Kitabı oku: «Politiker wider Willen», sayfa 7

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15. Ein deutscher Sommer

August und September verbringt Pilet in einem ruhigen Pfarrhaus in Döffingen im Schwarzwald. Herr Pfarrer Elsenhaus, ein langer, magerer, gutmütiger Herr in den Fünfzigern, ist meist in seinen Gedanken versunken und redet wenig. Seine Schwester, «eine alte Jungfer, die keine ist», führt den Haushalt, kommandiert und arrangiert alles, verwöhnt ihre Gäste nach Noten. Sofort fühlt sich Pilet zuhause, Teil der Familie. Nach drei Monaten schweigsamer Einsamkeit ist er erleichtert, jetzt lange Gespräche über alles und nichts zu führen – «eigentlich wie bei uns». Das Leben ist geregelt, wie Pilet dies mag, mit festen Essens- und Imbisszeiten. Er hat seine gefüllten Hefte und seine Fachbücher mitgebracht, arbeitet pflichtbewusst an der Dissertation.

Ein anderer Gast in der Pfarrei ist der 16-jährige Lausanner Jean Chamorel, mit dem sich Pilet bald anfreundet. Die beiden unternehmen Spaziergänge durch die vergilbten Felder – der Sommer ist extrem heiss und trocken –, durch die Wälder mit ihren riesigen Rottannen, pflücken Feldblumen und plaudern. Jean ist ein aufgeweckter und gemütvoller Junge, ein eben konfirmierter Pfarrerssohn, den «die Zweifel der Vernunft» plagen. Kann man dies beweisen, kann man jenes beweisen? Jean, noch ein Kind, stellt Pilet diese Fragen. Ihm, der, nachdem er den naiven Glauben der Sonntagsschule verloren hatte, einem «wertlosen Skeptizismus» verfiel und, zwar nicht Atheist, aber Zweifler wurde. Inzwischen hat Pilet den «schwarzen, eisigen Zweifel» besiegt:

Und jetzt glaube ich, ich glaube tief, ganz, mit Freude, kurz, ich glaube, ohne Vernunft, gegen die Vernunft, weil eines Tages – ich werde mich mein Leben lang daran erinnern – an einem Morgen schrecklichen Leidens ich gesehen, verstanden und gefühlt habe. Ich habe den Glauben durch die Gnade, einen Glauben, der umso stärker, umso lebendiger und umso unerschütterlicher ist, weil er über die Vernunft lacht, sie ihm gleichgültig ist, er sie verachtet!

Die Vernunft ist nichts, nur das Herz zählt. Marcel wusste dies schon, bevor er Tillon kennenlernte.

Aber Sie sind es, meine Freundin, die es mich gelehrt hat. Ich möchte Jean sagen: Glauben Sie, dass es einen Gott gibt, analysieren Sie es nicht, glauben Sie, dass es eine Pflicht gibt, kommentieren Sie es nicht! Und lassen Sie den ganzen Rest beiseite, kümmern Sie sich nicht um die Form, um die Zeit, um den Wert des göttlichen Urteils – dies sind Dinge, die nicht menschlich sind. Zergliedern Sie Ihren Gott nicht, er durchdringt Sie!

Marcel Pilet hat seinen Glauben gefunden. Er wird sein Leben lang unverrückbar an ihm festhalten. In Döffingen geht er jeden Sonntag in die Kirche. Dies macht dem Pfarrer Freude, auch wenn Marcel in der Regel die meist hohlen und oft schlecht geschriebenen Predigten nicht mag. In Lausanne besuchte er den Gottesdienst nur, um seine Mutter zu begleiten. Lieber ist er allein in der Kirche und unterhält sich sehr demütig mit Gott. Verschiedenes zieht ihn in dieser deutschen Kirche an, die «orthodoxer, formalistischer, sogar katholischer als bei uns ist»: Der leidende Christ als Symbol, das gerade Kreuz auf dem Kirchturm, aber auch tiefere Dinge, die es bei uns nicht gibt: Wenn der Pfarrer zu Beginn die zum Tag passenden Bibelverse liest und die Gläubigen segnet, unterbricht er sich und sagt: «Betet weiter und nur in Stille.»

