Kitabı oku: «Gesprochene Verbrechen»

Yazı tipi:

Heike Gerdes

Gesprochene Verbrechen

Kriminalgeschichten


Zum Autor

Heike Gerdes, geboren 1964, lebt in Ostfriesland. Nach einem Redaktionsvolontariat und jahrelangem Redakteursdasein bei verschiedenen Tageszeitungen in Niedersachsen arbeitete sie als freie Mitarbeiterin bei Zeitungen, Zeitschriften und einem Internetmagazin. Sie ist Mitglied im SYNDIKAT. Seit November 2011 ist Heike Gerdes Inhaberin der Krimibuchhandlung „Tatort Taraxacum“ in Leer, mit der sie schon zweimal den Deutschen Buchhandlungspreis gewonnen hat.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

(Originalausgabe erschienen 2012 im Leda-Verlag)

Herstellung: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

unter Verwendung eines Fotos von: © ferkelraggae / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6512-3

Das kleinere Übel

Jeder braucht ein Hobby, sag ich immer. Der eine sammelt Briefmarken, der nächste pusselt im Garten und der dritte, der bastelt. Garten hab ich keinen, nur eine Wohnung unterm Dach, von der ich immerhin übern Deich bis auf die Ems gucken kann. Zum Briefmarkensammeln braucht man als Erstes mal Briefe, und damit ist es bei mir nicht weit her. Was ich so aus dem Briefkasten fische, ist meist nur Reklame, und da kleben keine Marken mehr drauf heutzutage. Also bin ich einer von den Bastlern.

Als ich auf Rente ging damals, hab ich erst mal dran gedacht, mir eine Modelleisenbahn zuzulegen. Diese kleinen Häuschen und Bäumchen, Schranken und Figürchen haben mich schon gereizt. Aber so eine Modellbahn mit ihren Schienen und Tunnels braucht eine Menge Platz, wenn’s gut werden soll, und da hat meine Trine ein P vor gesetzt, als ich gesagt hab, die kann in die Stube, weil wir sowieso kaum Besuch kriegen und ebenso gut im Schlafzimmer fernsehen können oder in Christines altem Kinderzimmer.

Also hab ich gesagt, gut, dann eben keine Eisenbahn. Kostet ja auch nicht schlecht, der ganze Kram. Da hab ich mir dann stattdessen Sperrholz besorgt und Leim, Zwingen, Akkuschrauber und einen schönen Satz Feilen und was man noch so braucht. War letztlich auch nicht viel billiger als ein paar Schienen, Lokomotiven und so’n Schiet, aber was soll’s, Trine war froh, dass sie ihre gute Stube behalten durfte, und hat die Ausgaben genehmigt.

Und dann hab ich mein erstes Schiff auf Kiel gelegt. Meine Werft hab ich im früheren Kinderzimmer eingerichtet, das ist groß genug für eine kleine Werkbank. Und die Aussicht – traumhaft, aber das hab ich ja schon erzählt. Am Anfang hab ich ganz schön blöd dagesessen mit dem Bauplan und dem vielen Werkzeug und so. Denn so einen fertigen Bausatz wollt ich nicht haben, wenn schon, dann sollte das auch wirklich mein eigenes Boot werden. Hat ja ein paar Wochen gedauert, bis ich damit klarkam. Aber dann hatte ich wirklich ein kleines Segelbötchen fertig, ein Lotsenboot, vielleicht fünfundzwanzig Zentimeter lang, das ich stolz ins Regal gestellt hab.

Beim nächsten Boot war ich dann schon gewiefter und es dauerte nicht mehr so lang, da war eine schmucke Tjalk fertig, so ein flachgehendes Plattbodenschiff mit Schwertern an der Seite, die man sogar richtig absenken konnte. Ich sägte, feilte und leimte, und dazwischen, wenn der Leim trocknete, schaute ich aus dem Fenster über den Deich mit den vielen Schafen auf die Ems, die aus der Ferne ja immer noch ganz idyllisch aussieht, jedenfalls, wenn man die Lesebrille aufhat. Dass die Schafe inzwischen voller Dioxin sind, hab ich in der Zeitung gelesen, aber Leber mochte ich noch nie, jetzt hab ich wenigstens ein gutes Argument, wenn meine Trine mal wieder welche braten will. Die Tjalk war schon ein Staatsteil, auch wenn sie man gerade eben so ins Regal passte.

