Kitabı oku: «Vom Wedding verweht», sayfa 3
Veganer Erstkontakt
Es ist nicht zu leugnen: Veränderungen sind jetzt auch bei uns im Kiez überall zu bemerken. Hörte man früher draußen auf der Seestraße ausschließlich Sprachen jenseits des Schulbildungskanons wie Türkisch, Arabisch oder Berlinerisch, spricht jetzt plötzlich jeder zweite hier Englisch oder Spanisch.
Wie aus dem Nichts entstanden plötzlich nette Kneipen, in die auch unsereins gerne reingehen mag. Nette Kneipen, wie man sie aus Stadtteilen wie Kreuzberg, Mitte oder Friedrichshain kennt. Ganz ohne Spielautomaten und Leuchtstofflampen. Dafür mit selbst gebrautem Bier. »Das wird doch nie was«, dachte ich, als die Micro Brewery gegenüber aufmachte, »schnell mal hingehen, ehe die wieder zumachen«. Aber es wurde nicht nur was, es wurde sogar ein großer Erfolg. Endlich konnte ich mich mal guten Gewissens bei uns in der Nähe mit Freunden verabreden. Nicht, dass man früher im Wedding nichts zu trinken bekommen hätte. Aber wenn man Unbeteiligte, also Nicht-Weddinger, hierher lotste, benahmen die sich immer so, als wären sie frühe Forschungsreisende, die auf einer Südsee-Insel anlandeten, die gemeinhin für Kannibalismus bekannt ist.
Aber jetzt gibt es das Vagabund und das Frederick und die Nussbreite, und man kann einfach so reingehen. Vielmehr: könnte einfach so reingehen. Wenn man denn reinkäme. Als ich neulich mit einem alten Freund an einem Freitagabend verabredet war, um ihm zu zeigen, dass man jetzt auch im Wedding ausgehen kann, war alles voll. Wenn überhaupt, dann nur Stehplätze mitten im Raum. »Da hätten wir ja gleich nach Kreuzberg gehen können«, knurrte der Freund. Es ist wirklich ein Witz: Jahrelang kann man nirgends hingehen, weil es nichts gibt, und kaum gibt es was, kann man nicht hingehen, weil alle da hingehen.
Wir beschlossen, erst mal was zu essen. Ich schlug die Dönerbude meines Vertrauens vor, mein Freund fragte, ob die denn auch vegan hätten. Ich dachte, er scherzt. Er ist schließlich mein Freund. »Nein«, sagte ich, »keine Sorge, so schlimm ist es dann doch noch nicht. Die Kneipen mögen überfüllt sein mit hipsterigem Jungvolk, aber die Dönerbuden sind noch Dönerbuden.« »Dann lieber nicht«, sagte der Freund. Ich staunte. Ich staunte sogar gleich doppelt. Erstens, weil mein Freund offenbar zum Veganer mutiert war. Und zweitens darüber, dass ich ohne mit der Wimper zu zucken sagen konnte: »Gut, dann gehen wir eben in den Lichtsauger bei mir um die Ecke, der hat vegan.« »Lichtsauger?«, fragte mein Freund irritiert. »Du wolltest doch vegan!«, sage ich vorwurfsvoll, »die heißen nun mal so.«
Der Freund, so erfuhr ich im Lichtsauger, macht einen Selbstversuch. Drei Monate lang will er vegan leben. Zur Selbsterfahrung. Um mal wirklich mitreden zu können. Und um ein Buch drüber zu schreiben, dass sich angesichts des Vegan-Hypes anschließend gefälligst wie geschnitten Wurst verkaufen würde, freute er sich. Aber es sei nicht leicht. Immerhin vier Wochen habe er schon überstanden, aber dauernd werde er von seinem Umfeld gedisst und mit Unverständnis verfolgt. »Ach, soll doch jeder machen, wie er will«, sagte ich nur, »mir ist das ganz egal. Du brauchst dich für nichts zu rechtfertigen. Wir müssen auch gar nicht drüber reden.