auf. Vorher oder nachher ziehen die schauspielernden Bellettriens durch den Kanton und erfreuen das Publikum der grösseren Ortschaften mit ihren Aufführungen. Pilet ist schon von Anfang an Mitglied der Theaterkommission der Verbindung. Eine Hauptaufgabe der Kommission ist die Wahl der Stücke. Man bemüht sich um eine Mischung zwischen modernen Komödien, die eben in Paris mit Erfolg gespielt worden sind, und Klassikern. Man prüft, ob ein Stück allzu gewagt sei, um es keuschen weiblichen Ohren zuzumuten. Pilet ist hier liberal. Ein klein wenig risqué darf es schon sein, solange der gute Geschmack nicht durch Vulgaritäten verletzt wird.
In der Theaterkommission kümmert sich Neuling Pilet um Dinge wie Saalmiete, Anschaffung von Kostümen, Druck der Programme, Korrespondenz mit Behörden, Verteilung der Rollen, Ansetzung der Proben – wer zu spät kommt, zahlt eine Busse. Soll man den Zofingern das Gewand von Louis XIV ausleihen? Pilet ist dagegen und der Vorstand auch. «Nieder mit Zofingen!», liest man in einem Protokoll. Bereits in seinem ersten Semester spielt Neuling Pilet mit.
Am 20. Januar 1908 wartet im Grand Théâtre ein gut gelauntes Publikum auf die traditionelle (wegen des Todes des Rektors verschobene) Jahresendaufführung der Bellettriens. Auf den Rängen sitzen Verwandte und Bekannte, Altherren und Scharen von erwartungsvollen jungen Fräuleins, darunter viele Ausländerinnen – Russinnen hauptsächlich – aus Lausannes zahlreichen Mädchenpensionaten.
Der Abend beginnt mit dem beliebten Prolog, in dem das Geschehen des abgelaufenen Jahres persifliert wird. Politiker, nicht zuletzt der in der Loge sitzende syndic, werden schonungslos aufs Korn genommen. Die Zuschauer lachen. Dann folgt als pièce de résistance die anspruchsvolle Komödie Le mariage de Figaro von Beaumarchais. Auch wenn man dem Darsteller Figaros «mehr Leben» gewünscht hätte, amüsiert sich das Publikum königlich. «Glückliche Jugend!», schreibt der Kritiker der Gazette de Lausanne. Ihm sind zwei «Debütanten, die viel versprechen», aufgefallen, «die Herren Simond und Pilet», der Letztere in der Rolle des Grafen Almaviva, eines tyrannischen alten Lüstlings.
Die Theaterabende in der Provinz sind verbunden mit Bankett, Reden, Tanz. Der Sekretär von Belles-Lettres schreibt jeweils einen Bericht über die théatrales. Im Dezember 1909 liegt die Aufgabe bei Pilet. Wie es Brauch ist, kritisiert er den Auftritt der Kollegen:
Rey ist viel besser gewesen, als man hätte glauben können. Gagnaux gab eine ausgezeichnete Soubrette in einem welschen Marktflecken. Secretan spielte einen manischen und affektierten Kammerdiener, der ganz gelungen war; man muss sagen, dass dies perfekt zu seinem Naturell passte, nicht dass er ein Kammerdiener wäre, sondern nun, Ihr versteht mich. Girardet und Pilet waren, was sie sind, immer ohne Fehler.
Sekretär Pilet geistreichelt weiter:
Um 2 Uhr früh verliess Belles-Lettres diese Stadt, die sie hatte verderben wollen. Die einzige Spur ihrer Durchfahrt war am nächsten Morgen die [rot-weisse] zofingische Farbe der Bettwäsche der Mädchen. Getrieben von Erinnerungen, vom Verlangen und von irgendeinem Teufel, hatten sie Ihr versteht mich. Ihre Mütter sahen darin das Zeichen von Gottes Finger und schworen sich, die Mädchen nie wieder zu den Abendveranstaltungen von Belles-Lettres zu führen.
Will Pilet mit der schlüpfrigen Bemerkung den Kollegen imponieren? Dass die Bellettriens, junge Männer um die zwanzig, sich im Umgang mit dem schönen Geschlecht oft keinen Zwang antun, zeigen die Notizen auch anderer Sekretäre:
Eine Gruppe von kühnen Bellettriens dringt [in Aubonne] bei der Modistin ein, die im Ort en vogue ist, und bald ist der ganze Laden drunter und drüber. Herzog umarmt die kleine Lehrtochter, Pilet berührt das Bein einer Arbeiterin, während Gagnebin geschickt die Chefin auf den Mund küsst. Alle diese Damen sind entzückt.