Und während einiger Minuten kann jeder sich sammeln und Gott bitten, ihm sagen, woran er am meisten leidet, was er am nötigsten hat, oder ihm zu danken für die erwiesenen Gaben … dies sind, Tillon, die einzigen Augenblicke, wo ich in der Kirche beim eigentlichen Gottesdienst wirklich bete – mich bewegen die vorgegebenen Gebete, die man in den Büchern liest, kaum – und ich bete dann mit Inbrunst, ich bete, wie wenn ich mit Ihnen wäre.

Während der Döffinger Zeit trüben keine Missverständnisse oder Eifersuchtsanfälle den besonders herzlichen und intimen Briefwechsel mit Tillon. Er erzählt ihr, dass sein Freund Déverin heiraten wird, und fragt sie, ob sie bereit wäre, später Gotte seines Kinds zu werden. Tillon hat ihn um Buchempfehlungen gebeten. Er entschuldigt sich, dass er wenig, «schändlich wenig» gelesen habe, dass er ein «perfekter Ignorant» sei, aber er werde sein Bestes tun.

Also, wenn sie sich einmal langweile, solle sie die Princesse de Clèves von Madame de La Fayette anschauen. Es folgt eine Liste von Werken, die Pilet gefallen haben. (Sag mir, was du liest, und ich sage dir, wer du bist.) Unter den «ganz Grossen» empfiehlt er, Flauberts Madame Bovary und Salambô, «Meisterwerke ohne Fehler». Maupassant und Daudet überspringt Pilet als «zu bekannt».

Er nennt George Sand und dann eine Reihe von einst bekannten, heute vergessenen Autoren: Edmond About, «ohne grossen Ideenfundus, aber köstlich», René Bazin, Marcel Prévost mit seiner Studie über die Deutschen, «Monsieur et Madame Moloch», Paul Bourgets Le Disciple – «vertiefte Psychologie, die übrigens falsch ist» –, Jules Lemaître, der in seinen kritischen Essays sagt, was er von den heutigen Autoren hält und in seinem «Racine», wieso er den grossen Tragiker liebt. Von Anatole France – neben Romain Rolland offensichtlich Pilets Lieblingsautor unter den Zeitgenossen – nennt er nicht weniger als dreizehn Bücher. Die «in ihrer Beobachtung bewundernswerte» Tetralogie Histoire contemporaine allerdings ist für Tillon «vielleicht zu gewagt», weil sie nicht nur von der Dreyfus-Affäre, sondern auch von «unerlaubten Liebschaften» handelt.

Pilet erwähnt weiter fünf Bücher des Waadtländers Edouard Rod, den er später seinem Bundesratskollegen Etter empfehlen wird. Was den leichteren Bereich angeht: Vielleicht kennt Tillon Gyp? Wenn er wieder in seinem Zimmer in Lausanne ist, wird Marcel die besten zeitgenössischen Theaterstücke auslesen und ihr nach Orbe bringen. Warnung: L’Illustration – ein Verlag, der die neuen, in den grossen Theatern von Paris gespielten Stücke herausgibt – druckt leider auch «hässliche Dinge», die Tillon «nicht lesen sollte».

In Döffingen wird Pilet oft bei der Arbeit gestört. Bekannte kommen vorbei und vier Feriengäste – zwei Fräuleins und zwei Kinder – beleben den Tagesablauf. Man unterhält sich mit allerlei munteren Brett- und Gesellschaftsspielen. Pilet macht gutmütig mit und beobachtet die Mitpensionäre. Fräulein Gertrud ist 20, mit einem passablen Gesicht, gerade intelligent genug, um in Württemberg Lehrerin zu sein, spielt gerne Karten und Croquet, singt als gute Deutsche «Deutschland über alles», mag aber den Kaiser nicht – «man muss ein bisschen liberal sein, wenn man im Unterrichtswesen ist». Ihre Schwester Dora ist 17-jährig – «ein schönes Alter, ein schönes Alter, hat man ihr gesagt und sie wartet».

