Kitabı oku: «Mein wunderbarer Wedding», sayfa 2

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Mein Migrationshintergrund

Ich saß beim Türken, mit meiner zukünftigen türkischen Mitbewohnerin, im vielleicht türkischsten Teil Berlins, und der Türke des Türken kam an unseren Tisch und sprach meine zukünftige türkische Mitbewohnerin an. Auf Türkisch.

»Sprich gefälligst Deutsch«, fauchte meine zukünftige türkische Mitbewohnerin den Türken des Türken an, der, sichtbar erschrocken, sich vermutlich entschuldigte, allerdings vor Schreck versehentlich erneut auf Türkisch, was meine zukünftige türkische Mitbewohnerin nun erst recht aufbrachte und sie den Türken vom Türken anbrüllen ließ: »Wir sind hier in Deutschland, also sprich Deutsch, du Scheißtürke!«

Der Scheißtürke gescholtene Türke vom Türken war nun erschrocken, beschämt und wütend zugleich und parierte, praktisch akzentfrei, aber mit doch etwas gebrochener Logik: »Scheißtürke? Du hast mich einen Scheiß­türken genannt? Du bist doch selbst Scheißtürkin! Und Rassistin! Du glaubst wohl, du bist was Besseres, du Deutsche! Du deutsche Scheißtürkin!«

Dann verschwand er wutschnaubend hinter seinen Tresen, von wo er noch nachsetzte: »Außerdem bist du ja nicht mal richtig Türkin, dein Vater ist Iraner, ein Scheiß­iraner!«

Ich saß also beim Scheißtürken, pardon: beim Türken, mit meiner zukünftigen türkischen, pardon: iranisch-deutschen-scheißtürkischen Mitbewohnerin Sulma, war ein wenig verwirrt über die ethnischen Verwicklungen unserer Essensbestellung, verhandelte aber trotzdem im Folgenden die näheren Details, die aus meiner zukünftigen meine aktuelle iranisch-deutsche-türkische Mitbewohnerin machen sollte.

»Was war das denn jetzt?«, fragte ich Sulma.

»Ich kann das nicht leiden – wir leben hier in Deutschland, die sollen gefälligst Deutsch reden. Sonst wird das doch nie was mit der Integration.«

»Na ja, Integration. Vielleicht will er sich ja gar nicht vollständig integrieren. Wahrscheinlich kommt er doch auch so gut zurecht hier.«

»Wer hier lebt, soll gefälligst auch Deutsch sprechen. Außerdem kann ich gar nicht richtig Türkisch.«

»Aber du bist doch Türkin?«

»Und Iranerin. Und Deutsche. Aber richtig kann ich nur Deutsch. Meine Mutter hat mir als Kind verboten, Türkisch zu sprechen. Sie hat gesagt, wir leben jetzt in Deutschland, also lernen wir Deutsch. Diese ganzen Scheißtürken, meinte meine Mutter, die wären alle zu faul, um Deutsch zu lernen. Deswegen würde auch nichts aus denen.«

»Äh – ist das nicht ein bisschen ...« Mir lag das Wort »rassistisch« auf der Zunge, aber das schien mir irgendwie der Situation nicht angemessen, also stotterte ich etwas und sagte dann: »... zu einfach?«

»Wieso einfach? Ich würde das ganz einfach machen: alle abschieben, wenn sie nicht Deutsch können. Dann sollen sie doch zurück nach Anatolien.«

»Und wo kommt ihr eigentlich her?«

»Na, aus Anatolien natürlich.«

Ich überlegte kurz, dann antwortete ich: »Okay, aber wir machen einen Putzplan, wer wann die Küche und das Bad macht.« Es schien mir angebracht, das unsichere Terrain zu verlassen. Wäre ich mal dort geblieben.

