Kitabı oku: «Dien Bien Phu», sayfa 3
Der Commandant deckte ein As und eine Zehn auf und schrieb einen Strich auf seine Liste. Dann sagte er gedehnt: »Der Chefarzt will dich sehen. Entlassung. Die Schwester hat es mir verraten. Die Papiere sind schon da. Der Dampfer geht von Haiphong ab.«
Als Janville ihn freudig überrascht ansah, fügte der andere hinzu: »Ich werde dich vermissen, Junge. Grüß mir die Bistros, in denen es anständigeren Roten gibt als hier!«
Janville warf die Karten hin. An der Tür hob er die Prothese des Commandanten auf und warf sie ihm zu.
Im Vorzimmer des Chefarztes grinste er wieder dümmlich und verriet der Sekretärin: »Ich habe Dung noch nicht gefunden. Aber ich werde mir heute Abend noch im Haus der fünfhundert Mädchen von allen die Ärsche zeigen …«
»Ja, ja!«, unterbrach ihn die Sekretärin unwillig. Sie schob ihm ein Formular hin, auf das er seinen Namen zu schreiben hatte, dann übergab sie ihm den Marschbefehl nach Haiphong. »Der Chef kann Sie leider nicht noch einmal sehen. Er mußte zum Oberkommando Tongking. Gute Reise!«
Gaston Janville kam nie in Haiphong an. Um die Zeit, als der Dampfer von dort nach Saigon abfuhr, befand er sich bereits fünfzig Kilometer westlich von Hanoi. Noch fünfundzwanzig Kilometer mehr, und er würde in Xom Dong sein, dem Dorf, das aus Pfahlhäusern bestand, ähnlich wie jene in Laos, wo Janville noch Soldat gewesen war. Das Mädchen Ba, das stets einen uralten französischen Karabiner bei sich hatte, würde da sein. Er würde ihr erklären, jetzt sei er frei, keiner Fahne mehr untertan und entschlossen, sich nie wieder dazu verpflichten zu lassen, arme Leute in entlegenen Dörfern zu töten. Er sah die Großmutter vor sich mit ihren vom Betelkauen schwarz gefärbten Zähnen, und er war glücklich, daß kein Einschußloch in ihrer Stirn seine Gedanken peinigte.
Navarre holt aus
Das Hauptquartier der regulären Streitkräfte der Demokratischen Republik Vietnam lag in einer gebirgigen Region des befreiten Nordens. Es war sicher, denn der Gegner konnte mit seinen Kräften keine wirkungsvolle Aufklärung betreiben. Wer hier arbeitete, war in Felsgrotten untergebracht, die zudem noch Schutz bei einem eventuellen Luftangriff bieten konnten. Außerdem war das Gebiet im weiten Umkreis durch ein Netz von Posten gesichert, die es an Aufmerksamkeit nicht fehlen ließen.
Anh Chu war einer dieser in der neuen Volksarmee ausgebildeten Soldaten. Er kam aus einer lokalen Selbstverteidigungseinheit in Hanoi; inzwischen galt er als erfahrener Postenführer. Vor seiner Zeit als Soldat hatte er in einer Klempnerei gearbeitet. Er verstand etwas von Wasserrohren und defekten Gullys, konnte Metall löten und Gewinde schneiden. Überhaupt hatte er immer alles an Kenntnissen und Fertigkeiten begierig eingesogen. Wann immer es in der Einheit, zu der er gehörte, einen Vortrag gab, eine Abendveranstaltung, war er mit Sicherheit dabei zu finden. Erst kürzlich hatte ein von der Armeeführung Beauftragter eine Serie von Vorträgen über die Entstehung der Republik gehalten und Anh Chu deshalb mehrmals den Dienst getauscht, um nicht einen Satz zu verpassen. In seinem Notizbuch, das er einem toten Gegner abgenommen hatte, bevor er ihn begrub, standen viele Aufzeichnungen – Anh Chu konnte schreiben und lesen. Er war in eine der heimlich betriebenen Schulen gegangen, zu jener Zeit, als die Japaner Vietnam besetzt hielten. Bei Gründung der Republik, im September 1945, war er dreizehn Jahre alt gewesen. Mit sechzehn stand er seinen Mann bei den Selbstverteidigungskräften. Wenn er die jungen Soldaten sah, die heute zu den neuen Divisionen gehörten, kam er sich beinahe schon wie ein Veteran vor. Er hatte so viele Kämpfe mitgemacht, daß er sich an manche Einzelheiten nicht mehr genau erinnerte.