Worauf wartet sie seit siebzehn Jahren, werden Sie mich fragen … nun, ganz einfach, auf einen Liebhaber, denn auch sie ist eine Schönheit und sie ist eine Schönheit, weil sie sehr schwarze Haare, einen sehr gelben Teint und Augen à la japonaise hat und auch das Lächeln. Zudem lächelt sie mit sehr roten Lippen und es ist anständig, auf ihr Lächeln zu antworten. Aber dieses Jahr ist ein schlechtes Jahr für sie! Warum weiss man nicht – man wird es nie wissen. Trockenheit, Hitze, Müdigkeit, alles vielleicht, aber die Pensionäre haben nicht, wie gewohnt, etwas eingebracht. Schon vor drei Jahren ist sie ins Pfarrhaus gekommen, schon war sie eine Schönheit, und schon hatten zwei unglückliche Schweizer, die dort in den Ferien waren, vergessen zu schlafen. Vor zwei Jahren ist sie wiedergekommen und wiederum haben zwei Herzen geschlagen … letztes Jahr war wiederum ein glorreiches.

Und dieses Jahr? Ein Jammerjahr. Gewiss liest man ihr das Tüchlein auf, wenn sie es, sagen wir, aus Unachtsamkeit fallen lässt, gewiss reicht man ihr die Kugel, wenn man «Botscha» spielt (dieses Spiel der Italiener, wissen Sie, und das viel Aufmerksamkeit verlangt, sagt Herr Pfarrer), aber man bringt sie ihr ganz einfach zurück, wie man eben eine Kugel reicht. Keine Hand mehr, die eine Hand streift, keine Augen, die für sich sprechen, keine Brust, die seufzt … Mlle Dora ist enttäuscht, Mlle Dora ist angewidert … Jean und ich sind rücksichts- und kulturlos, wir wissen nicht, was schön ist. Mögen wir es nie wissen und möge Mlle Dora mit ihrer Schönheit immer bleiben, was sie ist, eine kleine Deutsche, intelligent und lebhaft – für hiesige Begriffe –, der ihre Eltern leider den Kopf verdreht haben – und nicht auf die richtige Seite.

Ähnlichen Spott schüttet Pilet über «Hänsle» aus, einen Neffen des Pastors, «den unangenehmsten, wildesten, unerzogensten, verwöhntesten, zänkischsten und verschlagensten Bengel, den ich je gekannt habe!». Der Junge hat «die Seele eines schlechten deutschen Unteroffiziers» und geniesst es, Böses zu tun.

Er schreit, er heult, er kneift den Hund, er zieht die Katze an den Haaren, ärgert einen die ganze Zeit, schlägt seine Schwester, mogelt beim Spiel und beklagt sich dann bei seiner Tante. Welch hässliches kleines Biest!

Pilet ist maliziös, dies liegt, wie er weiss, in seiner Natur. Aber er kann auch sehr sentimental werden – ebenfalls in seiner Natur. Hänsles zehnjähriges Schwesterchen hat es ihm angetan. Er schwärmt: «Welch schöner Blick, Tillon, dieser Kinderblick mit der ganzen Offenheit, Einfachheit, Unschuld ihres Alters und schon etwas Tiefes …» Sie muss Schweres erlebt haben und sie ist immer den Tränen nahe. Pilet hat selten schönere Augen gesehen. Jean und er schauen ihr lange zu, wenn sie in einem inneren Traum verloren ist.