»Nichts«, schnaubte sie auf, »ich bin doch nicht deine Scheißtürkin, die dir das Klo putzt!«

Es war nicht ganz zu leugnen, dass die Stimmung ins leicht Aggressive umgekippt war, jetzt war ich auch etwas genervt: »Kannst du kein Deutsch? Weißt du nicht, was Putzplan bedeutet? Und WG?«

»Und ob ich das weiß«, knurrte sie, »Putzplan heißt, dass ich putzen soll. Mach ich aber nicht. Ich bin nicht aus Anatolien hierher gekommen und studiere hier Medizin, um jetzt für Deutsche das Klo zu putzen.«

»Aber ich sag doch gar nicht, dass nur du das Klo putzen sollst!« Ich wurde schon etwas lauter.

»Das wär ja auch noch schöner!«, zischte sie, »aber du willst, dass wir beide das Klo putzen, also auch ich. Ich putze aber das Klo nicht. Und die Küche auch nicht.«

»Und wer bitteschön soll das dann machen?«

»Du.«

Es klang nicht wie ein Scherz. Ich schaute sie fassungslos an. Sie setzte nach: »Ich kann das einfach nicht. Du hast doch immer Verständnis für alle Ausländer hier mit ihren ganzen Ticks. Und im Vergleich mit Verschleiern, Zwangsverheiratungen und dem ganzen Scheiß ist meiner, nicht putzen zu wollen, doch vergleichsweise harmlos, oder nicht? Wenn du das nicht willst, dann such dir doch eine schöne arische WG, wo ihr einen fußballfeldgroßen Wandplaner in die Küche klebt und für jeden Quadratmeter genau für ein halbes Jahr im Voraus festlegt, wann den wer mit welchem Scheuermittel putzt. Mach doch!«

Sie brüllte inzwischen. Der Scheißtürke vom Türken brüllte von hinter dem Tresen in Richtung meiner zukünftigen türkischen Mitbewohnerin: »Brüll hier nicht so rum, du Scheißdeutsche!«, und allmählich begann ich doch etwas zu zweifeln, ob es wirklich eine so gute Idee war, bei ihr einzuziehen. Vielleicht war ich doch einfach noch nicht weit genug für dieses multikulturelle Abenteuer.

Aber jetzt musste sie doch lachen, rief irgendwas auf Türkisch zu dem Scheißtürken vom Türken, der daraufhin etwas auf Türkisch erwiderte, das ging zwei-, dreimal hin und her, dann lachte auch er, und sie sagte zu mir: »Gut, seine Schwägerin putzt bei uns.«

Ich schaute sie ungläubig an, aber sie ließ mich erst gar nicht zu Wort kommen: »Jetzt stell dich nicht an, die macht das schwarz und billig, das ist in der Community hier gar kein Problem.«

»Was denn für eine Community?«

»Na, die türkische Community natürlich! Das klappt super. Auch, wenn du mal einen Handwerker brauchst oder einen Schneider, das kann ich dir alles organisieren, kein Problem, alles gut und billig.«

»Aber ich will keine Putzfrau. Erst recht keine türkische!«

»Was hast du denn gegen Türkinnen?«

»Hä? Nichts natürlich! Ich will ja sogar mit einer zusammenziehen. Aber ich will keine türkische Putzfrau! Ich meine ...«

»Glaubst du, Türken sind nicht sauber genug, du Superdeutscher?« Ihre gute Laune war schon wieder dahin.

»Quatsch, was soll das denn jetzt! Eben habe ich noch vorgeschlagen, dass wir uns ganz normal, wie man das eben macht in einer WG, das Putzen teilen!«

»Ich putze nicht. Ich bin doch keine Putzfrau. Das ist wieder typisch, du bist Deutsch, siehst eine Türkin und denkst sofort: Putzfrau. Aber so läuft das nicht in unserer WG, das kannst du mir glauben, so nicht, sonst brauchen wir hier gar nicht weiter zu reden, du ... du ...«

»... Westfale«, half ich aus, »Scheißwestfale.« Dann gab ich auf: »Okay, dann putz ich halt.«

