Kitabı oku: «Witterung – Lauf so schnell du kannst», sayfa 4
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Junas Blick fiel sofort auf einen regenbogenfarbenen Baumwollpullover mit grüner Borte und bunten Fransen, als sie das Komm herein, ein Bekleidungskaufhaus für Kinder und Jugendliche, zusammen mit ihrer Mutter betrat.
„Au, Mama, den würde ich gerne anprobieren.“
Michaela nickte und lächelte. Die Kleine schnappte sich den Pullover und entschwand in eine der Kabinen.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?“
Eine Mittdreißigerin, mit dunklem Haar und hohen Wangenknochen, lächelte sie an.
Michaela erklärte, dass sie für ihre zehnjährige Tochter ein paar Kleidungsstücke für den Sommer kaufen wollte. Die beiden Frauen waren einander sofort sympathisch und kamen ins Gespräch, während Ayumi ein paar Kleidungsstücke heraussuchte.
Michaela erfuhr, dass Ayumi die Frau des Geschäftsinhabers war und nur aushalf.
Nur zögernd erzählte Michaela, dass sie, frisch geschieden, einen Neuanfang in Kassel wagte und gerade eine Arbeitsstelle als Sozialarbeiterin in einem Frauenhaus angetreten hatte.
Ayumi merkte auf.
„Ich kenne diese Einrichtung. Mein Mann und ich, wir spenden dort regelmäßig. Nicht nur Geld, sondern auch Kleidung für die Kinder. Wie die sich immer freuen!“
Juna kam aus der Kabine und strahlte.
„Das Oberteil steht dir ausgezeichnet. Und weißt du, was noch dazu passt?“ Ayumi fischte aus einem Stapel Hosen eine schwarze Röhrenjeans. „Wie gefällt dir die?“
Juna blickte fragend zu ihrer Mutter und sauste zurück in die Umkleidekabine, als Michaela zustimmend nickte.
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Als Botho Lange sein Geschäft erreichte, das genau genommen eigentlich eher ein kleines Kaufhaus war, blieb er stehen und beobachtete von außen das Treiben im Inneren. Seine Frau machte sich gut. Sie stand mit einer Kundin zusammen und unterhielt sich scheinbar angeregt.
Als sie lächelte, lächelte Botho mit. Er hatte Glück gehabt – ein richtiger Glückspilz war er! Doch ein Schatten legte sich plötzlich auf sein Gesicht. Wenn bloß nicht diese Sache wäre! Aber vielleicht hatte Heribert recht, und alles war ein Zufall und niemand verfolgte ihn. Aber was, wenn doch? Eine Weile stand er nur so da, dann entdeckte ihn Ayumi und winkte.
Er gab sich einen Ruck und wollte gerade das Geschäft betreten, doch dann hielt er abrupt inne. Im Schaufenster spiegelte sich eine dunkel gekleidete Gestalt. Sie schien ihn anzustarren.
Die Königsstraße war eine verkehrsberuhigte Shoppingmeile, wo nur Straßenbahnen fuhren. Botho drehte sich um. Eine Straßenbahn hielt gerade und versperrte ihm die Sicht. Mist! Er beeilte sich und wollte wenige Meter weiter oben die Bahngleise überqueren, doch in diesem Moment fuhr die Tram an, und er musste stehen bleiben. Als sie vorbei war, war niemand auf der anderen Seite zu sehen. Eine Weile suchte Botho die Umgebung ab, dann ging er langsam zurück und betrat zögernd sein Geschäft.
Juna kam aus der Kabine. Man sah dem Mädchen an, wie gut es sich gefiel. Nachdem Ayumi Michaela und ihren Mann miteinander bekannt gemacht hatte, bezahlte Michaela die Sachen und freute sich, als sie einen Preisnachlass auf die Hose bekam.
„Mein Mann veranstaltet jedes Jahr zum Frühjahr eine Modenschau. Sie findet nächstes Wochenende statt.“ Ayumi warf Botho einen vielsagenden Blick zu.
Botho verstand.
„Ja, ähm – genau. Unsere jungen Modelle bekommen Sachspenden. Hätte Ihre Tochter vielleicht Interesse?“
Juna merkte erfreut auf und warf ihrer Mutter einen flehenden Blick zu. Michaela zögerte, stimmte dann aber zu und freute sich über das glückliche Gesicht ihrer Tochter.