Anfang September fährt Pilet für zwei Tage nach Basel, um seinen in Monaco lebenden Freund Louis Déverin zu treffen. Komplizierte Verbindungen, lange Zwischenhalte, verspätete Züge – der künftige Eisenbahnminister nimmt es, wie er selbstironisch schreibt, als «Philosoph, mit der Ruhe der grossen Tage und der grossen Männer, die über das Pech lacht». Blitzbesuch von Strassburg, wo sie französisch reden, aber «welches Französisch!» Obschon schwindelanfällig, steigt er auf den Münsterturm, sieht durch die Fensterlücken den Abgrund, hat Angst, schämt sich als Leutnant, holt einen monsieur ein, der auch Angst hat, überwindet sich und tritt in 120 Meter Höhe auf die von keinem Geländer geschützte Plattform hinaus. Stolz hat Furcht überwunden.

Am Bahnhof in Basel möchte er aus Freude über das Wiedersehen mit Louis laut aufjauchzen. Er lacht die Zöllner an, lacht alle an und die beiden verbringen zwei herrliche Tage mit Plaudern und Flanieren. In ihrem Zimmer reden sie über ernste Dinge, über die Vergangenheit, über ihre Wünsche von gestern, ihre Freuden von heute, ihre Hoffnungen von morgen. Pilet ist glücklich, vorbehaltlos glücklich. Louis, der auch seine Lebenskrise hatte und allen Ernstes einmal sagte, wenn einer ihm seine Frau wegnähme, würde er diesen töten – Louis, der keiner Fliege etwas antun könnte. Jetzt heiratet er nächste Woche, Marcel und Tillon werden Pateneltern ihres Kindes sein. Der hochgebildete Louis Déverin, später Professor für Mineralogie und Geologie, wird für Marcel Pilet ein Freund fürs Leben bleiben.

Rückfahrt im überfüllten Zug, Zwischenhalt in Karlsruhe – «Karlsruhe ist nichts, nichts wert, hat nichts» … ist eng, hässlich, staubig und tot. Das letzte Stück nach Döffingen legt Pilet zu Fuss zurück, im Mondschein durch den Wald.

Aufregung im Hause Elsenhaus: Der Zeppelin «Schwaben» wird auf dem Weg von Baden-Baden nach Friedrichshafen und um 8.30 Uhr früh in Stuttgart zwischenlanden!

Ohne im Geringsten zu ahnen, dass es möglich sein könnte – sagen wir aus Ignoranz –, dass Jean oder ich nur ein sehr mässiges Interesse haben könnten, zu sehen, wie eine grosse Zigarre 150 Meter über unseren Nasen von einer enthusiastischen Menge beklatscht wird, beschloss der Familienkreis, die Glorie Deutschlands in corpore bewundern zu gehen.

Die beiden Romands schicken sich ins Unvermeidliche, erreichen aber, dass man um 4 Uhr früh aufbricht und die Ehrbezeugung an das Luftschiff mit einer längeren Wanderung durch morgendliche Wälder verbindet. Ziel ist das Schloss Solitude, das vom Zeppelin überflogen werden soll. Fröhlich marschiert das Grüppchen auf den engen Waldwegen, als plötzlich kurz vor 8 Uhr «ein monströses Brummen, das fantastische Schnarchen einer gigantischen Mühle» ertönt – «und das ist alles». Als die Wandersleute zwanzig Minuten später Solitude erreichen, sagt man ihnen, dass der «Schwaben» vor vielleicht einer Viertelstunde das Schloss überflogen habe und hinter den Bäumen verschwunden sei.

Mein Gott, Tillon, wenn Sie die langen, langen, langen und gelben Gesichter unserer enthusiastischen Germaninnen gesehen hätten. Unabsichtlich, ohne Zurückhaltung, ohne Diskretion, ohne Mitleid und richtig belustigt, brachen Jean und ich in ein mächtiges Lachen aus – ich weiss nicht, ob man uns dies verziehen hat.

Marcel freut sich auf das kurze Wiedersehen mit Tillon im Oktober, wenn er zum Militärdienst in die Schweiz muss. Doch werden sie überhaupt kommen, die ersehnten Tage des Wiedersehens? Aus der Aussenwelt dringen beunruhigende Nachrichten ins idyllische Döffingen:

Dieser Tage spricht man von Krieg, man spricht viel von Krieg. Und wenn man ihn hier auch fürchtet, ist man bereit, ihn zu erklären, und dies von einem Tag auf den andern. Die Befehle in den Kasernen überstürzen sich und werden präziser, die Ministerien sind überarbeitet, alles ist auf dem Quivive.