« Mussten wir aber doch. Der Freund hatte Redebedarf. Detailliert berichtete er von seinem exakt 26-tägigen Martyrium, während wir als einzige Gäste im Lichtsauger an unserem Tischlein hocken. »Tischlein« deswegen, weil die winzigen Stühlchen und Tischchen korrespondierten mit den lustig kleinen Portionen veganen Irgendwas’, die uns die Bedienung als Gnocchi angepriesen hatte. Die Bedienung, die so dermaßen klischeehaft nach einer lust- und lebensfeindlichen Veganerin aussah, dass ich mir auf der Stelle wünschte, sie möge doch bitte übergewichtig und gutgelaunt sein, nur um mal das Klischee zu brechen. Aber so war sie nicht, und die Chronistenpflicht zwingt mich festzuhalten, dass sie nun einmal aussah, wie sehr bösartige Carnivore eine Bedienung in einem veganen Restaurant aussehen lassen würden, wenn sie darüber berichteten. Immerhin, dafür sahen die veganen Gnocchi auf unseren Tellern ganz und gar nicht wie Gnocchi aus, sondern eher wie aufgequollene Pfannkuchen. Wie sehr, sehr kleine aufgequollene Pfannkuchen. Allerdings schön dekoriert, das sei lobend erwähnt, mit winzigen Blättchen und undefinierbaren, aber ganz nett darübergestreußelten Unkraut-Krümeln.
Ich kam mir deplatziert vor. Ich traute mich kaum, mich auf meinem Stuhl zu bewegen, weil ich Angst hatte, er bräche unter mir zusammen. Mich auf den Tisch aufzustützen, wagte ich aus demselben Grund erst recht nicht. Immerhin, die Last unserer beiden Teller trug er aber souverän. Denn auf den Tellern war ja praktisch nichts drauf.
Ich war mir nicht sicher, wie man so etwas richtig isst. Es war so wenig, dass man es im Grunde mit einem beherzten Gabelhieb hätte verschwinden lassen können. Das schien mir aber irgendwie unangemessen bei einem Gericht, das immerhin neun Euro fünfzig kostete. Ich kam mir sofort sehr ungehobelt, barbarisch geradezu vor. Ich stellte mir vor, wie die verkniffene Bedienung hinterm Tresen lauerte: »Aha! Der Fleischfresser stopft unsere von Kinderhänden in Südostasien aus handverlesenen Sojabohnenspitzen sorgsam zusammengespeichelten Vegan-Gnocchi einfach so achtlos in sich hinein, als wären sie ein blutiges Leichenteil. Bestimmt wird er nachher
lästern, dass es nichts Anständiges zu essen gab, und sich irgendwo eine Wurst holen!«
So einfach aber wollte ich es der Frau nicht machen. Also filetierte ich vorsichtig an meinen Pfannküchlein herum, mit der Sorgfalt eines Chirurgen, der versucht, bei der Krebsoperation das böse Gewebe von dem guten zu trennen. Der Veganer auf Probe mir gegenüber seufzte auf und griff zu seinem Handy. Er wischte ein paarmal darüber, dann gluckste er glücklich: »Pulled-Pork-Sandwiches!«, sagte er nur. Ich verstand nicht. »Ich habe neulich dermaßen Lust auf Pulled-Pork-Sandwiches bekommen, da habe ich mir einfach einen Schwung Bilder aus dem Netz runtergeladen. So habe ich sie immer ganz nah bei mir. Das hilft.« Mit träumerischem Blick strich er durch eine Galerie voller vor saftigem Fleisch überlaufenden Brötchen- und Brothälften. »Hier, sieht das nicht toll aus?« Er hielt mir eines vor die Nase. Traurig blickten wir anschließend auf unsere Teller. Ach, was soll’s, dachte ich, nahm die Gabel entschlossen in die Hand, und der vegane Gnocchi-Quatsch war verschwunden.
Sogleich eilte die Bedienung zu unserem Tisch: »Darf’s noch etwas sein?«, fragte sie hinterhältig. Eine Falle! Aber so leicht ließ ich mich nicht vorführen: »Nein, danke, ich bin restlos satt«, sagte ich ganz ernst, während der Freund versuchte, ein hysterisches Kichern zu unterdrücken. Dann zahlten wir und gingen. Vielleicht war ja jetzt in der Micro Brewery ein Plätzchen frei für uns.