»Postenführer!« wurde er angerufen. Er duckte sich noch tiefer in den Schatten des riesigen Banyanbaumes, dessen Luftwurzeln so dicht erdwärts wuchsen, daß sie ein vorzügliches Versteck boten. Nach einer Weile konnte er sehen, es handelte sich um einen der Kuriere, die zwischen dem Hauptquartier und Hanoi eine ständige Verbindung aufrechterhielten. Ein Posten brachte ihn heran.
Hanoi war nach wie vor ein Zentrum der Parteiarbeit und ein Schwerpunkt der Aufklärung. Es war die Hauptstadt der Demokratischen Republik Vietnam, selbst wenn jetzt dort der Feind residierte. Der Kurier schien müde zu sein; er lehnte sich an einen Stamm und wartete. Sein Gesicht war vom Mondlicht blaß erhellt. Der Mann war nicht mehr jung.
Der Posten trat ab. Anh Chu prüfte den Kurier: »Parole?«
Der antwortete: »Viet-Bac«.
Daraufhin trat Anh Chu aus dem Dunkel und begrüßte ihn. Er hatte ihn zum diensthabenden Offizier des Hauptquartiers zu bringen, so lautete sein Befehl. Also erkundigte er sich nur kurz, ob alles in Ordnung sei, und als der Kurier ihm versicherte, er werde nicht verfolgt, führte er ihn auf verschlungenen Pfaden durch das unübersichtliche Gelände bis an die Grotte, in der er den Diensthabenden wußte.
Der Offizier ließ sich Bericht erstatten, dabei sorgte er dafür, daß der Kurier warmes Trinkwasser erhielt, und legte ihm Zigaretten hin. Alle Nachrichten wurden mündlich überbracht. Dadurch konnte es dem Gegner nicht gelingen, ein Dokument in die Hände zu bekommen, das von Nutzen für ihn war.
Es war Frühsommer. Die Temperaturen kletterten tags schon über dreißig Grad, nachts hingegen fielen sie hier im Gebirge stark, so daß besonders die Leute aus dem Tiefland, aus dem Delta des Roten Flusses, der Gegend um Hanoi, froren. Anh Chu brachte dem Kurier eine Decke, die er über die Schultern hängen konnte. Auch er selbst hatte sich immer noch nicht ganz an die kalten Nächte im Gebirge gewöhnt. Er zog alle Kleidungsstücke an, die ihm gehörten, wenn er nachts auf Posten ging.
Anh Chu wußte, daß der Kurier in Hanoi einen Laden betrieb. Schon bevor die Japaner Indochina okkupiert hatten, war dieser unscheinbare Mann im Widerstand gegen die Franzosen tätig gewesen. Sein Laden gab ihm eine vortreffliche Tarnung. Ob er es noch erlebt, wie wir die Franzosen endgültig verjagen? fragte sich Anh Chu, während er wieder unter die Luftwurzeln des Banyan kroch. Er erinnerte sich, wie er als Dreizehnjähriger auf dem Platz in Hanoi gestanden hatte, damals, am 2. September des Jahres 1945, als Ho Chi Minh das Ende der Kolonialzeit und die Gründung der unabhängigen Demokratischen Republik verkündete. Ganz Hanoi war auf den Beinen gewesen. Anh Chu trug ein Pappschild mit der Aufschrift »Doc Lap« (Unabhängigkeit), andere hatten den Namen Ho Chi Minhs auf Plakate gepinselt.
»Unsere Republik geht ihrem achten Geburtstag entgegen«, hatte der Vortragsredner neulich gesagt. »Acht Jahre Kampf. Und dieser Kampf hat eine lange Tradition. Vietnam ist das erste Kolonialgebiet der Welt, in dem das Volk sich selbst befreit und seinen eigenen Staat gegründet hat. Das ist ein weltgeschichtliches Ereignis! Wir werden vielen anderen Kolonialländern damit ein ermunterndes Beispiel geben!«
Geschichte. Anh Chu, wenn er heute noch einmal zu wählen hätte, wäre Geschichtslehrer geworden. In der Geschichte eines Volkes konnte man seinen wahren Charakter entdecken, seine Stärken und Schwächen, man konnte sogar Schlüsse auf die Zukunft ziehen, wenn man tief genug in die Vergangenheit eindrang.