Die nächsten drei – ein Zweimaster, dem ollen Columbus seine Santa Maria und vor allem die Gorch Fock mit ihren zweiundachtzig Zentimetern Länge – waren ja schon ein bisschen sperrig, aber die hab ich dann ins Wohnzimmer gestellt. Die machen richtig was her, das musste Trine auch zugeben. Und sie war ja froh, dass ich ihr keine Schienen in die Stube gelegt hab, da hätte sie doch nicht mal mehr anständig staubsaugen können.

Ich hab dann erst mal ein paar kleine Schiffchen eingeschoben, so lange, bis im Kinderzimmerregal kein Liegeplatz mehr frei war.

Als Nächstes hab ich dann einen Trawler auf Kiel gelegt. Nicht so ein mickriges Fischerbötchen, wie sie draußen im Sielhafen für die Touristen rumliegen, so einen hab ich ja längst nachgebaut, sondern einen richtigen, der raus kann auf See, wo es noch Fisch und Granat zu fangen gibt. Hier in der Ems ist da nicht mehr viel zu holen, sagen alle. Na ja, wenn ich Fisch wäre, würde ich ja auch nicht gerne in dickflüssigem Schokoladenpudding rumschwimmen oder in »fluid mud«, wie das neudeutsch heißt. Klingt ja eigentlich ganz nett, wie so eine Schönheitsmaske oder eine modische Haarfarbe. Besser als »flüssiger Schlamm«.

Mein Trawler jedenfalls, der muss nicht im Trüben fischen, der wird weit rausfahren aus der Emsmündung, bis ins Eismeer hoch. Natürlich muss der auch als Modell ein bisschen größer sein als der lütte Kutter, sonst passt das ja nicht, wenn er daneben steht. Das hat sogar meine Trine schließlich eingesehen und mir auch geholfen, das ganze Holz die Treppe raufzutragen. Ist ganz schön sperrig, heißt nicht umsonst Sperrholz. Obwohl Trine neulich schon meinte, Sperrholz hätte doch wohl mehr mit Sperrmüll zu tun, aber die soll sich nicht so anstellen, die olle Fregatte, ich mach das alles ja schließlich auf meiner Werft. Bis auf das Zusägen, dafür bin ich diesmal ins Wohnzimmer gegangen, weil da mehr freie Bodenfläche ist. Erst hat sie ja doch gezetert, die Trine, wie ich da mit der Stichsäge, die ich mir dafür natürlich kaufen musste, und den Sägeböcken ankam. Wie sie denn wohl das ganze Sägemehl aus dem Teppichboden kriegen sollte und dass man am Sägebock vorbei gar nicht mehr den Fernseher sehen könnte und all so ein Blabla. Als wenn sie ihre »Verbotene Liebe« nicht ebenso gut von der Küche aus gucken könnte. Ich hab ihr den Fernseher sogar umgedreht und lauter stellen durfte sie ihn auch. Und als ich nach einer Woche alle Teile zurechtgesägt hatte, da hab ich alles fein säuberlich weggeräumt, damit sie Platz hat, um ihren geliebten Teppich zu saugen. Ist auch nicht viel leiser als meine Säge, aber mecker ich etwa?

Ein bisschen mehr Aufwand ist das schon, in meiner kleinen Werkstatt alles auszulegen, und die kleinen Leimzwingen taugen auch nur, um die kleineren Teile der Aufbauten und Fanggeschirre zu kleben. Für den Rumpf hab ich mir schon ein paar anständig große angeschafft.

Während das Kajütdach trocknet, schaue ich mal wieder aus dem Fenster, wie ich das so gerne mache, und stelle mir mein Schiff vor, wie es im Sielhafen ablegt, nach links ins Emsfahrwasser einbiegt und stromab Kurs auf die offene See nimmt. Auf einmal schiebt sich da doch eine Wand in meine Träume, so ein richtiges Hochhaus, wie es sie in Ostfriesland doch gar nicht gibt. Es dauert einen Moment, bis ich begreife, was da hinterm Deich vorbeikommt. Sonst hat man ja immer gleich gemerkt, wenn wieder so ein riesiges Kreuzfahrtschiff die Ems runtergeschleppt wurd, weil dann schon von weitem diese Schnulze über die Wiesen dröhnte: Time to Say Goodbye. Aber seit neuestem dürfen die das nicht mehr, jedenfalls nicht, wenn sie durch den Landkreis Leer fahren. Stört die Vögel, sagt die Behörde. Als ob tote Vögel sich noch groß an was stören. Die sind doch alle längst abgesoffen, wenn das Schiff kommt, weil die Ems dafür so hoch aufgestaut wird, dass die Brühe über die Wiesen schwappt und garantiert kein Vogelnest mehr übrig bleibt. Und die alten Vögel wären durch die Musik ja vielleicht noch in Stimmung gekommen, ein paar neue Eier anzusetzen, aber das fällt jetzt auch flach.