Der Türke vom Türken servierte uns das türkische Essen, es roch sehr gut. Ich hoffte, damit konnten wir nun zum angenehmen Teil des Abends übergehen. Aber sie war immer noch nicht befriedet: »Du? Du willst alleine putzen? Das glaubst du doch selbst nicht! Erstens darf ich mir dann die ganze Zeit das Genöle anhören, und zweitens: Ich weiß, wie es in deiner jetzigen Wohnung aussieht, ich war lange genug mit deinem Mitbewohner zusammen, falls du das vergessen hast, und ich weiß genau: Ihr habt einfach überhaupt nicht geputzt, das war total eklig. Das würde kein türkischer Haushalt zulassen, was ihr da veranstaltet habt!«

Ich seufzte: »Meine Güte, es war unsere erste eigene Wohnung, das macht man so, wenn man von zu Hause auszieht, wir kamen beide aus gutbürgerlichen westdeutschen Haushalten, da muss man sich erst mal von den Eltern emanzipieren ...«

»Ihr habt Schnitzelreste in der Küche liegen lassen, bis überall Fliegen waren.«

»Das war ein Versehen!«

»Ja, weil da so viel Müll drüber lag, dass ihr es gar nicht gemerkt habt!«

»Meine Güte, das ist über ein Jahr her, mir ging das ja auch auf die Nerven, deswegen wollte ich jetzt ja auch einen Putzplan ...«

Der Türke vom Türken mischte sich ein: »Nehmt einfach Schwägerin! Schwägerin putzt gut! Ist billig! Gute Schwägerin!«

»Ich will aber keine Putzfrau!«

Jetzt wirkte der Türke vom Türken verärgert: »Willst du nicht, weil Türkin? Hast du was gegen Türken!«

»Ach, macht doch, was ihr wollt«, murmelte ich entnervt. Na, das konnte ja heiter werden.

Mein leicht mulmiges Gefühl steigerte sich in der ersten Zeit nach meinem Einzug zunächst, vor allem nachdem Sulma mir mitgeteilt hatte, dass ich für die Community in der Seestraße von jetzt an ihr Mann sei.

»Ich bin was?«, fragte ich sie entsetzt.

»Mein Mann. Die würden das sonst nicht akzeptieren, dass wir zusammen wohnen.«

»Aber ... ich meine – das geht doch nicht. Ich werde hier, nun ja: Damenbesuch haben. Und du hast einen Freund.«

»Na und? Erstens gucken die ja nun nicht in unsere Schlafzimmer, und zweitens würde sie das nicht groß stören. Westliche Verkommenheit, das setzen die sowieso voraus. Abgesehen davon machen die das selbst ja auch alle so. Wichtig ist halt nur, dass offiziell keiner was mitkriegt.«

»Wie, offiziell? Ich soll mit meiner Freundin dann nicht Hand in Hand über die Seestraße gehen dürfen, oder was?«

»Quatsch, das kannste machen, wie du willst. Aber seit wann stehst du denn auf Händchenhalten?«

»Darum geht’s doch gar nicht. Ich will aber nicht irgendwann von einem Irren niedergestochen werden, der die Familienehre wiederherstellen will oder so.«

»Du kannst machen, was du willst. Da zollen sie dir im Zweifelsfall noch Respekt für. Wenn überhaupt jemand niedergestochen wird, dann die Frau. Ich habe hier aber ohnehin keine Familie mehr, seit meine Mutter tot ist, so weit geht es mit der Ehre dann selbst bei anatolischen Bauern nicht, das kannste mir ruhig glauben, sonst gäbe es auch ein Blutbad da draußen. Du bist einfach nur offiziell mein Mann, dann sind alle beruhigt, und alles andere ist halt unsere deutsche Lebensführung, da glauben die sowieso alles, und es ist ihnen auch egal.«

Die Sache gefiel mir nicht, aber noch mal umziehen wollte ich deswegen nun auch nicht, außerdem vertraute ich ihr.

Spätestens, als eines Tages ein Onkel Mahmud vor der Tür stand, wuchs mein Unbehagen allerdings wieder erheblich an.

»Sulma ist nicht da«, teilte ich ihm mit und wollte die Tür fast schon wieder schließen, aber er trat trotzdem ein.