In Champéry trinken die Bellettriens beim offerierten Apéritif sieben Liter Absinth:
Die Serviertöchter haben mehr Mühe, sich der sadistischen Hände zu erwehren, die nach ihren keuschen Formen greifen, als uns zu bedienen. Der von alten Herren umgebene Pilet ist gezwungen, sich gut zu benehmen, und er leidet darunter.
Da Belles-Lettres keine weiblichen Mitglieder hat, werden Frauenrollen von Studenten gespielt. Der Elsässer Georges Bergner, der zusammen mit Pilet das grüne Béret von Belles-Lettres trug, erzählt zwei Jahrzehnte später von einer Sondervorstellung von Gringoire in einem asile d’aliénés, einer Irrenanstalt:
Als Pilet vor dem Aufgang des Vorhangs zusammen mit seinem als Loyse transvestierten Kameraden einen French Cancan tanzte, rief der Arzt: «Ihr Unglücklichen, wenn meine Kranken euch sehen, werden sie tatsächlich noch verrückt!»
Dass Pilet als Schauspieler de véritables prouesses, wahre Spitzenleistungen, vollbrachte, bestätigt der bereits erwähnte Bergner. Schlank und «mit der Nase im Wind» habe er dem Pariser Schauspieler Louis Lenoir geglichen und diesem mehrere Rollen entliehen, darunter «Harpagon, mit der Souplesse, die auf die Politik vorbereitet, L’Intimé mit Unverschämtheit, Gringoire mit Romantik, Petruchio mit Ungestüm».
In der Gazette rühmt G. R. (Georges Rigassi, später Chefredaktor des Blatts) den talentierten Mimen:
Belles-Lettres besitzt in M. Pilet (Harpagon) – der letztes Jahr der Rolle des Poeten Gringoire derartigen Glanz verlieh – einen Künstler von sehr reellem Wert.
Nachdem in L’Avare der Vorhang gefallen war, sagte Pilet – wenn wir Bergner glauben wollen –: «Dies ist meine Beerdigung.»
Jedenfalls hat Marcel den Traum einer Schauspielerkarriere aufgegeben. Die Versuchung war da, aber sie ist geschwunden. Ein halbes Jahr später erinnert er sich in einem Brief an Tillon dankbar an seine zwar nicht grösste aber «hübscheste» Rolle. In dem 1908 von den Bellettriens aufgeführten Pariser Erfolgstück Le Bon Roi Dagobert spielte er Saint Eloi, den Kirchenmann und Staatsminister des Königs. Bekleidet in einem köstlichen mauve Nachthemd hat er als ältlicher Komödienbischof eben seinen lustigsten Auftritt gehabt. Das «sehr zufriedene» Publikum spendet Beifall und wie es Brauch ist, wird den Schauspielern ein Palmenzweig hingereicht. Pilet im Brief:
Mit gebrechlichen, kleinen Schrittchen gehe ich den Zweig holen, um ihn der Königin (Rey) zu überreichen, aber in dem Moment, wo ich mich dem Souffleurkasten nähere, fällt der Vorhang. Ich stehe plötzlich allein zwischen ihm und dem Publikum, das um so lauter applaudiert und mir eine kleine Ovation darbringt – eine ganz persönliche.
Es sei dies das erste und letzte Mal gewesen, dass er den Stolz und die Trunkenheit des Beifalls, das «Gefühl der Eitelkeit des Triumphs» gespürt habe. Wenn er auch nicht den geringsten Schritt tun werde, um dieses Hochgefühl je wieder zu erleben, bleibe ihm doch eine bewegende Erinnerung.
8. Führungsschule
Im Wintersemester 1908–1909 nimm Pilet das Amt des Sekretärs auf und entschuldigt sich sogleich:
Ich komme aus der Rekrutenschule – dies erklärt meine Abstumpfung. Während 67 Tagen habe ich «Gewehr hoch» gemacht und hier bin ich, Feder in der Hand, Historiker und Chronist der Glanztaten der Mitglieder unserer Gesellschaft. Kann ich ihre Heldentaten besingen, wie sie es verdienen, ihre feinen und subtilen Worte feiern?