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Beinahe wäre er entdeckt worden. Es gab Menschen, die spürten, wenn man sie von hinten ansah oder gar verfolgte. Sie drehten sich plötzlich blitzschnell um – die kleinen Bastarde!
Dieses Verhalten musste ein Überbleibsel aus Vorzeiten sein, als die Gefahr überall lauerte und nur ein gutes Gespür und höchste Aufmerksamkeit einen vor seinen Fressfeinden schützen und so das Überleben sichern konnten – eben der siebte Sinn … Intuition!
Er selbst hatte seine eigenen Wahrnehmungen in all den Jahren trainiert und perfektioniert. Er grinste. Er konnte sich in einen ausgezeichneten Fressfeind verwandeln, war dabei kreativ und effizient – und fast unsichtbar. Nur einmal hatte man ihn geschnappt und in den Knast gebracht. Doch das war jetzt Vergangenheit. Er liebte den Blick, wenn sie erkannten, was mit ihnen geschehen würde. Er war auf der Jagd. Es fühlte sich so gut an, er war lebendig, und sie alle verdienten, was er mit ihnen tat.
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Heribert wartete ab, bevor er nochmals die Klingel betätigte. Das kleine, heruntergekommene Haus wirkte unbewohnt. Hier war Abraxas Lemms letzte Meldeanschrift gewesen, bevor er festgenommen worden war. Er blickte sich um. Das hier gehörte zu einer der trostlosesten Gegenden Frankfurts.
Als er gehen wollte, wurde die Tür einen Spalt geöffnet, und das eingefallene Gesicht eines alten Mannes, Heribert schätzte ihn auf Mitte siebzig, blickte ihm missmutig entgegen.
„Adolf Lemm?“
Der Mann verzog keine Miene. „Wer will das wissen?“
Er zog seine hochgeschobene Brille runter auf die Nase.
„Sie wissen, dass Ihr Sohn flüchtig ist?“
Lemm schwieg.
„Er ist nicht zufällig zu Hause?“
„Willst du mich verarschen? Selbst wenn es so wäre, würde ich es DIR doch nicht verraten!“
Lemm wollte die Tür schließen, doch Heribert war schneller und stellte seinen Fuß in den Türspalt.
„Kann ich verstehen.“
Das Gesicht des Mannes blitzte wütend auf. Für einen Moment hatte er sich wieder unter Kontrolle, doch dann veränderte sich seine Körperhaltung, als machte er sich bereit anzugreifen.
Heribert war gewarnt. Nicht dass er mit dem Mann nicht fertig werden würde, sollte der ihn tatsächlich angreifen. Doch er war nicht sicher, ob Lemm nicht vielleicht bewaffnet war. In diesem Milieu war es Standard, zumindest ein Messer versteckt am Körper zu tragen. Meistens trug man es hinten in der Hose, vom Pullover verdeckt, oder direkt am Inneren des Unterarms.
Er versuchte, die Situation abzuschätzen. Lemm war nur mit einem Unterhemd und einer fleckigen Jogginghose bekleidet – das Abbild eines heruntergekommenen, sehr ungepflegten alten Menschen, und er mochte sich nicht das Innere des Hauses vorstellen.
„Also …?“
„Du bist doch das Bullenschwein, das meinen unschuldigen Jungen in den Knast gebracht hat, ja, genau – jetzt erkenne ich dich …!“
„Unschuldig, ach so! Weißt du was? Das Bullenschwein kostet es nur einen einzigen Anruf, und seine Kollegen erscheinen hier mit einem Durchsuchungsbefehl“, bluffte Heribert, „willst du das?“
Dabei überlegte er, ob sein Ausscheiden bei der Kripo wohl schon die Runde gemacht hatte. Doch dies schien nicht der Fall zu sein, zumindest was Adolf Lemm betraf. Heriberts Drohung mit dem Durchsuchungsbefehl schien Eindruck zu machen. Er sah, wie Lemm nachdachte, ihn aber gleichzeitig abschätzend ‚taxierte‘.
„Nein, ist nicht hier.“
„Und, war er hier?“
Der Mann schwieg.