»Das weiß ich doch«, teilte er mir zu meiner Überraschung mit, »sie studiert. Ist gutes Mädchen.«

Ich verzichtete lieber darauf, ihm meinen Eindruck von ihrem Studiereifer mitzuteilen, und ich vermutete auch eher, dass sie bei ihrem Freund war, aber das tat hier wohl nichts zur Sache. »Ich wollte ja auch mit dir sprechen.«

»Ach ja? Was gibt es denn?«

»Ich wollte dir nur sagen, dass du jetzt mein Bruder bist.«

»Dein Bruder?«

»Natürlich. Bruder. Du wohnst jetzt mit Sulma zusammen!«

Au weia, dachte ich, musste ich mich jetzt hier als Ehemann ausgeben? Er schien meine Irritation zu bemerken: »Keine Sorge, ich weiß, dass ihr nicht verheiratet seid. Das ist doch nur für die anatolischen Bauern da draußen auf der Seestraße. Ich weiß alles, Sulma vertraut mir. Und ich vertraue dir. Du musst immer gut aufpassen auf Sulma! Du bist jetzt auch ihr Bruder, verstehst du?«

»Äh ... ich dachte, ich bin in erster Linie ihr Mitbewohner.«

»Ja, ihr Bruder, sag ich ja. Und ich bin dein Bruder. Wir sind alle Brüder!«

»Alle? Im Sinne von: Alle Menschen sind Brüder? Na, meinetwegen.«

»Nein, doch nicht die anatolischen Bauern da draußen. Wir! Sulma, du und ich. Und du weißt: Du musst für sie sorgen wie ein Bruder! Du musst für sie da sein wie ein Bruder! Und wenn du ein Problem hast, ist dein Bruder für dich da.«

Ich sah ihn verwirrt an. Wer jetzt? Mir wurde das alles zu viel.

Er nickte zufrieden. »Gut. Ich wollte nur, dass das klar ist.« Dann verabschiedete er sich und ging. Als ich Sulma abends davon erzählte, lachte sie. »Ach ja, Mahmud hat immer noch so einen etwas unangepassten Hang ins Traditionelle, aber der ist schon okay, der ist ganz auf der Höhe.«

Auf jeden Fall nervte er nicht weiter, sodass ich die Sache auf sich beruhen ließ. Selten genug kam mal jemand aus Sulmas Herkunftskulturkreis bei uns vorbei, abgesehen von der Putzfrau natürlich. Und ganz selten eben Onkel Mahmud samt Tante Leila, bei der die Traditionsnähe aber immerhin noch zu einem Kopftuch reichte.

Eines Tages kam Sulma aufgeregt in mein Zimmer: »Los, wir müssen sofort zu Mahmud! Wir müssen ihm helfen!«

»Was ist denn passiert?«

»Na, du weißt doch, dass der säuft.«

Wusste ich nicht. Woher auch. Wenig einfallsreich fragte ich also: »Der säuft?«

»Ja, hast du das nie bemerkt? Na, egal, der säuft jedenfalls. Ganz schön heftig manchmal. Leila hat schon alles Mögliche versucht, aber er fängt immer wieder an. Und jetzt hat sie ihn eingesperrt, damit er aufhört zu trinken.«

»Große Güte. Und was sollen wir da? Sie bändigen? Damit sie ihn wieder rausrückt? Jägermeister schmuggeln? Ich habe eigentlich wenig Lust, mich in deine Familienangelegenheiten einzumischen.«

»Wieso Familie? Ich bin doch gar nicht verwandt mit denen. Das sind einfach Freunde, die kannte meine Mutter noch, und damals habe ich sie eben Tante und Onkel genannt, so was gibt’s bei euch ja wohl auch.«

Irgendwie fühlte ich mich ertappt. Also brachen wir auf. Das Problem bestand darin, dass Leila Mahmud im Badezimmer eingeschlossen und vor Wut den Schlüssel aus dem Fenster geworfen hatte, aus dem vierten Stock, irgendwo auf die Koloniestraße. Und jetzt konnte sie ihn dort unten nirgends wiederfinden, und inzwischen war Mahmud längst ausgenüchtert, wurde aber zunehmend ungehalten und drohte, die Tür einzutreten.