Pfarrer Elsenhaus hat den Kabinettschef des württembergischen Kriegsministers getroffen und ist mit besorgter Miene zurückgekehrt. Die deutsch-französischen Spannungen nähern sich einem Höhepunkt. Es geht um den Einfluss in Marokko, das beide Staaten sich als Protektorat einverleiben möchten. Frankreich besetzte marokkanische Städte und am 1. Juli liess Deutschland das Kanonenboot Panther vor Agadir aufkreuzen – was die Zeitungen den «Panthersprung von Agadir» nennen. Wenn es Krieg gibt, bedeutet dies für Leutnant Pilet die brüske Rückkehr in die Heimat.

Es wäre die Abreise, das Einrücken in Morges und dann … und dann die raue und schreckliche Pflicht. Oh, ich werde meine Pflicht tun, da bin ich sicher. Ich habe oft darüber nachgedacht und ich würde ohne Zögern losmarschieren … entfernt davon, mich davon abzuhalten, würden mich Ihre Gedanken, Tillon, fest und stark machen, um meiner Männer würdig und Ihrer würdig zu sein, auch wenn ich Sie nie je wiedersehen würde …

Pilet sorgt sich vor allem um die Mutter, fürchtet, dass sie die Trennung nicht überleben würde. Aber Tillon wäre ja da, um sie zu trösten und ihn an ihrer Seite zu ersetzen. Die Situation ist ernst. Wenn es zum Krieg kommt, dann wird er seine Freundin noch eine Stunde beim Kofferpacken sehen und dann vielleicht nie wieder.

Denken wir nicht daran, es ist besser so, und dann wird es die Pflicht sein, die unvermeidliche und heilige Pflicht – ich bin sehr patriotisch –, also erfüllen wir sie, wenn es so weit ist, und reden wir nicht darüber.

Der Diplomatie gelingt es, die internationale Spannung zu entschärfen, die akute Kriegsgefahr wird gebannt. In Deutschland kann Leutnant Pilet aufatmen.

16. Henry

Als Marcel gegen Ende November aus Leipzig in die Heimat zurückkehrt, herrscht in der Familie eine gespannte Stimmung. Der Vater ist übellaunig wie noch selten. Grund dafür sind die Ereignisse der Vorwoche.

In der Grossratsdebatte über die kantonale Zivilprozessordnung hatte Edouard Pilet einen Abänderungsantrag gestellt. Seiner Meinung nach sollte bei gerichtlichen Revisionsverfahren eine erneute Zeugeneinvernahme möglich sein. Die Waadtländer Regierung, der Berichterstatter Emile Gaudard und die Mehrheit seiner Fraktionskollegen bekämpften den Antrag Pilet. Dieser genoss hingegen die Unterstützung der oppositionellen Sozialisten. Der Gazette fiel auf, dass der mächtige Gaudard den Abgeordneten Pilet mit ungewohnter Vehemenz angriff. Pilet wehrte sich und warf Gaudard vor, aufs persönliche Terrain abgeglitten zu sein. Gaudards Mehrheitsantrag obsiegte mit 45 zu 36 Stimmen.

Tags darauf erhielt Edouard Pilet die Quittung für seine Unbotmässigkeit. Die Fraktion behandelte die Nachwahl für den Sitz eines verstorbenen Kantonsrichters. Statt für Pilet entschied sie sich mit 62 zu 58 Stimmen für einen Neffen des Verstorbenen. Damit war klar, dass Pilet den vakanten Richterposten nicht erhalten würde. In Döffingen hatte Marcel mitgefiebert und schliesslich von der Mutter das Ergebnis der Wahl erfahren.