Von der Werkbank aus sehe ich nur die oberen Decks, deshalb trete ich ans Fenster, tausche die Lesebrille gegen die für Fernsicht und schau mir den ganzen Zauber mal genauer an. So weit ich gucken kann, keine Schafe auf dem Deich, sondern alles voll Touristen. Turnen da den Deichhang hoch übers Gras, weil die Treppen verstopft sind, und stehen dicht gedrängt auf der Deichkrone. Aber wehe, unsereins will mal da spazieren gehen, dann heißt es gleich, das gefährdet die Deichsicherheit. Die da jetzt stehen mit ihren Ferngläsern, Fotoapparaten und Videokameras, die gucken zu Hause bestimmt immer »Traumschiff« und lesen das Goldene Blatt oder die Neue Post, damit sie wenigstens aus zweiter Hand den ganzen Luxus mitkriegen, den sie sich genauso wenig leisten können wie Trine und ich.

Eins muss man diesen Emsländern ja lassen: Schiffe bauen können die. Und sie sorgen natürlich auch dafür, dass das jeder mitkriegt. Wenn ich mich mal drum kümmern würde, dass ich mit meinen Schiffen in die Zeitung komme oder ins Fernsehen, dann müsste ich auch nicht mehr um neue Werkzeuge betteln oder darum, dass ich mehr Platz für meine Arbeit kriege. Und dabei haben die auch mal klein angefangen mit ihrer Werft. Nicht mit Modellschiffen, klar, das nicht. Aber mit Fischkuttern, Gastankern und später dann mit Viehtransportern. So peu a peu wurde das dann immer größer und jetzt haben die eine Halle, in der sie Schiffe bauen können, die nicht mal mehr durch den Panamakanal passen, weil sie zu lang, zu breit und zu tief sind, nur noch durch die Ems. Die machen das wie ich beim Modellbauen: immer nach dem Motto »Was nicht passt, wird passend gemacht.« Nur, dass sie nicht die Schiffe dem Fluss anpassen, sondern den Fluss den Schiffen.

Mit dem Hintern voran wird der Luxusliner von zwei Schleppern den Fluss runtergezogen. Aber irgendwann wird der Pott die eigenen Maschinen anschmeißen, vier Stück sind es wohl mit 50 000 PS. Möchte ja nicht wissen, was die so schlucken.

Mein Trawler wird ja bestimmt ganz hübsch, aber raus auf See wird er nie fahren, wird wie die anderen Modellschiffe hier fest und tot liegen, bis mich irgendwann zwei Mann aus meiner Dachwohnung schleppen, nicht dem Hintern voran, aber mit den Füßen. Und dann wird Trine die ganzen toten Schiffe auf den Sperrmüll schmeißen. Mein Traum von der Seefahrt schmeckt mit einem Mal schal.

Ein Schiff muss fahren, nicht liegen. Soll ich einen Motor in meinen neuen Trawler einbauen? Gehen müsste das. Aber wenn Trine schon elektrische Lokomotiven zu teuer findet, wird sie das bestimmt nicht genehmigen.

Ein Segelboot ist da doch das kleinere Übel, das wird sogar ihr einleuchten. Irgendwo muss ich doch noch einen Plan haben …

*

Ich weiß gar nicht, was Trine jetzt schon wieder hat. In einen Schuppen will sie mich ausquartieren, unten beim Hafen. Dabei hab ich immer gesagt, aus meiner Wohnung geh ich nicht raus, nur mit den Füßen voran. Nur weil mein neues Boot ein bisschen größer wird als die anderen, geb ich doch nicht meine schöne Werkstatt hier auf. So eine Schnapsidee, ich soll meine Boote nicht mehr in der Wohnung bauen. Gut, das Kinderzimmer ist ein bisschen klein dafür, aber das Wohnzimmer reicht allemal, schließlich wird mein Boot nur sechs Meter lang. Die Endausrüstung mit Mast und Rigg, die kann ich dann meinetwegen unten am Hafen machen. Aber alles andere mach ich hier in meiner Werft, hier hab ich schließlich mein Lebtag Boote gebaut. Die Papenburger haben es sogar noch weiter als ich, die müssen ihre Schiffe sechsunddreißig Kilometer schleppen, bis sie am tiefen Wasser ankommen, und bauen die etwa ihre Werft woanders hin? Na also!