An den Sitzungen sagt Pilet klar seine Meinung, so etwa, als diskutiert wird, ob Naturwissenschaftler sich auch als Philosophen betätigen dürfen. Ja, meint Pilet, und erinnert daran, dass Darwin, Haeckel und andere Philosophen zuerst Wissenschaftler gewesen sind. Protokollführer Victor Gagnaux vermutet, dass der ehrgeizige Pilet sich mit diesem Votum für die bevorstehende Präsidentenwahl empfehlen will:
Wenn man Pilet zuhört, versteht man leicht, dass die Mehrheit der Bellettriens eine naturwissenschaftliche Schulung hat, und sie applaudieren auch kräftig. Bravo Pilet. Du hast deinen Sessel auf sicher.
Hatte er. Am 22. Oktober 1909 wird er mit 22 Stimmen zum Präsidenten gewählt. Bei den «wie immer lärmigen» Wahlen müssen sich die anderen Vorstandsmitglieder mit 13, 17, 15 und 14 Stimmen begnügen. Im Protokoll schreibt Gagnaux, später Oberfeldarzt der Schweizer Armee. Er wird 1946 an einer Truppenübung bei einem Autounfall ums Leben kommen:
Präsidentschaft: Pilet, Präsident
Man hatte ihm den Ruhm gegeben, wir brauchten jetzt Versprechen; seine Thronrede war voll davon, seine Thronrede machte uns Freude. Pilet hat verschiedentlich gesagt: «Ich wünsche»; öfter hat er gesagt: «Ich will.» Pilet hat Willen, er hat Kraft, er hat Begeisterung – möge er nicht enttäuscht werden. Arbeit ist es, sagt er uns, was am besten für Unterhaltung sorgt: «Ich wünsche, dass man bei Belles-Lettres arbeitet. Mein Wunsch wäre es, bei jeder Sitzung eine gute, sorgfältig gemachte Arbeit zu hören, die eure Ideen und eure Wünsche ausdrückt, und nicht die Ideen, die gerade Mode sind, nicht die dekadenten Wünsche einer schlappen, leeren und dummen Minderheit, die uns durch ihre Extravaganz blendet.
Tragt nicht die müden und angewiderten Mienen derjenigen zur Schau, die alles gesehen haben, alles kennen. Vertreibt den modischen Skeptizismus, der nicht eurem Alter entspricht und der nur eines beweist: eure Leichtgläubigkeit und euren Wunsch zu glauben! Verzichtet auf jede Pose, zeigt euch, wie ihr seid, jung und unerfahren, aber auch stark, voller Leben und begierig, das Leben anzugehen. Macht gesunde, offene und ehrliche Arbeiten. Nehmt euch die Mühe zu denken, zu überlegen; übernehmt nicht träge einfach Ideen, die schon da sind, die wir nicht suchen müssen: Sie sind nichts wert, sie führen nirgends hin.»
Es ist die Rede eines Erziehers. Es ist auch die Rede eines Leaders. Pilet, der seine Aspirantenschule hinter sich hat und den man auf Ende Jahr zum Leutnant befördern wird, vermisst bei Belles-Lettres eine Eigenschaft, die der Verbindung immer gefehlt habe: die Disziplin.
Unser Präsident verlangt von uns keine militärische Disziplin, sondern eine, die auf Takt und gutem Willen beruht. Verzichten wir inmitten von ernsthaften Diskussionen auf Bonmots und Witze [wörtlich französisch: et les witz]. Was die bellettristische Freundschaft betrifft, pflegen wir sie doch an den Abenden am Ende der Sitzungen, vor allem bei Spaziergängen. Wieso macht man keine Spaziergänge mehr? Aus Müdigkeit oder Gleichgültigkeit? Nein, es ist aus Phlegma! Schütteln wir dieses Phlegma ab und machen wir Spaziergänge.
Stürmischer Beifall und tags darauf machte man keine Spaziergänge.