Es ist nicht gerecht, dass er gescheitert ist. Der Sitz war ihm geschuldet, seit Langem versprochen, nachdem er im August nur unter dieser Bedingung verzichtet hatte. Und unzweifelhaft wäre es eine gute Wahl gewesen. Papa kann Fehler haben: Aber auf jeden Fall ist er intelligent und ein sehr guter Jurist. Er hätte einen perfekten Richter abgegeben. Auch verdiente er es; er hat sein ganzes Leben auf Kosten der Seinen dem öffentlichen Interesse geopfert … er, der an die Gerechtigkeit des Volks, an die Loyalität der Politiker, der Chefs seiner Partei glaubte.

Die Niederlage des Vaters ist für Marcel ein weiterer Beweis für Hinterhältigkeit in der Politik.

Sorgen bereiten dem nach Lausanne zurückgekehrten Marcel nicht nur der missmutige Vater, die bekümmerte Mutter und die schwer an Brustfellentzündung erkrankte Schwester, sondern auch sein «Freund fürs Leben», Henry Vallotton. Henry ist ein ehrgeiziger, vielseitig begabter, blendend aussehender junger Mann, der es im Leben weit bringen wird. Künftige Stationen seiner Laufbahn: brillanter Strafverteidiger, bewunderter Rallyefahrer, wagemutiger Reisender, initiativer Vollblutpolitiker, der seine Partei und den Nationalrat dominieren wird, treibende Kraft in einflussreichen Verbänden, Gesellschaftslöwe, Gesandter (entspricht dem heutigen Botschafter) in Rio, Stockholm und Brüssel, Autor von erfolgreichen, heute vergessenen Reisebüchern, Trivialromanen und ernsthaften Biographien. Ein uomo universale.

Es sind Henrys ständige Frauengeschichten, die Marcel und Tillon zu denken geben. In Orbe hatte der schneidige Henry den Schwestern Hedy und Gite den Kopf verdreht. Dann war er zeitweise mit einer Cocsy liiert, was in den rechtschaffenen Kreisen von Lausanne schlecht ankam. Am 22. Dezember 1910 signierte Henry Vallotton, stud. jur., zusammen mit Tillette Golaz, M. Pilet und einigen anderen befreundeten jungen Frauen und Männer Pilets Belles-Lettres-Liederbuch, Le sapin vert. Die Gesellschaft hatte unter den Kerzen eines kleinen Tannenbaums Weihnachten gefeiert und man hatte herzhaft dem Wein zugesprochen. Henry, der immer und überall gerne die erste Geige spielt, liess es im Liederbuch nicht mit seiner schwungvollen Unterschrift bewenden, sondern setzte mit der gleichen selbstsicheren Feder einige Musiknoten hinzu und den leicht abgeänderten Text des berühmten Lieds, das damals noch ganz neu war, Le vieux chalet des Abbé Bovet.

Là-haut sur la montagne / Hoch oben auf dem Berge

J'ai entendu pleurer / Hörte ich weinen

C'était la voix de ma compagne / Es war die Stimme meiner Gefährtin

Je suis monté la consoler / Ich stieg hinauf sie zu trösten

Hé, hé!

Hé!

In jenem Winter 1910/11 feierte der noch nicht einmal 20-jährige Frauentröster bei Gesangsauftritten mit seinen Zofingern in Lausanne und Montreux wahre Triumphe. Die Leute warfen ihm Kränze zu, schickten ihm Blumen, überhäuften ihn mit Beifall. Der Erfolg stieg ihm in den Kopf, er träumte von einer Bühnenkarriere. Marcel war skeptisch und schrieb Tillon, sie solle doch bitte den etwas naiven gemeinsamen Freund zur raison bringen.

Er stellt sich vor, dass, wenn achthundert Personen ihm applaudieren, achthundert auf seinen Gesang gewartet haben und ihm jetzt aufrichtig dafür danken. Kommt schon! Allerhöchstens zweihundert, und auch dies ist nicht sicher. Die andern klatschen, entweder, weil sie nichts anderes zu tun haben, oder sie klatschen automatisch, um nicht aufzufallen.