Deshalb enthielt Anh Chus Notizbuch auch kaum Aufzeichnungen über ihn selbst und seine Alltagserlebnisse. Er vermerkte darin, was er aus der Entwicklung Vietnams gleichsam nach und nach ausgrub. Erkenntnisse, die von Seite zu Seite immer mehr Zusammenhänge erhellten, Kausalitäten aufdeckten, in die sich Anh Chu versenkte, wenn er Zeit dazu hatte.
Als er Soldat geworden war, hatte er nur gewußt, es galt, die Heimat vor den mit ihrer Rückkehr drohenden Franzosen zu schützen. Heute wußte er vieles, das ihn seinen eigenen Einsatz als Mitwirken bei einer historischen Anstrengung erscheinen ließ, die weit über Vietnam, über Indochina hinaus Bedeutung erlangen würde.
1940, als der achtjährige Anh Chu barfuß durch entlegene Gassen dorthin trottete, wo heimlich Unterricht abgehalten wurde – oft müde von der Arbeit in der Markthalle, in der er sich eine Handvoll Reis verdiente –, war das Heimatland der Kolonialisten von Hitlers Truppen überrannt worden. Bis auf einen kleinen Flecken im Süden, wo der General Pétain eine faschistenfreundliche Regierung bildete. Die Verwaltung der indochinesischen Kolonie tendierte zu dieser Clique, und der von Pétains Gnaden eingesetzte Generalgouverneur gestattete den mit Hitler verbündeten Japanern stillschweigend und Schritt für Schritt die Inbesitznahme Vietnams als Aufmarschgebiet für ihren ein Jahr später südwärts erfolgenden Angriff.
Doch noch vorher kam es in Frankreichs verratener Kolonie zu den ersten bewaffneten Aktionen von Vietnamesen gegen Japans Besatzer, in Bac Son, My Tho und anderswo. Es waren die ersten Flammenzeichen. Aus den Überlebenden der ungleichen Kämpfe wurden Kader einer illegalen Armee, die entschlossen war, Vietnam für das vietnamesische Volk zu erobern.
Politische Parteien und Gruppen folgten dem Ruf der Kommunistischen Partei Indochinas, sich in einer Einheitsfront zusammenzuschließen. An der Spitze der Vietminh standen neben dem welterfahrenen Kommunisten Ho Chi Minh, der von den Franzosen sieben Jahre eingekerkert gewesene Pham Van Dong sowie der Geschichtslehrer und Philosoph Vo Nguyen Giap, der wesentlich die militärischen Voraussetzungen für den weiteren Unabhängigkeitskampf schuf.
1942 begann er mit der Formierung der ersten bewaffneten Widerstandsgruppen, die sich feindfreie Räume erkämpften, in denen sie militärische Basen aufbauten. Im Winter 1944 existierte bereits die erste Einheit einer vietnamesischen Volksarmee, ein ernst zu nehmender Gegner für die japanischen Okkupanten.
Diese versuchten die Vietminh auszuschalten, indem sie Bao Dai, den letzten Sprößling der ehemaligen Kaiserdynastie, ausgruben und als Staatsoberhaupt eines Gebildes einsetzten, das sie »Unabhängiges Vietnam« nannten. Die Farce verfehlte ihre Wirkung: Der bewaffnete Widerstand nahm zu.
Der 16. August des Jahres 1945 markierte eine geschichtliche Wende – es war eine Provisorische Regierung der Republik Vietnam gegründet worden, ihr Präsident Ho Chi Minh rief das Volk zum allumfassenden Kampf für die Unabhängigkeit auf und verlangte von den japanischen Okkupanten die Kapitulation. Drei Tage später wurde Hanoi befreit. Bao Dai unterstellte sich erschrocken der Provisorischen Volksregierung. Eine Woche danach wehte auch über Huê und Saigon die Vietminh-Flagge: rotes Tuch mit gelbem Stern.
»Vietnam hat das Recht, frei und unabhängig zu sein und ist tatsächlich frei und unabhängig geworden!« Diesen Satz aus der Rede Ho Chi Minhs in Hanoi hatte sich Anh Chu in seinem Büchlein nachträglich notiert, obwohl er ihn ohnehin nie vergessen würde, ebenso wie alles, was die neue Republik im Leben der Leute schon in ihren Anfängen veränderte: das System der feudalen Mandarine wurde abgeschafft; es gab keine willkürlich auferlegten Steuern mehr; jeder erhielt das Recht auf Arbeit, durfte Bildung erwerben und sich an der Lösung öffentlicher Fragen beteiligen.