„Okay, ich kann Sie auch aufs Revier mitnehmen. Einem entlaufenen Sträfling Unterkunft zu gewähren oder dessen Aufenthaltsort der Polizei vorzuenthalten, ist strafbar, das wissen Sie sicher? Auch wenn es sich um Familienangehörige handelt.“
„Ich weiß nichts, und jetzt lass mich in Ruhe!“
Heribert sah erneut die Wut in den Augen Lemms aufflackern und fühlte sich merkwürdig an das Gesicht von Abraxas erinnert, mit dem Unterschied, dass er ihm seine Fähigkeit zur Grausamkeit überhaupt nicht hatte ansehen können. Wohl aber dem alten Sack hier, der vor ihm stand. Um seine schmalen Lippen lag ein brutaler Zug, und Heribert wusste, dass er mehr als einmal wegen Einbruchs und schwerer Körperverletzung eingesessen hatte. Die Kindheit von Abraxas war sicher alles andere als schön gewesen – kein Wunder, dass aus ihm das geworden war, was er war.
„Verpiss dich, Bulle.“
Einen Moment überlegte Heribert, ob er sich mit Gewalt Zutritt zum Haus verschaffen sollte, doch seine einzige Bewaffnung war ein Pfefferspray. Was, wenn sich Abraxas tatsächlich in der Wohnung befand? Gegen zwei Personen würde er sich wohl kaum verteidigen können. Außerdem würde man ihm ein Verfahren wegen Hausfriedensbruchs anhängen. Doch bei einer realen Chance, dass Abraxas sich hier irgendwo aufhielt, wäre er das Risiko vielleicht sogar eingegangen. Aber wie wahrscheinlich war es tatsächlich, dass er sich hierher geflüchtet hatte, an einen Ort, wo man seitens der Polizei vermutlich zuerst nachsehen würde? Andererseits, man konnte nie wissen, und sich kein Bild zu machen, wäre vielleicht eine verschenkte Gelegenheit. Während er noch versuchte, sich schlüssig zu werden, registrierte er, wie der Blick des Alten verstohlen zu Heriberts Fuß wanderte, der immer noch im Türspalt stand. Heribert warf Lemm einen langen, warnenden Blick zu, während er seinen Schuh langsam zurückzog. Dann drehte er sich um und ging zu seinem Wagen. Weder Adolfs Körperhaltung noch sein Gesicht hatten verräterische Spuren einer Lüge offenbart – vermutlich sagte er die Wahrheit, wenn er vorgab, dass sein Sohn nicht bei ihm war.
Als Heribert sich noch mal umdrehte, schob Adolf den oberen Teil seines Gebisses zwischen den Lippen hervor und ließ es zurückflutschen.
„Sag deinen anderen Bullenkollegen, sie sollen sich hier nicht mehr blicken lassen!“
Heribert stutzte. „Andere Bullenkollegen?“
Lemm wiederholte seine Gebissaktion, bevor er antwortete, und Heribert drehte sich der Magen um.
„Tu nicht so blöd, natürlich die von heute Morgen!“
Heribert ärgerte sich. Warum hatte man ihn über diese Aktion nicht informiert? Die Kommunikation zwischen Witzbold und ihm, fing ja gut an – nämlich gar nicht!
Er marschierte zu seinem Wagen und spürte Adolf Lemms Blick in seinem Rücken. Dann wurde die Haustür zugeknallt.
Heribert steuerte seinen Wagen zum Autobahnzubringer. Doch einem plötzlichen Impuls folgend, wendete er und parkte das Auto um die nächste Ecke von Lemms Haus, sodass er einen guten Blick auf das Haus hatte, ohne selbst in Gefahr zu sein, entdeckt zu werden. Und tatsächlich öffnete sich einen Moment später die Tür, und Adolf Lemm verließ zügig das Haus. Als Heribert ausstieg und ihm in einigem Abstand folgte, dachte er darüber nach, dass er sich unbedingt eine neue Schusswaffe zulegen musste. Eigentlich war er überzeugt gewesen, sie nicht mehr zu brauchen, doch da hatte er sich wohl geirrt.