Die Spanier, die kürzlich bei uns im Haus eingezogen sind, kamen uns auf der Seestraße entgegen und begrüßten mich fröhlich mit den Worten: »Ey, wart ihr wirklich in dem Veganerschuppen? Ihr seid ja krass!« Ich wies entschuldigend auf meinen Freund, der mich böse anguckte. Aber diesmal passten wir in die Micro Brewery, und nach ein paar vorzüglichen IPAs war jeder Groll vergessen.
Als wir wieder herauskamen, es war nach zwei, wurden wir von Rauchschwaden umhüllt, die uns das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Es roch nach Grill. Ich war verwundert. Aber tatsächlich: unser Spätkauf! Yusuf, der Chef dort, hatte in dieser lauen Frühlings-Wochenendnacht einfach so einen Elektro-Grill mitten auf den Bürgersteig gestellt und verkaufte nun Bratwürste und Nackensteaks an die trunkenen nächtlichen Flaneure. Ich stellte mich fröhlich an, mein Freund strich derweil traurig über das Display seines Telefons.
Vor mir in der Schlange stand eine hagere Frau. Sie kam mir bekannt vor, ich guckte noch einmal hin: tatsächlich. Es war die Bedienung vom Lichtsauger, die sich gerade ein wunderbar duftendes Nackensteak vom Grill reichen ließ und sogleich beherzt hinein biss. Sie sah sehr vergnügt dabei aus. Ich war es auch sogleich. Sie grüßte mich freundlich kichernd, als sie an mir vorbeiging. Und eigentlich, das sei an dieser Stelle dann doch zugegeben, waren die Gnocchis vom Lichtsauger wirklich verdammt lecker.
Miteltern
Der Unheil verkündende Zettel in der Postmappe des Sohnes drohte an, dass über die kommende Klassenfahrt zu sprechen sei. Deswegen werde ein Elternabend einberufen. Herrjeh, dachte ich da, was soll das denn? Wenn Klassenfahrt ist, würde doch ein Zettel, auf dem alles draufsteht, völlig reichen: wann geht’s los, wann müssen wir sie wo wieder abholen hinterher, und gut is’. Aber nein, wir werden einen ganzen Abend lang gründlich durchinformiert. Und müssen alle möglichen Entscheidungen treffen.
Schon geht es los. Taschengeld. Die Kinder sollen ihr Taschengeld in einem Briefumschlag mit Namen drauf mitbringen. Der wird dann bei den Lehrern abgegeben. Wenn sie sich am Kiosk in dem Schullandheim etwas kaufen wollen, können sie sich das Geld wieder abholen. So ist gewährleistet, dass es nicht verloren geht. Und natürlich, wir sind schließlich eine Weddinger Grundschule, dass die lieben Kleinen sich nicht gegenseitig überfallen, um an die Kohle der anderen zu kommen. Eine zweifellos sinnvolle Einrichtung.
Doch die Miteltern schauen sich ratlos an. »Aber wieviel?«, flüstern sie verunsichert. »Wie, wieviel?«, werfe ich irritiert ein, »einen Umschlag halt.« »Aber wir müssen doch wissen, wieviel Geld da rein soll!« Ach, es ginge ja nur darum, am Kiosk mal ein paar Süßigkeiten zu kaufen, fünf oder zehn Euro würden für die fünf Tage völlig ausreichen, erklärt der Lehrer. Die Miteltern gucken nun noch verunsicherter, es zischelt und tuschelt gar ärgerlich bis erregt: »Aber dann hat ja ein Kind fünf Euro dabei und das andere zehn!«, faucht eine Mutter. In der Tat. So wird es am Ende kommen, denke ich. Man könnte sagen: wie es halt so ist im Leben. Und in der Schule. Da haben auch einige Kinder Taschengeld dabei und kaufen sich nach Schulschluss im Spätkauf gegenüber Sammelkarten, und die anderen nicht. Die einen haben Handys, die anderen nicht. Die einen haben Väter, die anderen nicht. So geht es eben zu da draußen.