Wiedergekehrt waren die Franzosen im September 1945, nachdem in Paris ein neuer »Hochkommissar« ernannt worden war, für eine Kolonie, die es juristisch gar nicht mehr gab. Frankreich verfolgte die inzwischen gebräuchlich gewordene Politik der Nichtanerkennung. Truppentransporter spuckten von nun an zehntausende Soldaten an den Küsten Vietnams aus.
Die Republik war gezwungen, die Befreiung zu wiederholen. Ho Chi Minh selbst rief dazu auf, der schmächtige Mann, dem die Entbehrungen des langen illegalen Kampfes noch zu schaffen machten, gab der Nation ein Beispiel, indem er sich selbst keine Schonung gönnte.
»Erhebt euch zum Kampf!«, forderte er seine Landsleute auf. »Jeder Bürger Vietnams, ob Mann oder Frau, alt oder jung, muß sich ungeachtet seiner religiösen, parteipolitischen und nationalen Zugehörigkeit um der Rettung der Heimat willen zum Kampf gegen die französischen Kolonialisten erheben. Wer ein Gewehr hat, bewaffne sich mit diesem Gewehr. Wer ein Schwert hat, bewaffne sich mit dem Schwert. Wenn ihr auch keine Schwerter habt, bewaffnet euch mit Spaten, Hacken und Stöcken …«
Bald erwies sich der Norden Vietnams, vor allem seine Gebirgsregionen, als das Herzland des Widerstandes. Aber auch in Zentral- und Südvietnam gab es befreite Zonen. Die Kampftaktik der Volksarmee bestand darin, daß kleine, nach Partisanenart operierende Einheiten den Gegner überall dort verunsicherten, wo Erfolg möglich war. Die regulären, oft noch in der Ausbildung begriffenen Einheiten der Volksarmee hingegen wichen den Vorstößen des Gegners aus und schlugen ihrerseits dort zu, wo französische Truppen die Verbindung verloren oder sich in ungünstigen Stellungen befanden.
Das änderte sich auch nicht, als die Franzosen zu einer neuen taktischen Variante griffen: Wo sie nur konnten, errichteten sie Bunker und befestigte Punkte, die wie ein Netz über dem Land wirken sollten. Man versprach sich davon die Paralysierung des Widerstandes. Das Gegenteil trat ein, weil sich die Vietminh unter der flexiblen Führung von Ho Chi Minh, Truong Chinh, Pham Van Dong und Vo Nguyen Giap schnell auf mobile Taktik verlegten und ihrerseits nun die befestigten Punkte isolierten, sie zu unsicheren Inseln für den Gegner machten.
1951/52, als die Vietminh bereits über straff organisierte Divisionen verfügten, die von gesicherten Stützpunkten im Norden aus größere Operationen führen konnten, kam es zum Kampf um die Stadt Hoa Binh am Schwarzen Fluß. (Dort kreuzte sich die Straße von Hanoi westwärts in Richtung Laos mit der wichtigen Verkehrsader, die südwärts führte.) Die Serie von Gefechten, bei denen die Franzosen schwere Artillerie, Panzer und Fluzgzeuge einsetzten, endete mit einer peinlichen Niederlage des Kolonialheeres. Fortan hieß Hoa Binh bei den französischen Soldaten der »Fleischwolf«.
Nun verfügte Frankreich im gesamten Norden nur noch über ein so gut wie eingeschlossenes Stützpunktsystem in Nordlaos sowie über das Delta des Roten Flusses, mit Hanoi und Haiphong. Außerdem gab es im Nordwesten den Dschungelstützpunkt Lai Chau, und an der Grenze zur laotischen Provinz Sam Neua lag ein ebensolches Urwaldfort, Na San. Erst in der zentralvietnamesischen Küstenregion gab es wieder fest in französischer Hand befindliche Gebiete. Zwischen diesen befestigten Punkten, auf die sich Frankreichs Kriegsführung stützte, lagen Hunderte von Kilometern unsicherer Straßen und befreiten, von der Volksarmee beherrschten Territoriums.
Die Bedingungen, unter denen die Armee des vietnamesischen Staates kämpfte, hatten sich entscheidend verändert: Die offensive Verteidigung war möglich geworden, und die Voraussetzungen für einen umfassenden Gegenangriff begannen sich abzuzeichnen.