Adolf Lemm marschierte die Straße entlang, überquerte diese, und Heribert sah, wohin er wollte – auf der anderen Straßenseite befand sich ein Internet-Café. Als Lemm sich umdrehte, duckte Heribert sich hinter einen Lieferwagen. Dann wartete er einen Moment und beobachtete das Innere des Cafés. Lemm nahm an einem der Rechner Platz, und Heribert gab ihm einen Moment Zeit, bevor er das Café betrat. Als er sich direkt hinter Lemm positionierte, bemerkte der diesen Umstand nicht einmal, so zugedröhnt war er. Als er Heribert jedoch bemerkte, machte er Anstalten, die aufgerufene E-Mail-Seite zu löschen, doch Heribert war schneller. Die E-Mail-Adresse lautete Saxarba@Saxarba.de – bingo, die Nachricht ging eindeutig an Abraxas, wie nicht schwer zu erkennen war. Die Nachricht warnte den Adressaten, sich nicht zu treffen, da Bullen dagewesen seien. Der nächste angefangene Satz hatte mit Komm begonnen und war der jetzigen Situation wegen unvollständig geblieben.
Heribert zog Lemm aus dem Stuhl. „Interessant! An wen wolltest du diese Nachricht denn senden – an deinen Sohn? Wohin soll er denn kommen, und vor allem wann?!“
Lemm grinste hämisch. „Das geht dich ’nen Scheißdreck an, Bulle.“
Er versuchte sich loszumachen. Doch Heribert hielt ihn weiterhin fest und griff sich Adolfs Smartphone, als der Betreiber des Cafés auf ihn zustürmte und ihn empört aufforderte, den Mann loszulassen und unverzüglich zu gehen.
Doch Heribert konnte den Mann beruhigen und überzeugen, dass er von der Polizei war. Er durchsuchte Lemms Smartphone und war sich gleichzeitig dessen bewusst, dass er gerade erneut eine Straftat beging, und Adolf Lemm wusste es auch. Doch egal, Heribert war bereits zu weit gegangen. Wenn er jetzt einknickte, ließ ihn das in Lemms Augen schwach erscheinen. Und, bingo! Unter den WhatsApp-Nachrichten wurde er tatsächlich fündig. Diese Stimme kannte er nur zu gut.
„Hat geklappt – melde mich.“
Kein Zweifel, diese Stimme gehörte zu Abraxas, und das Fiepen und Zischen in Heriberts Ohren wurde schlagartig laut.
Lemm begann sich unter Heriberts festem Griff zu winden.
„Bulle, das wird für dich Konsequenzen haben. Auch ich habe Rechte.“
„Und Pflichten, du Abschaum, du! Sei froh, dass ich dich nicht einbuchte.“
Später fuhr Heribert von der Frankfurter Autobahn und stattete Witzbold in Korbach einen Besuch ab. Heribert verlangte mehr Transparenz zwischen ihnen beiden – gemäß ihrer Absprache. Wenn jeder Ermittlungsschritt zweimal vollzogen wurde, machte eine Zusammenarbeit samt Informationsaustausch überhaupt keinen Sinn!
Witzbold sah es ein und gelobte Besserung. Frustriert berichtete er Heribert, dass die Kollegen bei ihrem Besuch Adolf Lemms auch keinen Schritt weitergekommen seien.
Als Heribert Witzbold von seiner Aktion mit Lemms Smartphone erzählte, wimmelte der prompt ab.
„Heribert, stopp. Davon will ich gar nichts wissen. Es ist deine Sache, deine Verantwortung, wie du an Informationen kommst. Klar?“
Heribert nickte. Eigentlich machte er sich keine allzu großen Sorgen wegen einer Anzeige – schließlich hatte er seinen Namen gegenüber Lemm nicht genannt. Lemm würde es sich zweimal überlegen, ob er sich wegen der Handyaktion bei einer Polizeibehörde beschwerte. Vielmehr würde er sich vermutlich Gedanken über „das Wecken schlafender Hunde“ machen. Doch selbst wenn er Anzeige erstattete – er würde jemanden beschreiben, den es bei der Kripo gar nicht gab … nicht mehr gab. Doch dann bekam Heribert einen Schreck. Was hatte Lemm zu ihm gesagt? „Du bist doch das Bullenschwein, das meinen unschuldigen Jungen in den Knast gebracht hat!“ Also kannte er ihn. Andererseits konnte Heribert immer noch leugnen, dagewesen zu sein. Dann stand Aussage gegen Aussage. Doch ein kleines Stimmchen in seinem Inneren meldete sich: Der Besitzer des Internet-Cafés konnte ihn beschreiben – und belasten, denn Heribert hatte sich als Beamter der Kripo ausgegeben. Dies war eine Straftat, da biss die Maus keinen Faden ab. Heribert beschloss, das Thema zu vertagen. Er konnte sich zu gegebener Zeit immer noch Gedanken machen, wenn die Anzeige ins Haus flatterte … wenn.