Schlüsseldienst war zu teuer, Schlüsseltürke aus dem Umfeld ging nicht, weil das natürlich niemand wissen durfte, dass Leila ihren Mann eingeschlossen hatte – das ging ja gar nicht. Um den Schaden in Grenzen zu halten, bearbeiten wir das Schloss mit der Bohrmaschine, und ich war selbst überrascht, dass wir es aufbekamen. Das heißt, genau genommen: dass Sulma es aufbekam, mit Leilas Hilfe. Ich war handwerklich noch nie besonders geschickt, ich hatte mich auf Handlangerdienste beschränkt. Schwer zu sagen, was Mahmud am Ende mehr gedemütigt hat: Dass seine eigene Frau ihn eingeschlossen hatte oder dass zwei Frauen ihn befreit hatten, jedenfalls tauchte er ziemlich lange nicht mehr bei uns auf.

Sulma schloss ihr Medizinstudium ab, dann hielt sie nichts mehr in der Seestraße. Schon das AiP, jene seltsame Konstruktion, mit der fertig ausgebildete Ärzte nach absolviertem Studium noch anderthalb Jahre zwangsweise mit Azubi-Löhnen abgespeist werden, verbrachte sie lieber in der Schweiz, wo man dafür ordentlich bezahlt wird. Sie kam nie wieder zurück, sie hat inzwischen längst eine Stelle als leitende Ärztin in einem großen Krankenhaus in Bern. Ihr Name steht noch an meiner Tür, gelegentlich trudelt ein Brief für sie ein, den ich weiterleite, und einmal tauchte Mahmud noch bei mir auf und brachte Börek, das seine Frau selbst gemacht hatte, einfach so, aus Freundlichkeit – das war’s. Seitdem beschränkt sich mein Migrationshintergrund im Wesentlichen wieder auf die Dönerläden und Gemüseläden aus der Nachbarschaft und die Jugendgangs, denen ich ausweiche.

Als ich neulich mit Sulma telefonierte, war sie außer sich: Diese Wahnsinnigen würden behaupten, die Deutschen nähmen den Schweizern die Arbeitsplätze weg und würden sich nicht richtig integrieren. Und sollten gefälligst Schweizerdeutsch lernen. Schweizerdeutsch! Wozu, um Himmels Willen? Sie komme auch so bestens zurecht! Ich mache mir ja keine Vorstellungen, wie seltsam die manchmal seien, diese Schweizer, da wolle sie sich wirklich nicht weiter integrieren. Erst recht nicht, wenn sie davon einen wunden Hals bekäme. Sie schimpfte noch eine Weile weiter, dann verabschiedeten wir uns. Nachdenklich legte ich auf.

Meine Wohngemeinschaft

Seltsam, denke ich, während ich versonnen in meiner Müsli-Schüssel herumrühre, die Rosinen sind aber klein. Und seit wann schwimmen die überhaupt in Milch? Na ja, früher war eben alles besser. Selbst die Rosinen. Für solche krumpeligen Dinger hätte man sicher nicht extra eine Luftbrücke einrichten müssen. Da hätten die Berliner den Alliierten aber schön was erzählt: »Ey, was solln ditte, die sind ja voll mickrig, wa, die nehmt ma schön wieder mit nach Westdeutschland, die Dinger, dit wolln wa nich ma jebombt ham, wa!« Ich führe den Löffel zum Mund, um die hässlichen schwarzen Trockenfrüchte einer Geschmacksprobe zu unterziehen. Schmecken irgendwie auch gar nicht richtig nach Rosinen. Schmecken eher – schwer zu sagen. Ich betrachte die Müsli-Packung. Wieso sieht die eigentlich so zerrupft aus?, grübele ich, während ich weiter intensiv kostend die seltsamen Kügelchen mit der Zunge am Gaumendach zerdrücke. Ziemlich zerfleddert sogar, und drumherum liegen auch ganz viele von diesen Mini-Rosinen. Zerfleddert? Eher – angenagt. Angestrengt starre ich auf die schadhafte Schachtel, die kleinen schwarzen Teile daneben, werte wie ein Wein­tester bedächtig kostend, schmatzend und schmeckend die Signale aus der Mundhöhle aus – och Mönsch, nee. Das sind ja Mäuseküddel!