Einen Tag nachdem der Kurier aus Hanoi im Hauptquartier angekommen war, versammelten sich die Stabsoffiziere sowie eine Anzahl Truppenkommandeure an dem langen Holztisch in der Felsgrotte. An den rissigen Wänden waren Karten befestigt. General Giap begrüßte alte Kampfgefährten, die über weite Entfernungen angereist waren. Es war eine lockere, beinahe heitere Atmosphäre, die noch zusätzlichen Schwung erhielt, als Ho Chi Minh und Truong Chinh eintrafen. Bei einer Hochzeit könnte es lärmender zugehen, fand Anh Chu, der einen Blick in die Grotte warf, als er die Posten kontrollierte. Doch dann wurde es plötzlich still. Truong Chinh eröffnete die Besprechung: »Genossen, wir sind zusammengekommen, um über die Weiterführung des Kampfes im Herbst/Winter 1953/54 zu beraten …«
Er informierte die Anwesenden über Veränderungen in der weltpolitischen Lage, hauptsächlich darüber, daß es der sowjetischen Diplomatie gelungen war, die westlichen Mächte endlich zu einer Konferenz zu bewegen, auf der nicht nur über Korea, sondern vor allem über die Beendigung des Indochina-Krieges Beschlüsse gefaßt werden sollten. Truong Chinh faßte sich kurz. Er sagte: »Trotzdem liegen Monate des Kampfes vor uns. Der Gegner will bis zu dieser Konferenz eine Entscheidung, er will uns auf den Knien sehen, wenn die Konferenz beginnt. Diesen Plan haben wir zu durchkreuzen. Genosse General Giap wird seine Vorschläge zur Strategie und Taktik in der nächsten Etappe unterbreiten …«
Giap war sofort auf den Füßen. Er machte ein paar Schritte, als wolle er seinem Körper endlich Bewegung verschaffen, dann überflog sein Blick die Anwesenden, und er begann, in nüchterne Zahlen gekleidet, die gegenwärtigen Kräfteverhältnisse auf dem Kriegsschauplatz darzustellen. Er versprühte förmlich Energie. Was er vortrug war wohlgeordnet, und er wirkte dabei bedächtig, als überlege er immer noch. Vo Nguyen Giap war ein Mann, der durch seine Haltung andere zum Nachdenken anregte.
Er begann mit dem Delta des Roten Flusses. »Genossen, wir dürfen den Gegner in diesem Raum nicht zur Ruhe kommen lassen. Ich schlage vor, die Tätigkeit beweglicher Kräfte zu verstärken, so daß er es nicht wagen kann, von dort nennenswerte Truppen in andere Gebiete abzuziehen …«
Nachdem sich einige Kommandeure über Möglichkeiten geäußert hatten, den Partisanenkrieg im Delta zu intensivieren, fuhr Giap fort: »Sehen wir uns die Karten an. Wenn wir es schaffen, trotz der verstärkten Kämpfe im Delta von dort eigene reguläre Truppen abzuziehen, auch aus anderen Gebieten, können wir sie auf Lai Chau ansetzen, die letzte Bastion des Gegners im Nordwesten, im Fleisch unseres befreiten Nordens sozusagen …«
Raunen ging durch die Versammelten. Ein Ziel war genannt worden! Der Vorschlag war kühn. Aber Giap sprach schon weiter: »Greifen wir diesen isolierten Stützpunkt an, schaffen wir es, ihn zu nehmen, dann können wir unseren laotischen Kampfgefährten, die dann die Flanke frei haben, vorschlagen, gemeinsam mit vietnamesischen Freiwilligen aus ihren Basen südwärts vorzustoßen, Richtung Zentrallaos. Damit würde sich das Gesamtgewicht des befreiten nördlichen Indochinas enorm erhöhen …«
Er ging zu einer der Landkarten an der Felswand und bezeichnete die Richtung möglicher Vorstöße. Dann drehte er sich um. Seine Augen blitzten, als er rief: »Und nun – die Karten, die der Gegner spielen könnte: Er kann unseren Schritt hinnehmen, dann haben wir viel gewonnen. Läßt er sich aber verleiten, in Richtung auf unsere nördlichen und nordwestlichen Gebiete vorzudringen, um uns zu kontern oder um unsere Verbindung mit Laos zu brechen, dann … könnten wir noch viel mehr gewinnen!«
Wieder wandte er sich zur Landkarte. Sein Zeigestock bezeichnete Konzentrationen der Befreiungstruppen. Dabei erläuterte er: »Hier, hier und hier … können wir genügend reguläre Truppen schnell verfügbar machen, und die würden einen Gegner angreifen, dessen logistische Linien so weit ausgedehnt sind, daß seine Materialüberlegenheit nur noch sehr bedingt zum Tragen kommt. Genossen, darin könnte eine wichtige Vorentscheidung für unseren Kampf liegen!«
Eine Pause trat ein. Jeder hatte zuerst einmal darüber nachzudenken, was Giap da vorschlug. Dann wurden Fragen gestellt, nach Bewaffnung und Transportmöglichkeiten, nach Routen für die schnelle Verlegung von Einheiten, und immer wieder wurden die an den Wänden aufgehängten Karten konsultiert.