Für die paar Wochen kann Trine auch zu Christine ziehen, wenn ihr das hier zu laut und unbequem wird. Sie freut sich doch immer so, wenn sie ihre Enkelchen mal wieder sieht.

Könnte ein bisschen schwierig werden, die Jolle die Treppe runterzuschaffen, weil so ein Boot ja nicht nur seine Länge hat, sondern auch eine gewisse Breite. Vielleicht reicht es ja schon, das Treppengeländer abzumontieren. Und wenn nicht – so ein paar Dachpfannen sind ruckzuck runtergenommen. Boot an den Kran, ab durch die Lücke und die Ziegel wieder drauf. Und wenn das Boot dann so weit fertig ist und zur Endausrüstung unten am Hafen liegt, räume ich die Sache aus dem Wohnzimmer, hänge die Tür wieder ein und Trine kann wieder in Ruhe den Teppich saugen.

Trine, leg das mal besser weg, das ist nichts für dich. Pass auf, Trine, das Ding ist höllisch scharf.

Trine, nicht die Axt!

Nestbau in Weener

»Er ist ja so geschickt, unser Renko!« Das hatte schon seine Mutter mit stolzgeschwellter Brust verkündet, als sie uns das erste Mal in der allerersten Wohnung besuchte, die ich mit Renko bezogen hatte. Die Augen vor Rührung feucht, so stand sie vor dem Schlüsselkasten, den Renko mir zum Einzug getischlert hatte. »Damit du nicht immer nach deinem Schlüssel für unser kleines Nest suchen musst, mein Herzblatt!«

Nun hatte ich zwar noch nie Probleme damit gehabt, meine Schlüssel zu finden. Ich hatte mir schon längst einen hochmodernen Keyfinder ans Bund geclipst. Ein Pfiff, und schon antwortete das Schlüsselbund. Trotzdem war ich natürlich dankbar für diesen schulheftgroßen Kasten aus Sperrholzplatten, denn der hatte sogar einen laubgesägten Aufsatz in Schlüsselform.

»Wat mooi!«, befand Renkos Mama, und ich nickte glücklich.

Warum hätte ich auch nicht froh und dankbar sein sollen? Er war wirklich so geschickt, mein Renko. Alle meine Freunde und Verwandten sagten es. Und so sparsam dazu, da konnten sich die anderen Männer aus der Nachbarschaft eine dicke Scheibe von abschneiden.

Als wir, nicht lange nach unserer Hochzeit, endlich umzogen, in die Metropole des Rheiderlands, lebte Renko erst so richtig auf. Nicht nur, weil es für ihn die Rückkehr in die Heimat war und Mama mit dem Hollandrad bequem eben zum Tee herüberkommen konnte. Noch mehr als in der fernen Stadt zählte hier in Weener, was er an handwerklichem Eifer aufzubieten hatte. Der Ostfriese an sich ist gerne sparsam. Nicht ohne Grund gibt es im Plattdeutschen so viele Ausdrücke für den Gemütszustand, in dem sich auch mein Mann meist befand. Der Schotte unter den Ostfriesen aber ist der Rheiderländer. Zum Bummel in den Nachbardörfern nimmt er vorsichtshalber erst gar kein Portemonnaie mit, damit er nach ausgiebigem Gucken im Laden reinen Gewissens beteuern kann: »Ick hebb nett keen Knippke insteken.«

Diese Gewohnheit machte sich auch Renko schnell zu eigen. Hatte ich beim Schaufensterbummel ein wunderschönes Väschen entdeckt, begleitete er mich still in den Laden, ließ mich stöbern und feilschen, um dann mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns zu verkünden, er habe leider … Sie wissen schon.