Jetzt bloß nicht überreagieren. Das ist doch gar nichts Besonderes. Kein Grund zur Panik. Gut, ich habe den Mund halt voll ... voll Mäusescheiße. Na und? Das ist ... das macht doch ... das sind doch auch nur Kohlenstoffketten. Ganz ruhig bleiben. Ganz langsam zum Waschbecken gehen, nicht die Beherrschung verlieren, ganz ... BOAH!

Als ich eine halbe Stunde später aus dem Bad zurückkomme, weil die Zahnpastatube leer ist, beginne ich, schonungslos die Lage zu analysieren. Eine Maus. In meiner Wohnung. Vielleicht sollte ich doch mal aufräumen.

Nach einer Woche ist die Maus immer noch da, trotz regelmäßiger mahnender Ansprachen meinerseits. Genau genommen: Offenbar ist sie inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass ich keine ernst zu nehmende Bedrohung für sie darstelle. Davon hat sie dann gleich all ihren Kumpels berichtet, und allmählich beginnt die Sache, mich ernsthaft zu nerven. Völlig schamlos huschen die Viecher durch meine Wohnung, selbst am helllichten Tag. Abends hat mir sogar eine Maus an der großen Zehe herumgeschnuppert, während ich am Schreibtisch saß. Die wissen, dass sie schneller sind, und verhöhnen mich. Außerdem: Selbst wenn ich sie erwischen würde – die Op­tion, sie mit dem Telefonbuch auf dem Teppich zu zerquetschen, behagt mir auch nicht. Ich beschließe, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

In den Geschäften auf der Müllerstraße stoße ich auf mitleidloses Entsetzen: »Mäuse?«, starren mich die Verkäuferinnen im Karstadt Leopoldplatz an. Sie scheinen dieses Problem für vollkommen abwegig zu halten, irgendwas von ganz früher, von dem man mal gehört hat, oder was es nur noch in diesen merkwürdigen History-Reality-Shows im Fernsehen gibt, Das Blockhaus von 1907, und nach drei Wochen hat der Regisseur noch ein paar Mäuse ausgesetzt, damit es auch richtig authentisch wird. Ebenso gut hätte ich auch in der Apotheke Tabletten gegen Pest verlangen oder sagen können, dass bei mir im Hinterhof Wölfe lauern. Offenbar bin ich der einzige Mensch im Wedding, der Mäuse hat. Das widerspricht allerdings jeder Alltagserfahrung. Na ja, vielleicht bin ich auch nur der Einzige, der Mäuse hat, und keine Ratten. Wahrscheinlich, geht es mir durch den Kopf, bin ich einfach nur der Einzige, der ein Problem damit hat, dass er Mäuse hat. Den anderen ist es wahrscheinlich vollkommen egal. Die ganzen Hartz-IVler mögen es bestimmt, wenn sie ein bisschen Gesellschaft haben. Und endlich mal Rosinen im Müsli. Und die anderen legen vermutlich einfach ihre Wumme auf die Viecher an und freuen sich, dass sie jetzt auf bewegliche Ziele schießen können. Da haben sie auch gleich was Sinnvolles zu tun. Das ist ja das ganz große Ding derzeit. Hauptsache, man hat was Sinnvolles zu tun. Dann zündet man auch keine Autos an. Im Fernsehen gibt es jetzt regelmäßig tolle Reportagen über junge Menschen in der Großstadt, die einmal in der Woche irgendwo Fußball spielen, was sie offenbar so erschöpft, dass sie den Rest der Woche zu schwach sind, irgendwo rumzuzündeln. Vor lauter Muskelkater können die bestimmt auch gar nicht ordentlich vor der Polizei weglaufen und bleiben dann nachts lieber zu Hause. Deswegen fordert jede dieser Reportagen mehr Fußball, mehr Tanzen, mehr Rappen, egal, Hauptsache, man hat was Sinnvolles zu tun. Und dass dann der nächste telegene Schritt direkt zu uns führt, war mir sofort klar. Wenn es irgendwo in Europa Unruhen gibt, in die auch nur ein Migrant verwickelt ist, beispielsweise die immer mal wieder aufflackernden Krawalle in den Vorstädten von Paris oder Rotterdam, dann tauchen sie sofort hier auf. Schön, da braucht man gar nicht bis zum nächsten Berlin-Tatort zu warten, um mal wieder was von der Stadt zu sehen. Ich gehe dann gerne rüber zum Arabischen Club: »Leute, macht die Nachrichten an, wir kommen heute im Fernsehen!« Erwartungsvoll scharen wir uns um den Apparat, dafür wird sogar Al-Dschasira unterbrochen. Fieberhaft warten wir auf heute. »Brennende Autos in Paris – kann das nicht auch bei uns passieren?«, fragt Steffen Seibert und guckt sehr sorgenvoll, »auch bei uns gibt es schließlich problematische Viertel, wo Menschen ohne Perspektive ...« Bingo! Wusst’ ich’s doch. Ich setze auf Leopoldplatz, Tariq auf den Soldiner Kiez. »Hugo Balderwin mit einer Reportage aus Berlin-Kreuzberg.« Was für eine Enttäuschung. Von den Gästen ist ein unzufriedenes Knurren zu hören. Wir warten auf die Tagesschau. Diesmal ist es Neukölln. Pfiffe im Lokal. Verärgert gehen wir nach Hause.