Ho Chi Minh, das dunkelbraune Bauernhemd weit aufgeknöpft, lauschte den Gesprächen. Er war stolz darauf, daß es diese Offiziere gab, Giap, Van Tien Dung, all die anderen, die von der Volksrevolution hervorgebracht worden waren und die im Kampf lernten, wie das Kriegshandwerk, von dem die Franzosen meinten, nur sie beherrschten es, gehandhabt wurde.
Hier, in den Bergen des Nordens, wuchsen die Männer heran, die nicht nur die gegenwärtigen Aufgaben lösen sollten – sie würden in einer Zukunft, die noch weit entfernt war, das Land endgültig zur gesicherten Unabhängigkeit und Freiheit führen.
»Fliegeralarm!«, rief Anh Chu in die Felsgrotte, in der die Beratung stattfand. Gleichzeitig schlug einer seiner Posten an eine im Freien aufgehängte Kartusche, was einen glockenähnlichen Ton weithin hallen ließ. Überall erstarben die Bewegungen. Schützen krochen unter ihr Tarnzeug, langsam wurden die Läufe der Fla-MGs hochgekurbelt – es gab den Befehl, nur dann zu schießen, wenn der gegnerische Flieger das Hauptquartier direkt angriff.
General Giap legte den Bleistift, mit dem er sich Notizen machte, nicht aus der Hand. Er zeichnete Pfeile in die Karte, die nach Lai Chau wiesen. Fünf reguläre Divisionen sind verfügbar, überlegte er, ein beachtliches Potential: die 304., 308., 312., 316. und die 320. Dazu kam die »Schwere«, das war die 351., mit zwei Artillerieregimentern, einem Pionierregiment, Panzern und anderem Gerät. Es galt, sie klug einzusetzen, diese Truppen, die aus Partisanengruppen hervorgegangen waren. Und man mußte ihren Nachschub sichern. Die Volksarmee verfügte nur über wenige Lastwagen. Doch auch sie würden höchstens nachts fahren können, weil der Gegner Aufklärer in der Luft hatte und die voll beladenen Fahrzeuge ein willkommenes Ziel für Schlachtflieger sein würden. Alles, was eine kämpfende Einheit brauchte, mußte deshalb von freiwilligen Trägern, den Dan Cong, herangeschafft werden. Viele waren Frauen; manche trugen neben der Last noch einen Säugling. In letzter Zeit hatte man mehr Fahrräder einsetzen können. Damit konnte man bis zu sechs Zentner Last befördern, so geschickt hatte man die Konstruktion verstärkt. Aber noch waren Fahrräder knapp, wenngleich in den befreiten Gebieten fieberhaft am Bau dieser einfachen Transportmittel gearbeitet wurde.
Der Vierzigjährige mit der hohen Stirn, der die Streitkräfte der Republik befehligte, drehte den Stift zwischen den Fingern. Er hatte erst am Nachmittag eine Kolonne weiblicher Träger vorbeiziehen sehen, und er war dabei, wie oft, an das Schicksal seiner Frau erinnert worden. Sie hatte wie er die Landsleute zur Erringung der Unabhängigkeit ermutigt. Ein französisches Gericht, das in Hanoi residierte, verurteilte sie zu lebenslänglicher Haft. Sie war im Gefängnis gestorben, während ihr Mann in den Bergen kämpfte. Seitdem suchte der Oberbefehlshaber zuweilen in den Gesichtern weiblicher Soldaten ihre Züge; er blickte Kindern nach, als wären es die eigenen.
Vo Nguyen Giap hatte als junger Mann mit der ihm eigenen Beharrlichkeit an der Hanoier Universität Philosophie und Jura studiert, später hatte er an einer Schule jungen Menschen vietnamesische Geschichte gelehrt. Es war seine Überzeugung, daß tiefes Verständnis für die eigene Geschichte Patrioten erzog. Und die brauchte Vietnam, wenn es leben wollte. Wie weit lag diese Tätigkeit schon zurück!