Aber nicht auf der Klassenfahrt. Erregte Debatten folgen. Ich seufze. Schnell bilden sich zwei Lager: Die Budgetisten gegen die Kapitalliberalen, scharfe Wortgefechte folgen. Ich schaue fassungslos auf die Uhr. Seit einer halben Stunde diskutieren hier dreißig erwachsene Menschen miteinander, ob die Kinder nun alle gleich viel Taschengeld mitnehmen sollen oder nicht. Die Stimmung wird zunehmend gereizt, in einer Kampfabstimmung setzen sich die Budgetisten knapp durch. Auch gut, Hauptsache, wir müssen über den Quatsch nicht weiter reden, denke ich.
Aber zu früh gefreut. »Gut, also: Alle nehmen gleich viel Taschengeld mit. Aber: wieviel denn nun?«, fragt eine Mitmutter, und sofort brechen erneute Tumulte aus. Fünf oder zehn Euro, das ist hier die Frage. Mit offenem Mund verfolge ich staunend, dass man sich dazu eine engagierte Meinung bilden kann: »Fünf Euro sind ein Euro pro Tag, das ist doch eine sehr logische Einheit, damit können die Kinder gut umgehen.« »Zehn Euro sind zwei Euro am Tag, da lernen sie gleich viel besser, auch mal mit ›geteilt durch‹ zu rechnen.« »Zehn Euro ist viel zu viel. Dann kaufen sie sich dafür nur Gummibärchen und kriegen Bauchweh.« »Fünf Euro ist viel zu wenig, ist doch klar, dass sie sich dann nur Gummibärchen kaufen, was anderes kriegt man dafür ja gar nicht.« Die Hilfspaketverhandlungen mit Griechenland waren ein Dreck dagegen. Hier werden gerade Feindschaften fürs Leben geschlossen. Ich schaue auf die Uhr: sechzig Minuten. Am Ende einigen wir uns auf sieben Euro fünfzig. Das kann zwar kein Mensch auf fünf Tage verteilen, aber die Kinder sollen ja auch lernen, insgesamt mit ihrem Budget umzugehen.
Womit allerdings die nächste Front sofort eröffnet ist: »Dürfen die Kinder denn Süßigkeiten von zu Hause mitbringen?«, fragt ein Vater, der bei mir schon als notorischer Querulant unter verschärfter Beobachtung steht. Ich muss unbedingt herausfinden, zu welchem Kind der gehört, damit ich meines davor warnen kann, sich ja nicht mit dem Blag von diesem Vollidioten anzufreunden. Einige Eltern heulen auf, als habe sich gerade ein stadtbekannter Kinderschänder als Aufsichtsperson für die Fahrt vorgestellt. Süßigkeiten mitgeben? Womöglich schon für die Busfahrt? »Dann haben einige Kinder total viel dabei und die anderen gar nichts, das ist ungerecht«, quiekt es, und: »Dann beschmieren die die Sitze im Bus, und wir müssen am Ende die Reinigung bezahlen«, aber auch: »Ich lasse mir doch nicht vorschreiben, was ich meinem Kind in die Frühstücksdose packe, so weit kommt das noch.«
Neunzig Minuten. Und da haben wir noch nicht darüber gesprochen, inwieweit die Kinder sich allein auf dem Gelände der Unterkunft frei bewegen dürfen, wie die Aufteilung der Schlafsäle zu gestalten ist, und, für mich der bizarre Höhepunkt des Abends, wieviele Unterhosen sie mitnehmen sollen. Ich breche innerlich schluchzend zusammen.
Nach über drei Stunden guckt der Hausmeister in den Klassenraum und fordert uns auf, endlich abzuhauen. Guter Mann, ich bin ihm sehr dankbar. Die Miteltern aber knurren verärgert. So viele Fragen bleiben noch offen. Beim Rausgehen raunt mir eine Mutter zu, dass es eigentlich ein großes Ärgernis sei, wie wenig wir einbezogen würden. Das hätte man ja alles auch schon ein paar Monate eher angehen können, nicht erst so knapp vor der Fahrt, dann hätte man sich auch mehrfach treffen können, bis alles geklärt ist. Ich antworte ihr, dass ich es begrüßen würde, wenn demnächst alle Entscheidungen von den Lehrern alleine getroffen und wir in einem Schreiben einfach abschließend darüber informiert würden. Sie guckt mich ganz seltsam an, dann fragt sie unauffällig, wie mein Kind doch noch gleich heiße?