Am nächsten Abend haben wir mehr Glück. Gleich als zweiter Bericht in heute: der Wedding – endlich! Beifall brandet auf im Innenhof. »Erwin, kiek ma, wir sind inner Glotze!«, höre ich Frau Kaloppke noch durchs Fenster nach ihrem Mann rufen. Tanzende türkische Jugendliche am Nauener Platz. In akzentfreiem Deutsch sagen sie in die Kamera Sachen wie: »Wenn ich mich nach der Schule mal so richtig gestresst fühle, dann komme ich hierher und tanze. Das ist gut gegen meine Aggressionen und verhindert sozial geächtete Übersprungshandlungen. Danach bin ich dann wieder sehr ausgeglichen.« Schnitt. Ein paar Häuserfronten aus der Seestraße, und der Sprecher raunt: »Auch hier brodelt die gefährliche Mischung aus Perspektivlosigkeit, fehlenden Jobs und mangelnder Integration. Doch wenigstens solche Projekte geben den Jugendlichen eine sinnvolle Beschäftigung.«

Apropos sinnvolle Beschäftigung, da läuft schon wieder so eine Maus mitten durch das Zimmer. Verdammt. Auf jeden Fall scheint der Weddinger sein Mäuse-Problem selbstständig zu lösen, ohne dafür Geld auszugeben. In keinem einzigen Geschäft gibt es Mausefallen zu kaufen. Ich muss tatsächlich bis zu einem Baumarkt nach Reinickendorf fahren, um endlich Hilfe zu finden. Man bietet mir verschiedene Sorten Gift an. Die Variante gefällt mir allerdings auch nicht so recht. Wenn ein Dutzend Mäuse – auf diese Zahl schätze ich meine Popula­tion inzwischen – sich nach dem Genuss der Köder hinter irgendwelche Schränke zurückzieht, um sich würdevoll dort hinzusetzen, eine letzte Zigarette anzuzünden und zu sterben wie eine Maus – das riecht doch sicher. Andererseits bietet der Baumarkt praktischerweise auch gleich ein größeres Repertoire gegen Fliegen an. Trotzdem: lieber nicht. Bleibt also die Mausefalle, in den Varianten archaisch mit Genickschlagbügel und modern-tier­freund­lich mit niedlichem kleinen Käfig. Ich entschließe mich zur gutherzigen Variante. Sind ja irgendwie auch süß.