„Wir haben vor, Abraxas’ Vater zu beschatten“, unterbrach Witzbolds Stimme seinen Gedankengang, „irgendwann wird sein Sohn doch zu ihm Kontakt aufnehmen.“
„Wenn das mal nicht zu einfach gedacht ist, Olav. Weder Abraxas noch sein Vater sind so dumm. Gerade jetzt, nach meinem Besuch und dem der Kollegen, sind beide gewarnt und passen auf.“
„Okay, was schlägst du also vor?“
„Wenn ihr genug Kapazitäten an Personal habt, ist gegen eine Beschattung ja nichts einzuwenden. Ich meine nur, dass man sich nicht allzu viele Hoffnungen machen sollte.“
Witzbold unterdrückte ein Grinsen und blickte Heribert plötzlich vielsagend an.
„Was ist?“
„Eigentlich hatte ich an dich gedacht, Heribert.“
„An mich? Mit was?“
„Ich dachte, du könntest dich vielleicht an Adolf Lemm ranhängen.“
„Ich?“
„Als Fallanalytiker und Schnüffler …“
„Moment, Olav! Dass wir uns richtig verstehen: Ich habe meine eigene Vorgehensweise, und wenn ihr einen zum Observieren braucht, dann nehmt mal schön einen der jungen Kollegen, die das sehr gut können. Ich arbeite aber gern mit demjenigen zusammen.“
Witzbold zögerte.
„Wie soll das gehen? Du bist offiziell doch gar nicht in den Fall involviert.“
„Ja, ich weiß. Lass dir was einfallen.“
Wieder in Kassel, aß Heribert mit Botho und Ayumi zu Mittag und versprach seinen Freunden, wieder schnell vor Ort zu sein. Dann fuhr er nach Leipzig – im Moment konnte er nicht viel für die beiden tun, er musste die Ergebnisse der Kripo abwarten. Und zu Hause warteten jede Menge Dinge, die erledigt werden mussten.
15
Heribert zischte das Bier herunter – es war wohlverdient. Dass es für diese Jahreszeit bereits viel zu warm war, hatte er gerade bei seinem Marsch um den Markleeberger See am eigenen Leib erfahren. Der Klimawandel ließ grüßen. Umso schöner, dass er den letzten guten Platz im Restaurant ergattert hatte – nicht nur mit Blick auf den See, sondern er konnte von hier auch einen Teil der Kanuanlage einsehen, wo gerade trainiert wurde. Es war schön, dem Treiben der Athleten zuzusehen, ohne sich selbst körperlich betätigen zu müssen. Heribert fühlte sich angenehm faul.
Die letzten Tage hatte er vor dem Rechner verbracht, den forensischen Bericht gelesen und Fotos von der Leiche Walter Zellers analysiert. Sie waren verstörend gewesen. Wer auch immer der Täter gewesen sein mochte, war mit unglaublicher Brutalität vorgegangen. Die Spuren der Folterungen waren überall. Jemand hatte ihm die Fuß- und Fingernägel herausgezogen. Die sauber abgetrennten Ohren – die Schnitte waren fachmännisch vermutlich mit einem Skalpell ausgeführt worden – hatte der Täter an die Hinterbacken seines Opfers links und rechts genäht – ein Arsch mit Ohren, ging es Heribert durch den Kopf. Die Vorgehensweise der Opferverstümmelung konnte ein Hinweis auf Abraxas sein – musste aber nicht. Denn die für ihn typische Zahlenabfolge, die er seinen Opfern einzuritzen pflegte, fehlte. Diese numerische Abfolge, entsprechend dem Alphabet, stand für seinen Vornamen Abraxas und war ein Pseudonym, hinter dem sich eigentlich Peter Lemm verbarg. Er ritzte die Zahlen entweder unter die Fußsohlen oder in die Achselhöhlen seiner Opfer. Er hatte einen Hang zum Okkultismus, besaß eine Schwäche für dramatische Inszenierungen und hielt sich für einen Künstler, der den Tod zelebrierte – der seinen Opfern durch das Verändern ihrer Körper eine neue Identität verlieh. Heribert hatte den Namen Abraxas gegoogelt und war erstaunt gewesen, als er fündig geworden war. Nach der Überzeugung des ägyptischen Gnostikers Basilides stand der Name für das höchste Urwesen, aus dem die fünf Urkräfte Geist, Wort, Vorsehung, Weisheit und Macht hervorgegangen waren. Mit diesen Eigenschaften konnte man Abraxas keinesfalls in Verbindung bringen. Doch Heribert war sicher, dass Abraxas sich als eine Art Schöpfer sah. Macht spielte bei den Morden, die er beging, eine entscheidende Rolle. Er war der Schöpfer seiner neuen Wesen, ein Gott, und entschied über deren Leben und Tod – oder besser, nur über deren Tod. Er genoss es, die Angst seiner Opfer zu sehen, während er mit ihnen tun und lassen konnte, was er wollte.