Als der General dahinterkam, daß der Postenführer des Hauptquartiers ein Tagebuch schrieb, ließ er es sich zeigen. Eigentlich wollte er dem Soldaten Anh Chu eine Belehrung erteilen: Man trug als Kämpfer kein Tagebuch bei sich. Wenn der Feind es erbeutete, könnte er Schlüsse daraus ziehen, unter denen andere Kameraden zu leiden hätten. Doch als Giap las, daß es sich bei den Notizen um historische Reminiszenzen handelte, Zeugnisse eines Studiums der Geschichte Vietnams, das die Franzosen so gern als geschichtslos hinstellten, lobte er Anh Chu und ermunterte ihn weiterzumachen.
Giap widmete sich wieder der Karte. Sollte der Teufel das Flugzeug da oben holen. Es beunruhigte ihn nicht. Selbst wenn er den Passagier gekannt hätte, wäre er nur schwerlich nervös geworden.
General Navarre saß neben dem Piloten der von den Amerikanern gelieferten »Dakota« und starrte mit seinem Fernglas nach unten. Durch das verschmutzte Kanzelfenster verschleiert, erkannte er unermeßliche blaugrüne Waldgebiete. Dazwischen lagen verkarstete Höhenzüge, faltige Erdaufwürfe mit ausgetrocknetem rostrotem Elefantengras. Hin und wieder öffneten sich Täler, in denen Siedlungen zu erkennen waren; an den Hängen schimmerten schlammige Reisterrassen. Und Flußläufe gab es. Sie blinkten im Sonnenlicht auf wie Silberfäden. Kleine Streifen gelber Erde markierten Fahrwege, so schmal wie ein Büffelkarren. Land ohne Maßstäbe, dachte Navarre, der Kavallerist, dem die mechanisierte Kriegführung vorschwebte, die alles hinwegfegende Offensive mit der stählernen Faust der Panzer und Haubitzen.
Wo soll man hier Panzer einsetzen? Es ist nicht das Gelände dafür. Artillerie? Eine Hundearbeit, Geschütze zu transportieren! Er begann sich vorzustellen, wie einem Infanteristen zumute sein mußte, der in diesem Gewirr von uralten Bäumen, Lianen, Gebüsch und fauligem Unterholz ein Deckungsloch grub. Und was tat er, um nicht nur persönlichen Schutz zu haben, sondern auch noch ein Schußfeld? Selbst Motorsägen würden Schwierigkeiten haben …
»Da unten sitzen sie«, machte der Pilot ihn aufmerksam, »irgendwo. Sogar unsere besten Aufklärer bringen nur selten brauchbare Aufnahmen mit nach Hause.«
»Meister der Tarnung. Ich habe davon gehört!«
»Nicht nur das. Sie haben ein System entwickelt, selbst größere Truppenteile so zu verstecken, daß man nicht einmal ein paar Reifenspuren sieht.«
»Was haben sie denn mit Reifen?«, erkundigte sich Navarre ironisch. »Büffelkarren?«
»Fahrräder«, antwortete der Pilot. Er flog, weil der General es so wollte, in etwa sechshundert Meter Höhe, und ihm war nicht sehr wohl dabei. »Neben den Fahrrädern haben sie so ziemlich alles, was die Amerikaner in Korea liegenlassen mußten. Die Chinesen haben es zusammengelesen und den Vietminh gespendet: 105-mm-Haubitzen, 81-mm-Granatwerfer, rückstoßfreie Geschütze, Bazookas, und Unmengen von Munition für jeden Zweck.«
»Flugzeuge?«
»Keine. Aber 37-mm-Flak. Unangenehm.« Der General wurde auf ein schmales bräunliches Band aufmerksam, das westwärts verlief. Der Pilot erklärte ihm, es sei die Straße nach Lai Chau. Befahrbar zwar, aber von Vietminh-Kommandos beherrscht, die jedem Konvoi verlustreiche Hinterhalte zu legen pflegten. Lai Chau war der letzte größere französische Stützpunkt im Nordwesten. Als der Ort zu sehen war, die Erdaufwürfe der Befestigungen, das Zickzackgewirr der Verbindungsgräben, die MG-Nester, ließ Navarre die Maschine ein paar Runden fliegen und sah immer wieder unschlüssig auf die Karte, die er auf den Knien ausgebreitet hatte. Schließlich bemerkte er zu dem Piloten, der den Krieg aus jahrelanger Erfahrung kannte: »Wer mit stärkeren Kräften nach Laos will, muß Lai Chau überwinden, soviel steht fest!«
»Er kann auch achtzig Kilometer weiter südlich operieren. Bei Dien Bien Phu. Gehörte mal uns. Außenposten. Habe gehört jetzt soll dort ein Vietminh-Regiment liegen.«
»Dien Bien Phu?« Der General suchte auf seiner Karte, bis er den Ort gefunden hatte.