Disziplin und Ordnung wird dereinst Bundesrat Pilet-Golaz immer wieder von Volk und Parlament fordern. Kritische Zeitgenossen und Historiker haben ihm dies als «autoritär», «reaktionär», wenn nicht gar «pétainistisch» oder «faschistisch» angekreidet. Die Werte Ordnung und Disziplin, Pflicht und Arbeit, die Liebe zu Gott, Vaterland und Familie haben bei Pilet tiefe Wurzeln. Sie gehen auf die Ermahnungen von Eltern und Lehrern und auf seine Waadtländer Herkunft zurück. Er hatte diese Werte verinnerlicht, lange bevor Mussolini, Franco oder Pétain aus diesen Werten politisches Kapital schlugen.
Zurück zum 21. Januar 1910, an dem von Belles-Lettres-Präsident Pilet diplomatisches Geschick gefordert ist. Die Verbindung Germania kommt auf Besuch. An der juristischen Fakultät der Uni Lausanne hat es in jenem Jahr mehr deutsche als einheimische Studenten. Der in Ober-Ingelheim geborene Weitzel ist im Element, erklärt den andern Bellettriens die germanischen Formeln und Regeln und sagt zum «beunruhigten» Pilet: «Lass mich machen!» Als die Germanen hereinmarschieren und Pilet ihnen zur Begrüssung entgegeneilen will, nagelt Weitzel ihn mit einem «Rühr dich nicht!» an seinem Platz fest. Bei deutschen Burschenschaften verlässt der Präsident nie seinen Sitz. Offiziell begrüsst Pilet die Gäste: «Die Worte machen auf unsere teutonischen Freunde grossen Eindruck, die – die Augen ernst auf unseren Präsidenten gerichtet – den Kopf schütteln, jeder zweimal.»
Die Ankunft des Biers entlockt den Germanen ein erstes Lächeln, doch bald sind sie wieder grimmig ernst. Eine Klavierdarbietung lässt sie mit den Händen den Takt angeben, aber die Gesichter bleiben starr. Pilet erklärt dann – zumindest für einige Augenblicke – Deutsch zur offiziellen Sprache:
Unser Präsident sagt ebenso charmante Dinge auf Deutsch wie auf Französisch und die Germanen, die erstmals an diesem Abend etwas verstehen, stossen grosse Lacher aus, mit denen sie aber sofort aufhören, um stramm und mit entblösstem Haupt der Antwort ihres eigenen Präsidenten zu lauschen. Dieser lädt seine Kameraden ein, zu Ehren von Belles-Lettres einen Salamander zu trinken. Die vier Schoppen steigen in perfekter Einheit auf die Höhe ihrer oberen Körperöffnungen, werden in einem Zug heruntergeschluckt, trommeln eine Weile auf dem Tisch und aufs Kommando drei schlagen sie mit einem Streich auf. Belles-Lettres applaudiert kräftig. Weitzel hat nie zuvor etwas so Schönes gesehen.
Auf seinem Präsidentenstuhl gestikuliert Pilet, spricht durcheinander Französisch, Deutsch und Esperanto. Die humoristischen Produktionen der Bellettriens lassen die Gäste kalt. Der kulturelle Graben zwischen schneidigen Deutschen und fidelen Romands ist tief. Glücklicherweise kommt es nun zu Trinkduellen.
Es gibt aufregende Halbfinale, sensationelle Finale und immer ist man ernst, «stramm». Unsere Gäste trinken, trinken, trinken. Der Punch wird gebracht. Die Wettkämpfe, die mit Bier begonnen haben, werden mit der neuen Flüssigkeit fortgesetzt. Was die Musik, die Reden, die Produktionen nicht fertigbrachten, bringt das gezuckerte Getränk zustande. Die Germanen werden aufgeheitert, verlieren ihre seriöse Miene, sie haben auf ihren Köpfen Belles-Lettres-Bérets und unter dieser Kopfbedeckung verlieren sie ihre Gravitas. Weitzel jubelt unter einer Germania-Mütze, die ihm den Anschein eines Bahnhofvorstands gibt.
Beim Trinken stehen die Bellettriens den Germaniern in keiner Weise nach. Ja, sie sind trinkfester und beim Verlassen des «Guillaume» lächeln sie über «die weichen Beine und die verstörten Blicke» ihrer Gäste.
An der nächsten Sitzung geht es wieder gesitteter zu. Man ist jetzt im Geist in Paris, nicht in Berlin. Philippe Secretan redet über Mme de la Fayettes berühmtes Werk Princesse de Clèves. Als Pilet ihm vorwirft, er scheine den Roman Zaïde nicht zu kennen, wehrt sich Secretan: «Dieser Roman zählt in ihrem Werk nicht. Ich richte mich an kultivierte Erwachsene.» Pilet: «Man würde es nicht sagen. Alles, was du über Mme de La Fayette gesagt hast, steht im Gymnasiumkurs.»