Nur einmal pro Woche, wenn er selber zum Aufbruch blies, konnte ich mich darauf verlassen, dass er die EC-Karte einsteckte, denn seine Einkaufsbummel waren nicht nur ausgedehnt, sondern stets ergiebig. An jedem Sonnabend, den Gott werden ließ, und es waren viele, schwang er sich pünktlich um halb sieben aus dem Bett, streckte sich unternehmungslustig und zog die Decke aus der verzweifelten Umklammerung meiner Finger.

Unser Häuschen lag idyllisch am Rand der niedlichen kleinen Stadt, der Garten war groß und herrlich verwildert. Verwildert war allerdings auch das Häuschen, von den einfach verglasten Fenstern mit der abblätternden weißen Farbe bis zum Badezimmer, das ein ganz romantisches Emaillewaschbecken hatte, dafür aber keine Kacheln an den Wänden und auf dem Fußboden grünes PVC. Das Dach, mit echten Jemgumer Tonpfannen gedeckt, war wunderhübsch anzusehen mit seinem weichen Moosteppich und den kleinen Birken, die aus der Dachrinne sprossen.

Renkos Augen leuchteten – vor Glück über das malerische neue Zuhause in seiner alten Heimat. Dachte ich. Und unterschrieb den Kaufvertrag mit zitternden Fingern ebenso wie den Kreditvertrag der Bausparkasse. Den Vertrag über die Risikolebensversicherung zur Restschuldabsicherung setzte ich durch, was bei Renko aber nur kurz für Verstimmung sorgte.

Wir zogen sofort ein, denn was im Haus zu tun war, konnte genauso gut und noch besser direkt an Ort und Stelle erledigt werden, fand Renko, und seine Mutter unterstützte ihn nach Kräften. Also stapelte ich die Umzugskartons zunächst im Schlafzimmer, das nach Renkos Ansicht von allen Räumen am wenigsten dringend eine neue Tapete und einen frischen Teppich brauchte – schließlich war man da ja nur nachts, und da war es, wenn man den einzigen Lichtschalter neben der Tür ausgeknipst hatte, ohnehin dunkel und ich musste die gewagte Wand mit den klodeckelgroßen orangen und braunen Kringeln nicht sehen.

Gleich am nächsten Tag suchte ich mir aus dem Telefonbuch die wichtigsten Nummern heraus und bestellte Maurer, Dachdecker, Elektriker und Installateur in unser neues Zuhause. Renko ließ mich gewähren, bis der erste heimische Handwerker seinen Kostenvoranschlag abgeliefert hatte.

An diesem Tag, es war ein Samstag, öffnete er die Post, schaute unten auf die dritte Seite des Briefs, ließ sich auf den Küchenstuhl sinken und sagte: »Haou.« Dann erhob er sich, zog sich ein frisches T-Shirt über, tastete nach seinem Knippke und holte den Autoschlüssel aus dem laubgesägten Schlüsselkasten. Ich angelte mir den Brief, der diesen Gefühlsausbruch ausgelöst hatte, und las mit großen Augen den Preis, den der Maler für seine Arbeit errechnet hatte.

Als Renko drei Stunden später den Kombi rückwärts auf die Einfahrt rangierte, war die Rückbank geklappt und der Wagen bis unters Dach voll. Obenauf lagen verschiedene kleinere Kästen, die er als Erstes in die Küche trug. Ich identifizierte eine Bohrmaschine, einen Exzenterschleifer und eine Stichsäge. Bei den anderen Sachen durfte ich tragen helfen. Es kamen ein Tapeziertisch, vier Eimer Wandfarbe, je ein Satz Pinsel und Farbrollen und mehrere Arme voll Raufasertapetenrollen dazu. Ich war froh. Renko hatte recht, das bisschen Streichen und Tapezieren konnten wir auch alleine schaffen. Er war ja so geschickt, und das Geld für den Maler konnten wir sparen und für die anderen Arbeiten aufheben.

Ich hatte mir gerade einen feschen Hut aus Zeitungspapier gefaltet – das gleiche Modell wie die Papierschiffchen, die wir im Unterricht immer unter der Bank gebastelt hatten – und den Tapeziertisch im Wohnzimmer aufgeschlagen, als ein aufgeregtes »Haou!« von Renko mich zusammenfahren ließ. Vor dem Haus nagelte ein Diesel und Renko eilte vor die Tür, um dem Fahrer eines blaugelben Lastwagens beim Abladen zu helfen. Behutsam lehnte er elf verschieden große Fenster an die Hauswand. Bei der weißen Kunststoffeingangstür musste ich mit anpacken. Sie war so schauderhaft, dass ich beschloss, beim nächsten Einkauf unbedingt mitzufahren.