Am Ende aber bin ich ein bisschen stolz auf die Menschheit. Eigentlich erstaunlich, was sie alles hinbekommen hat: Pyramiden, Hochhäuser, Autobahnen, die Internationale Raumstation und immerhin wichtige Teile des Flughafens BER. Logistische Meisterleistungen, wenn man es genau bedenkt. Vermutlich, die Erkenntnis überfällt mich schlagartig, verdanken wir das alles im Wesentlichen nur Kinderlosen. Während wir den Miteltern vor allem absurde Debatten verdanken. Und nicht zu vergessen natürlich: die Masern.
Vielleicht sollte man darüber nachdenken, ob es wirklich eine so gute Idee ist, dass Leute, die Kinder haben, überall mitreden und sogar wählen dürfen. Vielleicht haben die auch einfach zu viel anderes um die Ohren, als dass sie zu gesellschaftlichen Fragen noch Sinnvolles beitragen könnten.
Ich jedenfalls fange flugs an, die Unterhosen meines Sohnes abzuzählen.
Davor warnt einen ja auch niemand, bevor man Kinder kriegt
»Wir müssen noch die Ziegen füttern!«, höre ich mich sagen. Aber die Kinder wollen nicht. »Papa, wir wollen ein Pferd!«, quengeln sie stattdessen wiederholt, »los, lass uns ein Pferd kaufen.« »Seid doch vernünftig«, rede ich eindringlich auf sie ein, »ein Pferd ist viel zu teuer. Und wir haben doch gar keinen Platz dafür!« »Doch!«, entgegnen sie entschlossen. Ich appelliere an ihre Einsicht: »Aber wir wollten doch auf einen Komodowaran sparen!« »Och nö«, quengeln sie, »wir wollen lieber ein Pferd.« Meine Kinder wollen lieber ein Pferd als einen Komodowaran? Ich fürchte, meine Erziehung ist gescheitert. Ich resigniere. Na gut, dann kaufen wir eben ein Pferd. Sie werden schon sehen, was sie davon haben.
Manchmal wundere ich mich ja selbst ein wenig, was wir da eigentlich machen. Aber seit die Kinder »My super cute Zoo« im Internet entdeckt haben, gibt es kein Halten mehr. Es ist noch gar nicht so lange her, dass Brauseboys-Kollege Robert Rescue einen Text darüber geschrieben hatte, wie er einen virtuellen Ponyhof betreute. Wochenlang hat er, angeblich nur zu Recherchezwecken für eine Geschichte, seine virtuellen Pferde täglich mehrfach beritten und gefüttert, hat mit ihnen für Rennen trainiert und den Tierarzt gerufen. Mit der Taste F5. Ungläubig und kopfschüttelnd hatte ich seinen Schilderungen aus den Tiefen des Netzes gelauscht. Ich meine: Klavierpedalfetischisten, Spermaspiele, Jazzplatten-Datensammler, Fans von Bayern München – das Netz ist voll mit Wahnsinnigen aller Art, die ihren abwegigen Obsessionen nachgehen, und ich habe ein großes Herz für sie alle. Soll doch jeder machen, wie er will. Aber als dann noch die hochgeschätzte »Jungle World«-Redakteurin Elke Wittich in einem Text verriet, dass sie ebenfalls auf dem virtuellen Ponyhof ein Gestüt unterhielt, auf dem sie unter anderem das »Lügenpferd Pegida« durchfütterte, wurde mir die Sache allmählich unheimlich. Dementsprechend erleichtert atmete ich auf, als Rescue nach ein paar Wochen seine Pferde endlich alle elendig verrecken ließ. Er schien wieder normal zu werden.