Der Pilot klärte ihn auf: »Heißt wörtlich übersetzt ›Große Kreisstadt an der Landesgrenze‹. Weniger eine Stadt. Eben so eine Häufung von Siedlungen in einem ziemlich geräumigen Tal. Die Straße, die Sie jetzt sehen, mon Général, da unten, dieser lächerliche Wanderweg, den man stellenweise nicht sieht weil er zugewachsen ist, das ist die sogenannte Pavie-Piste. Beginnt bei Lai Chau und führt über Dien Bien Phu nach Laos. Wurde von einem gewissen Monsieur Pavie abgesteckt, der hier oben residierte, als die Thai das Gebiet besetzten. Lange her. Der Pfad endet irgendwo in der Nähe von Muong Khoua. Laos. Da haben wir einen Stützpunkt, wie den in Lai Chau. Muong Khou fiel am 18. Mai den Pathet Lao in die Hände, aber inzwischen gehört es wieder uns …«
»Einen Tag, bevor ich in Saigon eintraf«, sinnierte Navarre.
Der Pilot zeigte ihm Muong Khoua auf der Karte, dann tippt er auf Lai Chau, und zuletzt auf einen etwa 150 Kilometer weiter östlich gelegenen Punkt, bei dem der Name Na San stand. »Da wären die drei wichtigsten Bollwerke, um den Vietminh den Weg nach Laos zu verlegen. Wenn wir das Gebiet zwischen ihnen kontrollieren könnten, kämen nur noch Einzelreisende mit leichtem Gepäck nach Laos durch. Allerdings ist Muon Khoua so gut wie völlig abgeschnürt.«
»Wir können nur noch mit Lai Chau und Na San ernsthaft rechnen, wie?«
»So ist es. Fliegen wir Na San an, mon Général?«
»Ich möchte es sehen, ja.« Navarre dachte daran, daß er erst vor einigen Tagen wieder aus Paris die Order erhalten hatte, Laos unbedingt zu sichern, egal, wie er es anfing. Muong Khoua werden wir nicht mehr lange halten können. Es zu versorgen, überfordert unsere Nachschubdienste. Lai Chau müssen wir halten. Das ist ein Eckpfeiler des Tores nach Laos sozusagen. Wenn wir dazu, und außer diesem Na San, im Westen noch einen Stützpunkt hätten, wären wir in der Lage, aus einem strategischen Dreieck Fernpatrouillen zwischen den einzelnen Punkten auszuschicken. Dien Bien Phu. Warum haben wir das verloren? Ein großer Platz. Wie konnte man den aufgeben? Genug Raum für Truppen, schwere Waffen, einen Flugplatz, der die Versorgung garantiert, wenn die Landwege verschlossen sind. Hätten wir heute Dien Bien Phu, dann wäre das strategische Dreieck wieder vollständig, und es ergäbe sich hier für die Vietminh eine tödliche Falle! Er blickte aus der Kanzel. Die Maschine stieg.
»Warum gehen wir höher?« fuhr er den Piloten an. »Ich entsinne mich nicht, das befohlen zu haben!«
Gehorsam ging der Pilot wieder auf die vorherige Höhe zurück. Aber er sagte nicht sehr freundlich: »Da unten, mon Général, kommt Moc Chau. Dort haben die Vietminh Flak stehen.«
Navarre war entschlossen, die paar MG-Salven, die vielleicht irgendein barfüßiger Freischärler abfeuerte, nicht ernst zu nehmen. Vermutlich gab es sie gar nicht, es gab nur die Vorsicht des Piloten. Auch einer von denen, die nicht den Ehrgeiz hatten, zu kämpfen, sondern sich lediglich unbeschädigt über die Zeit bringen wollten. Noch während er über diese Mischung von Kleinmut und Spekulationsgeist innerlich grollte, schlugen von unten kommende Geschosse plötzlich Blechfetzen aus der linken Tragfläche.
Der Pilot trimmte die Maschine, die ins Torkeln geriet, aus und warf einen Blick auf Navarre. Der schwieg. Demonstrierte Desinteresse an jemandem, der vermutlich mit einem jahrzehntealten Maschinengewehr die »Dakota« beschoß. Erst als unter einer genauer sitzenden Garbe die Scheiben der Glaskanzel splitterten, nickte der General dem Piloten zu. »Höher!«