Walter Zeller hatte am Waldrand in einer Villa gewohnt. Das erklärte, warum niemand seine Schmerzensschreie gehört hatte.
Seine Leiche war bewegt worden. Das hieß, dass er nicht direkt an seinem Swimmingpool getötet worden war. Heribert stoppte seine Gedanken.
Er lehnte sich zurück und freute sich auf das leckere Gericht, das er sich bestellt hatte. Das Leben konnte, wenn man einfach mal nur seinem limbischen System folgte, sehr angenehm sein. Essen, Schlafen, Sex. Oder Sex, Essen, Schlafen? Heribert musste grinsen, als er an Anita dachte, mit der er den besten Sex seit Langem gehabt hatte.
Sein Smartphone summte. Er ignorierte es und wollte sich gerade in wundervolle Tagträume mit Anita vertiefen, doch wer auch immer ihn erreichen wollte, war hartnäckig.
Als er sah, wer anrief, ging er sofort ran. Witzbold kam gleich zur Sache. Tatsächlich stammten die DNA-Spuren an Zellers Leiche von Abraxas Lemm und waren sogar überall in Zellers Haus nachgewiesen worden.
„Doch ich rufe dich nicht nur deshalb an“, erklärte Witzbold.
Er machte eine längere Pause, und Heribert war ganz Ohr.
„Es gibt eine neue Leiche.“
„Was? Ach du Scheiße!“
„Ja. Eine Frau Ende vierzig. Sie wurde ziemlich“, Witzbold machte eine Pause, „zugerichtet …“
Heribert fiel ihm ins Wort: „Und zur Schau gestellt, und du denkst …“
„Natürlich denke ich das. Oder fällt dir was Plausibleres ein?“
„Ergebnisse der Spurensicherung?“
„Noch nicht ausgewertet.“
„Dann sollten wir noch vorsichtig sein. Wo wurde die Leiche gefunden?“
„Nicht so weit weg von Zellers Wohnort Wolfhagen – in einem Waldstück bei Bad Arolsen. Das kennst du vermutlich nicht.“
„Wieso sollte ich Bad Arolsen nicht kennen? Schon vergessen, ich stamme aus Kassel?“
Dass er sich in Bad Arolsen wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung hatte behandeln lassen, behielt er für sich. Das Risiko, dass ihn jemand für ein Weichei hielt, mochte er nicht eingehen.
Er dachte an Botho und Ayumi. Wenn Lemm tatsächlich auch für die Frauenleiche verantwortlich war, dann war er bereits auf der Jagd, und so gesehen konnten die beiden tatsächlich in allerhöchster Gefahr sein. Selbst wenn Lemm seine Opfer bisher eher willkürlich ausgewählt hatte, so konnte man sich auf das Täterprofil nicht unbedingt verlassen. Manchmal änderte ein Serientäter sein Vorgehen. Außerdem, Lemm musste Zeller und Botho nur zusammen gesehen haben, um auf die Idee zu kommen, Botho töten zu wollen. Auf jeden Fall sprach einiges dafür, dass sein Jagdgebiet in der Gegend Nordhessens liegen könnte. Heribert überlegte weiter. Musste man die Gesellschaft nicht warnen, wenn ein gefährlicher Serienkiller unterwegs war? Doch dies zu entscheiden, war nicht seine Aufgabe.