Schon der nächste Samstag brachte uns wieder – diesmal gemeinsam – auf die Autobahn Richtung Leer, denn der Baumarkt draußen beim Emspark hatte Montageschaum im Sonderangebot. Zum Glück hatte uns die Woche trockenes Frühlingswetter beschert, so dass die Plastikfolie, die Renko vor die leeren Fensterhöhlen gespannt hatte, nicht viel auszustehen hatte.

Es folgte eine Zeit herrlicher Zweisamkeit. Gemeinsam durchstreiften wir die Baumärkte des Landkreises Leer und der Nachbargemeinden. Ich lernte die Läden schätzen, die neben Schrauben, Brettern und Dämmstoffen auch ein gut sortiertes Angebot von Geschenkartikeln und Dekomaterial hatten – von Dingen eben, die nicht einmal mein geschickter Mann selbst bauen konnte. Die Vorräte trugen wir gemeinsam in unser Nest.

Renko hämmerte und schraubte, sägte und stemmte. Ich bückte mich nach heruntergefallenen Zangen, reichte Dübel an, sammelte abgebrochene Sägeblätter auf und ergänzte regelmäßig die Heftpflastervorräte für unseren Medizinschrank, den Renko aus weiß furnierten Spanplattenabschnitten zusammengeleimt und mit einem großen roten Kreuz bemalt hatte. Bei diesen Gelegenheiten, wenn ich meinen Einkaufswagen durch die Regalreihen des Supermarktes schob, lernte ich, wenn auch geflüstert und nicht direkt an mich gerichtet, die Vokabeln »sünig« und »grannig« kennen, die ich in der Stadtbücherei im Ostfriesischen Wörterbuch nachschlug.

Ich kannte die A 31 zwischen Weener und Leer bald gut, konnte unfehlbar erkennen, ob einer der Bäume neben der Fahrbahn kränkelte, und registrierte, dass der Straßendienst durchschnittlich sechs Wochen benötigte, um entflogene Plastikplanen aus dem straßenbegleitenden Großgrün zu entfernen.

Zwei Wochen vor unserem Hochzeitstag verblüffte mich Renko dadurch, dass er die Autobahnauffahrt Richtung Meppen nahm und am Dreieck Bunde abbog, statt in der Gegenrichtung bis zum Emstunnel durchzurauschen und dann nach Leer auszuscheren.

Ich fühlte mich wie im Märchenland, als ich durch die breiten stuhl- und schrankgesäumten Alleen des schwedischen Möbelhauses in Groningen schlenderte. Renko folgte mir mit wachem Blick. Wo immer ich länger verweilte, zückte er seinen Zollstock, vermaß die massiven Kiefernschränke, filigranen Regale und kompakten Nachtschränkchen und machte sich fleißig Notizen. Meine Frage, ob wir nicht gleich das eine oder andere Teil mitnehmen könnten, beantwortete er mit verschmitztem Grinsen und verheißungsvollem »Haou!«

An unserem Ehrentag überraschte er mich mit einem Wohnzimmerregal, das er aus ungehobelten Dachlatten und Profilholz genau nach den Maßen des Schwedenmöbels zusammengezimmert hatte.

Mit der Zeit gewöhnte ich mich an den geregelten Wochenablauf mit den samstäglichen Baumarktbesuchen ebenso wie daran, auf einer Baustelle zu leben. Dass die Ehefrauen der heimischen Handwerker inzwischen die Straßenseite wechselten, wenn ich durch Weeners malerische Innenstadt ging, gab mir zwar einen Stich, aber ich nahm es mir nicht lange zu Herzen. Ich hatte mein Häuschen und ich hatte meinen fleißigen Renko mit den breiten Schultern und den blonden Haaren.