Zu Hause gelingt es mir tatsächlich, die Dinger mit Käse zu bestücken. Ein bisschen skeptisch bin ich ja schon. Sieht irgendwie etwas albern aus, dieser kleine Drahtkäfig. Und da sollen die freiwillig reinklettern? Am nächsten Morgen stelle ich fest, dass die Mäuse offenbar nicht die geringsten Bedenken haben, in diese kleinen Drahtkäfige hineinzuklettern. Völlig zu Recht zudem. Alle Köder sind ratzekahl weggefressen, trotzdem ist keine einzige Falle zugeschnappt. Aber nach einigen Tagen habe ich wertvolle mammologisch-oekotrophologische Ergebnisse gewinnen können: Speck und Erdnussbutter mögen sie gern. Auch Shoarma, Pita und Köfte werden anstandslos verschlungen. Lachsfleisch dagegen wird verschmäht. Finde am nächsten Morgen kleine Protestnoten in den Drahtkörbchen.

Na gut. Ihr habt es nicht anders gewollt, niedlich hin oder her. Jetzt geht’s ans Eingemachte. Beziehungsweise an die Eingeweide. Ich hole ein ganzes Set klassischer Mausefallen. Ich erinnere mich noch an alte Donald-Duck-Comics, wo einer der Running Gags war, dass Donald ständig die zuschnappenden Dinger an den Fingern hatte. Ich bin also gewarnt. Ich fluche, als ich gleich die erste Falle am Daumen hängen habe. Okay, die funktionieren also wirklich. Die Mäuse gucken misstrauisch vom Boden zu mir hoch. Als ich am Kühlschrank stehe, um die Köder rauszuholen, und dabei versehentlich das Päckchen mit dem Lachsfleisch in der Hand habe, höre ich Pfiffe und Pfui-Rufe von unten.

Zehn Stück stelle ich auf, sicher ist sicher. Zufrieden lege ich mich ins Bett, stecke mir Ohropax in die Gehörgänge, um nicht nachts vom beständigen Zuknallen der Fallen und den Todesschreien der Mäuse geweckt zu werden, und richte mich darauf ein, am nächsten Morgen die kleinen Kadaver einzusammeln. Lege mir schon mal die Nummer von der Tierkörperverwertungsanstalt auf den Nachttisch.

Stattdessen kann ich am nächsten Morgen zehn Fallen neu mit Ködern bestücken. Keine einzige ist zugeschnappt. Aber sobald ich eine auch nur vorsichtig an­ticke, geht sie in die Luft wie eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg. Keine Ahnung, wie die Viecher das machen. Wahrscheinlich ein Evolutionssprung. Bin ein bisschen stolz auf meine Kleinen und kaufe für die nächste Bestückung extra den guten Cheddar-Käse, zur Belohnung. Auch nach Tagen ist immer noch keine einzige Maus in die Falle gegangen. Eines Morgens finde ich lediglich eine Leiche kurz vor der Falle. Ihr Fell ist ganz schütter und schlohweiß, sie hat einen großen Buckel, und ihre Pfötchen sind von dicken Gichtknoten gezeichnet. Keine Frage, sie hat es nicht mehr bis zur Falle geschafft. Kurz vor dem Ziel an Altersschwäche gestorben. Ich gebe auf. Ich sammele die Fallen wieder ein und füge mich in mein Schicksal. So machen die anderen Weddinger das also, denke ich. Was soll’s. Sind ja nur ganz kleine Küddel. Und die paar Lebensmittel kann ich auch problemlos im Kühlschrank lagern.

Nach ein paar Tagen stelle ich erstaunt fest, dass die Mäuse verschwunden sind. Alle weg. Spurlos. Ich habe keine Ahnung, warum. Vielleicht macht es ihnen einfach keinen Spaß mehr, jetzt, wo ich sie nicht mehr jage. Das ist keine Herausforderung mehr für sie. Bedrückt sitze ich allein an meinem Küchentisch. Es ist still in meiner Wohnung. Ich fühle mich verlassen. Ich bin sehr einsam.

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