Henry sollte sich umhören, was hinter den Kulissen getuschelt werde, er sollte die Intrigen und den Neid kennen lernen, die das Künstlerleben vergällen. Weil ihm die Leute zujubelten, sehe Henry die Welt in Rosa und glaube, dies werde immer so sein. Sein «Hunger nach dem Ruhm der Konzertsäle» lenke ihn gefährlich vom Rechtsstudium ab. Marcel gibt zu, dass der juristische Beruf vielleicht trocken ist, aber er gibt Stabilität und auch echte Lebensfreude. Will Henry wirklich dem Recht adieu sagen?

Zugunsten von weiss Gott was? Zugunsten eines launenhaften und unbeständigen Ruhms, eines Scheinglanzes, einer oberflächlichen und im Grunde unwürdigen Existenz, weil sie ohne realistisches Ziel, weil sie lasterhaft und vertrödelt ist. Oh, ich bin nicht sehr beunruhigt. Ich glaube, es handelt sich hier um eine vorübergehende Krise, denn Henry ist schliesslich auch Freuden zugänglich, die nichts mit den Schmeicheleien der Massen zu tun haben.

Als Marcel Pilet in Deutschland weilt, ist Henry wieder einmal verliebt. Diesmal ernsthaft. Er ist «betäubt von den süssen und tiefen Blicken der schönen Augen von Amparo». Marcel kennt die Frau nicht, weiss nur, dass sie eine begabte junge Sängerin auf dem Weg zu einer Konzertkarriere ist. Er wünscht dem Pärchen alles Gute:

Diese beiden Kinder – und sie sind es wirklich in ihrer Liebe – sind Hand in Hand ins Leben aufgebrochen, ein wenig aufs Geratewohl und sorglos. Mögen sie immer so marschieren, geradeaus, bis das Ende gekommen ist, ohne Zwischenfälle und ohne Ärger, so dass, wenn sie einmal zurückblicken, ihre Herzen sich sanft erinnern.

Tillon, die ihre Pappenheimer besser kennt als Marcel, ist weniger zuversichtlich. Henrys «wechselhaftes und leichtes» Herz beunruhigt sie und sie fürchtet, dass dieser frische und frohe Frühling ein trauriges Ende nehmen werde. Marcel widerspricht:

Aber nein doch, dies wäre unmöglich. Das Ende wäre dann wirklich zu traurig, und während Henrys Leben gefährdet oder gar verpfuscht wäre, wäre dasjenige Amparos gebrochen. Dies darf nicht sein. Wenn dieser geliebte kleine Bruder auch unbeständig ist, dann ist er dies nicht viel mehr als die meisten Männer.

Es sei nämlich selten, erklärt Marcel altklug seiner Tillon, dass ein Mann die erste Frau heiratet, die er geliebt hat – er jedenfalls wüsste kein Beispiel.

Wie viele Male – Belles-Lettres sei mir Zeuge – glaubt man sich verliebt fürs Leben, wenn zwei Monate später davon bloss eine Erinnerung bleibt, eine charmante vielleicht, aber eine von früher. Henry hat wie alle andern – ein wenig mehr, gebe ich zu – auf den Wiesen die zu entblätternden Margeriten gepflückt, aber sehen Sie darin nichts allzu Böses … Es kommt ein Moment, wo eine innere tiefe Stimme einem ernst sagt: «Jetzt ist Schluss, flatterhaftes Herz, mit dem Vagabundenleben, die Zeit der Ruhe ist gekommen, und dein Aufenthalt ist nicht mehr der Wald. Dort ist sie, die du immer beschützen wirst, die dir zulächeln, dich lieben wird, deine Gefährtin.»

Wenn man diese Stimme höre, so Pilet, dann wisse man, dass es einen tiefen Unterschied gibt zwischen der leichten Liebe von gestern und der tiefen, heiligen Liebe von heute.