Bis ich ihn kennengelernt hatte, waren alle meine Männerbekanntschaften dunkellockig und eher mediterran gewesen, aber seit jenem denkwürdigen Gallimarktsbesuch, bei dem mir dieser große Blonde im Schwarzwaldhaus einen Glühwein spendiert hatte, war alles anders. Rein genetisch war das zu erklären, las ich. Dass sich in der Zeit des hormonellen Hochbetriebs Gegensätze anziehen, liegt am biologischen Programm der Arterhaltung. Je größer die Unterschiede zwischen Männlein und Weiblein, desto besser werden die Gene durchmischt, was der Population zugute kommt. Zumindest theoretisch, denn das genetische Programm rechnet ja nicht mit Pille und Pariser. Erst wenn es an Nestbau und Jungenaufzucht geht, setzt das Weibchen unserer Spezies auf Ähnlichkeit, wegen der Sicherheit. Deshalb hatte ich wohl sofort gewusst: der oder keiner.

Auch meine besten Freundinnen, die mich bald nach dem Umzug besuchten, waren entzückt von meinem großen, blonden Ehemann, der mit so viel Einsatz unser Nest zu verschönern suchte. Schwatzend saßen wir unter dem Sonnenschirm auf der Terrasse, die ich aus alten Baustoffpaletten zusammengeschoben hatte, bis Renko sich ans Pflastern und Überdachen der richtigen Terrasse machen konnte. Die rothaarige Tina warf immer wieder schmachtende Blicke in Richtung Haus, wo Renkos gebräunter Rücken aus dem weißen Unterhemd kokett herüberblitzte. Sabine betonte ein ums andere Mal, wie sehr sie mich um meinen Renko beneidete. Und dass wir nicht im Wohnzimmer sitzen konnten, weil Renko dort gerade die Fliesen für den Badezimmerausbau gestapelt hatte, machte ihnen auch überhaupt nichts aus, schließlich war das Wetter noch immer hochsommerlich. Auch den Pflaumenkuchen lobten sie in den höchsten Tönen. Ich verschwieg, dass Schwiegermutter ihn gebacken hatte, weil der Herd, den Renko angeschlossen hatte, so gut heizte, dass jeder Kuchen nach zehn Minuten außen verkohlt und innen flüssig war.

Schwiegermutters Pflaumenkuchen war aber auch wirklich ein Gedicht. Binnen weniger Minuten klebten auf der Kuchenplatte neun Wespen, drei patrouillierten über dem Tisch und eine verfing sich in Sabines langen schwarzen Locken, geriet in Panik und stach Sabine in die Oberlippe. Ich lotste die Jammernde über einen Haufen Abbruchziegel in die Küche, um ihr einen Eiswürfel zum Kühlen zu geben. Mit einem mitleidigen »Haou« wollte Renko uns folgen, aber vier verwirrte Wespen versperrten ihm den Weg. Renko fuchtelte mit seinen kräftigen, sonnengebräunten Armen, trat drei große Schritte rückwärts, strauchelte über einen Mörtelzuber und kam endlich heftig rudernd so weit wieder ins Gleichgewicht, dass er mit langen Sätzen, Haken schlagend wie ein Feldhase, ums Haus flüchten konnte.

Sabines Lippe war nach wenigen Tagen wieder abgeschwollen und sie trug mir die Attacke nicht nach, zumal sich Renko sehr fürsorglich um sie gekümmert und mit seinen geschickten Händen höchstpersönlich ein kühlendes Gel aufgetragen hatte. Schon am nächsten Samstag besuchte sie uns wieder. Sie kam so früh, dass sie Renko zum Baumarkt begleiten konnte, während ich mich diesmal zur Abwechslung in unserem schönen, wildromantischen Garten zu schaffen machte. Natürlich lud ich sie zum Mittag ein und sie revanchierte sich dafür, indem sie Renko nachmittags beim Vertäfeln der Wohnzimmerdecke zur Hand ging. Ich war ihr dankbar, denn da ich auf dem besten Wege war, unser gemeinsames Nest in Weener mit neuem Leben zu füllen, genoss ich es sehr, nicht ständig auf dem Boden herumzukriechen, Profilbrettkrallen und Werkzeuge zu suchen oder mit weit über den Kopf gereckten Armen auf einem Stuhl zu balancieren, um vier Meter lange Holzbretter gegen die Decke zu drücken.

Stattdessen stellte ich mir einen Gartenstuhl in ein schattiges Eckchen hinter eine Holzwand, die den ewigen ostfriesischen Nordwestwind abhielt, beobachtete mit wohliger Trägheit die vorbeitorkelnden Zitronenfalter und lauschte dem Zwitschern der Vögel und dem Summen der Bienen.