Die ganze Zeit hatte er es verdrängt, doch es war, als würde er gerade vor eine Wand fahren – Lemm war tatsächlich zurück in Heriberts Leben.
„Also, was ist?“, hörte er Witzbold fragen.
„Ist, was?“
„Wann kannst du hier in Bad Arolsen sein?“
„Ich mach’ mich gleich auf den Weg.“
Dann ging alles schnell. Während Heribert nach Hause fuhr und seine Reisetasche packte, rief er Botho an. Ayumi nahm den Anruf entgegen.
Er machte ihr den Sachverhalt klar, ohne genauere Details des derzeitigen Ermittlungsstands oder gar Namen zu nennen. Er war vorsichtig, damit nicht gleich Panik ausbrach. Doch zu seiner Überraschung stellte er fest, dass diese Vorkehrung unnötig war – zumindest was Ayumi betraf. Denn noch während er ziemlich herumeierte und ihr dabei zu erklären versuchte, dass Bothos Sorge begründet war und sie beide möglicherweise ins Visier eines sehr gefährlichen Serienmörders geraten waren, unterbrach sie ihn plötzlich.
„Mach dir keine Sorgen, Herb, wir werden aufpassen. Halt mich bloß auf dem Laufenden, was deine Ermittlungen betrifft, denn wie du weißt, schreibe ich an meinem neuen Krimi und bin für Inspiration dankbar.“ Sie lachte. „So – we could kill two birds with one stone, wenn du verstehst, was ich meine.“
Heribert schwieg. Er war baff. Ayumis Verhalten war ungewöhnlich und verstörte ihn. Tat sie nur so furchtlos oder war sie schlichtweg naiv und unterschätzte die Situation? Und auch wenn man aus Ayumis Sicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen beziehungsweise töten konnte, ihr Verhalten war in diesem Kontext verwirrend.
Sie schien sein Schweigen richtig zu interpretieren.
„Ich versuche, aus negativen Ereignissen etwas Positives zu ziehen, das ist doch nichts Schlechtes. Das ist meine Natur. Ich habe es mir von meiner Mutter abgeschaut – glaube ich zumindest. Sie ist der Überzeugung, dass wir auf Dinge, die uns widerfahren, keinen Einfluss haben, doch man kann an seiner Haltung zu den Dingen arbeiten. Glaub mir, weder bin ich oberflächlich noch dumm noch unterschätze ich die Situation!“
Als Heribert weiterschwieg, fuhr sie zögernd fort: „Denk doch mal an deine Geschichte, Herb. Auch du hast aus deiner Erkrankung etwas Positives gemacht und startest komplett neu durch.“
Das war nicht dasselbe. Doch Heribert schwieg weiter, auch wenn er einiges dazu zu sagen gehabt hätte. Es war ihm unangenehm, dass ausgerechnet Ayumi seine Erkrankung und die Zeit in der Reha, wo die Entscheidung gefallen war, bei seinem Arbeitgeber zu kündigen, so direkt ansprach. Er war immer noch nicht sicher, ob er nicht bloß aus einer Schwäche heraus entschieden, sprich gekniffen hatte. Und so gesehen gab es da vielleicht auch keinen positiven Effekt. Dass er Aufstiegsmöglichkeiten und finanzielle Absicherung für die unsichere Arbeit eines Privatermittlers aufgegeben hatte, konnte vielleicht auch aus einem Moment geistiger Umnachtung geschehen sein – und vielleicht würde er das eines Tages sogar bereuen! Außerdem, wenn Abraxas Lemm tatsächlich wieder auf der „Jagd“ war – worin bestand eigentlich der Unterschied zu seinem jetzigen Job und seiner vorherigen Arbeit bei der Kriminalpolizei? Derartige Delikte hatten ihn doch zunehmend traumatisiert! Aber er steckte schon viel zu tief in der Sache drin, als dass er sie hätte aufgeben können. Und wenn Botho und Ayumi tatsächlich ins Visier von Abraxas Lemm geraten waren, brauchten sie unbedingt seine Hilfe. Zudem machte es keinen Sinn, das Für und Wider abzuwägen – die Situation war, wie sie war, und Heribert hatte Witzbold längst seine komplette Unterstützung zugesagt, Punkt.