Und ich bin sicher, dass Henry sie gehört hat, diese intime Stimme, diesen ernsten Glockenschlag, dass Henry sie verstanden hat, dass er weiss, was man von ihm erwartet, was er tun muss – wenn er auch nur den geringsten Willen hat.

Im November 1911, nach seiner Rückkehr aus Leipzig, verbringt Marcel einen langen Sonntag mit Henry und einem seiner Dienstkameraden. Lange wandern sie durch «die sonnigen Felder unseres Kantons, der so sehr von uns und für uns gemacht wurde». Sie gehen in eine Pinte:

Stellen Sie sich vor, eine dieser guten alten Wirtschaften – ganz klein, niedrige Decke, aber mit sehr sauberen Tischen. Die Wirtin, obschon sehr freundlich, lehnt es zuerst ab, uns zu Essen zu machen. Sie ist es nicht gewohnt, sagt sie, wir müssten ins Café am Dorfende gehen. Nichts ist – hier sind wir, hier bleiben wir. «Sie haben sicher Eier, Madame?» – «Oh ja, das natürlich schon.» – «Wurst?» – «Tut mir leid, aber ich habe nicht mehr das kleinste Stück.» – «Wir werden Ihnen eines auftreiben.» Und alle drei gehen wir durchs Dorf, auf die Suche nach einer saucisse, fragen mal hier, mal dort bei Leuten, die guten Willens sind, aber man hat die Metzgerei noch nicht gemacht, dies kommt später im Winter. «Vielleicht bei Alexis Pahud, kennen Sie ihn nicht? Aber doch, der oben im Dorf? Der Schlosser?» Sieh da, von ihm bringen wir triumphierend ein riesiges Stück saucisse zurück. Und welch schmackhafte Mahlzeit! Eine dampfende Omelette, eine Schelmin von deftiger Wurst, ein Salat, dem ich schliesslich erliege, und ein Vacherin, der uns Orbe vergessen lässt! Vom «Neuen» will ich gar nicht reden, einem wahren Epesses …

Die kleine Geschichte wirft ein bezeichnendes Licht auf den Charakter des einfallsreichen Henry Vallotton. Zweifellos war er der Initiant der «Wurstsuche», wie er auch später in politischen und persönlichen Angelegenheiten die treibende Kraft sein wird. Ein ungeduldiger, aktiver Geist, stets nach neuen Horizonten Ausschau haltend – ein anderer Typ als sein abwägender Freund Marcel. Nach dem Essen geht es

zurück an die Sonne, zu den heimatlichen Wiesen, den vertrauten Hecken, langen Gesprächen, vor allem über das Militär, die beiden kommen gerade aus dem Dienst, ich bin in der III. Kompanie des 8. Regiments, was wollen Sie? Gegen fünf Uhr kochend heissen Café und nochmals Vacherin und Quittengelee.

Der Sonntag im Freien neigt sich dem Ende zu, Marcel will frérot noch ein wenig für sich haben und geht zu ihm in die Wohnung hinauf. Madame Vallotton, jetzt Witwe, klagt Pilet ihr Leid und beginnt zu weinen. Alles stimmt sie traurig, nichts interessiert sie mehr. Es ist das Unwiederbringliche, das sie schmerzt. Langsam gelingt es Henry und Marcel, sie ein wenig aufzumuntern. Man beginnt sogar zu lachen. Bevor er heimgeht, spricht Marcel noch ein ernstes Wörtchen zu frérot. Im Militärdienst hat sich Henry einen brüsken und autoritären Ton angewöhnt, der ihn Dinge sagen lässt, die Madame Vallotton verletzen.

Bis sich seine Maman ganz erholt und beruhigt hat, muss er der bravste und liebste Sohn sein, auch wenn sie Unrecht hat. Er kann dann später umso klarer fordern, worauf er Anspruch erhebt. Er wird es tun, ich bin sicher.

Henry ist nicht nur seiner Mutter gegenüber manchmal rücksichtslos, er behandelt auch seine Schwester, die ihm auf die Nerven geht, sehr schlecht. Es ist seine Art, er wird sich nicht ändern.

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