Ein ausdauerndes Knistern, als würde jemand ständig die Nägel von Daumen und Zeigefinger aneinanderknipsen, erregte meine Aufmerksamkeit, und nach einigem Suchen entdeckte ich an der Windschutzwand drei fleißig raspelnde Wespen, die sich den Bauch oder was auch immer mit Holzspänchen vollschlugen. Sie ließen sich von mir nicht im geringsten stören, waren ganz vertieft in ihre Arbeit – genauso vertieft wie Renko und Sabine ins Vertäfeln unseres Wohnzimmers.

Ich holte mir ein Buch und kehrte in meinen Gartenstuhl zurück, um von dort aus meine Naturstudien fortzusetzen. Und es gab viel zu beobachten: Hier das Raspeln und Knispeln der Hymenoptera aus der Familie der Vespidae. Dort das Nestbauverhalten von Homo sapiens sapiens. Mehr oder weniger sapiens jedenfalls.

Während Sabine und Renko ziemlich ortsfest blieben, waren die Wespen ständig in Bewegung. Ausdauernd verschifften sie ihre Holzspäne auf dem Luftweg und steuerten zielstrebig die fünfte Dachpfanne von unten an. Zum Schutz der Bauarbeiter vor Kammerjägern oder Kuckuckswespen, die gewohnheitsmäßig ihren Nachwuchs in fremden Nestern ablegen, schwebten immer drei, vier Wächter an den Grenzen des Staates von Vespula germanica.

Die Tage waren warm und trocken und jeden Morgen, wenn die ersten Strahlen der Morgensonne die Dachpfannen erwärmten, begann dort ein munteres Summen, Raspeln und Knispeln. Stieg die Temperatur nachmittags zu stark an, schaltete das expandierende Wespenvolk den Ventilator an und ein vielhundertfaches Flügelschlagen erfüllte die Luft mit gleichmäßigem Brummen.

Grenzkonflikte hatten wir nicht. Ich beschränkte mich aufs Beobachten und Renko war im Haus zu beschäftigt, um zu bemerken, was sich über der Palettenterrasse abspielte. Immer häufiger brach er jetzt zudem auch an normalen Wochentagen nach Feierabend zum Baumarkt auf. Mit Rücksicht auf mich und meinen Zustand meist allein. Ohne mich waren seine Einkaufstouren aber längst nicht so erfolgreich, immer häufiger kam er zwar spät, aber ohne neue Elektrogeräte, Farbeimer und Badezimmerfliesen zurück.

Ich begann mich zu langweilen, denn auch Sabine hatte immer seltener Zeit, mich zu besuchen. Nur samstags kam sie noch, hatte dann aber viel zu viel damit zu tun, Renko beim Heimwerken zur Hand zu gehen.

Ich beobachtete das Wachsen des Heims von Vespula germanica und, wie mir – spät, aber schlagartig – endlich klar wurde, als Renko mit der Stichsäge die Bauteile eines herzförmigen Schlüsselkastens zurechtsägte, das Balzverhalten von Homo sapiens. Und das alles, während die Birken auf dem Dach meines Nestes wuchsen, der Efeu die Wände emporkletterte und sich unter die Dachziegel vorarbeitete.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich Renko davon überzeugt hatte, dass das Dach vor dem Herbst unbedingt repariert werden musste. Aber eines schönen Morgens, die Sonne war gerade aufgegangen und ihre Strahlen hatten noch nicht viel Kraft, lehnte er endlich die lange Leiter an den Giebel unseres Hauses. Ich verabschiedete mich herzlich von ihm und fuhr zum Einkaufen, um ihm bei der Arbeit nicht im Wege zu stehen. Als ich vom Hof fuhr, hatte er bereits die obersten drei Dachpfannenreihen entfernt.

Der dunkellockige Notarzt war sehr einfühlsam. Ich sah ihn mit tränenumflortem Blick an, als er mir ein Beruhigungsmittel in den Arm spritzte und mit seinem entzückenden mediterranen Akzent behutsam fragte, ob er jemanden benachrichtigen solle. Ich schüttelte den Kopf und versuchte ein tapferes Lächeln. Ich würde schon zurechtkommen, ganz bestimmt. Ja, doch, ich wäre ihm schon dankbar, wenn er morgen noch einmal nach mir sehen könnte. Zur Teezeit vielleicht.

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