Secretan und Pilet, beide gescheit und ehrgeizig, kreuzen gerne die Klingen. Philippe Secretan ist der Sohn von Edouard Secretan, dem im Kanton bewunderten colonel, der als Chefredaktor der Gazette de Lausanne und Nationalrat die Stimme der welschen Schweiz verkörpert. Als der Vater 1917 überraschend stirbt, ist Philippe zu jung und unerfahren, um dessen Nachfolge in der Gazette anzutreten. Er wird später als erfolgreicher Geschäftsmann und Literat in Paris Karriere machen. Die intellektuellen Hahnenkämpfe, die sich Secretan und Pilet liefern, haben auch einen gesellschaftlichen und politischen Hintergrund. Die Secretans sind ein altehrwürdiges Lausanner Geschlecht, vermögend und die natürlichen Führer der «aristokratischen» liberalen Partei; die Pilets Kleinbürger aus der Provinz, Emporkömmlinge, die in der Volkspartei der Radikalen ihre Aufstiegschancen wahrnehmen. – Vater Edouard Pilet ist zurzeit gerade Präsident des Lausanner Gemeinderats.
Als Sekretär geht Secretan mit seiner ironischen Feder gerne auf seinen Widersacher los:
Man sagte sich, es wird kurz werden, alle sind müde und niemand wird etwas zu sagen haben. Aber man hatte nicht mit Pilet gerechnet, der unberechenbar ist. Pilet las uns seine Thronrede. Aber nein! Ich schrieb «las» aus Gewohnheit. Pilet «spricht» uns seine Rede. Alle waren dermassen voller Bewunderung, dass nach dem «Ich habe gesprochen» und der Ovation es ein Stillschweigen gab, ein geniertes Stillschweigen.
Secretan ist fasziniert von der schillernden, rätselhaften Persönlichkeit seines Kollegen und Rivalen. Er durchschaut ihn (meistens), begreift ihn besser, als spätere Beobachter dies tun werden – und seien sie noch so prominente Politiker, Publizisten oder Historiker.
Wenn er seine kleine Armee mit Energie geführt hat, dann, weil er sie zum Triumph führen wollte. Es ist ihm gelungen. Seien wir ihm dankbar. Und tatsächlich hat er seine Barke gut geführt. Aber er hätte nicht betonen sollen, dass er sie führte. Er hätte seine Gesellschaft führen, aber nicht sagen sollen: «Ich führe Belles-Lettres auf diese und diese Weise.» Dies hat nämlich Dénéreaz schockiert, der darauf besteht, sich frei zu fühlen oder sich frei zu glauben.
Der schockierte David Dénéreaz, der sich frei fühlen möchte, wird später Stadtpräsident von Vevey, Nationalrat und – was in der Waadt viel mehr gilt – Abbaye-Président der Fête des vignerons
Wenn Pilet in den acta gelegentlich als «unser lieber Präsident» apostrophiert wird, ist nicht klar, ob dies ernst oder spöttisch gemeint ist. Der cher président kann im Übrigen durchaus generös sein. Nachdem Elie Gagnebin, der sich als Schauspieler und Literaturkritiker, dann auch als Professor für Geologie und Paläontologie einen Namen machen wird, über Evolution gesprochen hat, urteilt Pilet: «Für ein wissenschaftliches Exposé war der Stil ausgezeichnet. Die Arbeit, wohlgeordnet und ohne Unklarheit, wurde à la perfection vorgetragen und mit Vergnügen gehört.» Ein anderes Mal findet Pilet ein Referat «uninteressant», weil er «nichts gelernt» habe. Dazu Sekretär Secretan: «Habt ihr vergessen, dass Pilet alles weiss?»
Aufschlussreich für Pilets politisches Denken ist der Vortrag, den er über das 1895 erschienene Traktat «Die Psychologie der Massen» von Gustave Le Bon hält. Pilet beschreibt darin die Massenpsychologie Le Bons: Eine Ansammlung von Menschen könne eine neue kollektive Seele erhalten, die sich von derjenigen ihrer einzelnen Glieder unterscheide. Die Individualität werde in der Masse ausgelöscht.