Und nun also kaufe ich selbst ein Pferd, aber nicht für einen lausigen Ponyhof, sondern für unseren superniedlichen Zoo. Dort tummeln sich bereits Braunbären und Gürteltiere, Ameisenigel und Erdmännchen. Mit einem Wort: Wir haben Level 22 erreicht! Morgens vor der Schule, nachmittags nach dem Hort und abends vor dem Schlafengehen loggen wir uns ein, um unsere Tiere zu füttern, sie zu pflegen und mit ihnen zu spielen. Was so geht: Man fährt mit der Maus über den Bildschirm, auf dem all unsere Tiere in adretten Gehegen lustig animiert herumhüpfen, und klickt dann drei Mal auf jedes Exemplar. Klick, klick, klick. Einmal auf den Napf, für Futter, einmal auf die Bürste, für Pflegearbeiten, einmal auf den Ball, für Spielen. Immerhin, Enrichment hat es also selbst schon in den virtuellen Zoo geschafft. Bei den Papageien ist das mit dem Anklicken übrigens gar nicht so einfach, weil die immer so herumflattern. Bei jedem Klick machen die Tiere dann superniedliche Geräusche, also »ehe-ehe« die Flamingos oder »och-och« das Flusspferd, und wir bekommen Erfahrungspunkte dafür. Hat man genug davon zusammen, steigt man einen Level auf und kann noch mehr supersüße Tiere kaufen. In Level 23 etwa locken das Rüsselschwein und eben der verdammte Komodowaran. Angesichts dessen ist es natürlich vollkommen irre, jetzt ein triviales Pferd zu kaufen. Ein Komodowaran würde viel mehr Punkte bringen und außerdem ordentlich Publikum anziehen. Mit einem Pferd dagegen lockt man keinen müden Besucher aus dem Glasfaserkabel heraus.
Was macht man nicht alles für die Kinder. Anfangs habe ich mich noch strikt geweigert, diesen Quatsch mit ihnen zu spielen. Aber sie waren so fasziniert davon, alle anderen in der Schule spielen es auch, und alleine will ich sie auf gar keinen Fall an den Computer lassen. Also mache ich halt mit. Außerdem ist das ja allemal besser, als wenn sie irgendwelche Zombies abschießen würden. Obwohl – ist es das wirklich?, grübele ich, während ich stumpf drei Mal auf jeden unserer 53 Hasen klicke, die dann dreimal supersüß vor sich hinmümmeln. Die gibt es nämlich dauernd im sogenannten Booster-Pack als Belohnung dafür, dass man wieder darauf verzichtet hat, einen Tag verstreichen lassen, ohne »My super cute Zoo« aufzurufen.
Deswegen leidet unser Zoo inzwischen unter einer veritablen Hasenplage. Leider fehlt die Option, die einen Zootiere an die anderen zu verfüttern. Dabei haben wir sogar einen Jaguar, der da sicher Interesse hätte. Aber das wäre wohl nicht mehr supersüß genug. Ganz wie im echten Zoo also, wo es auch immer großes Geschrei in der Öffentlichkeit gibt, wenn mal eine Bio-Giraffe aus eigener Nachzucht nach schöner Kindheit an die Löwen verfüttert wird, weshalb eben reichlich Rinder und Schweine aus der Massentierhaltung, die vorher ordentlich gelitten haben, dran glauben müssen. Abgesehen davon bringt die Vollversorgung von so einem schedderigen Hasen gerade drei mal acht Erfahrungspunkte. Ärgerlich.
»Los Kinder, wir gucken nach dem Zoo!«, rufe ich abends fröhlich ins Wohnzimmer, als ich nach Hause komme. »Och, mach du mal«, sagen sie, »im Fernsehen kommt Spongebob!« Na, soweit kommt das noch, dass ich für die Herren Söhne die virtuellen Hasen füttere! Man kennt das ja von echten Haustieren. Erst wollen die Kinder unbedingt welche haben und schwören hoch und heilig, sich gewissenhaft um sie zu kümmern, und dann müssen doch die Eltern die Viecher vor dem Hungertod bewahren. Aber jetzt drei Mal am Tag ihre Internet-Tiere füttern, das geht dann doch zu weit. »Aber nur ausnahmsweise«, sage ich bestimmt, während ich den Rechner hochfahre.
Alles geht also seinen Gang. Neue Tiere wollen die Kinder schon noch kaufen, aber vor der täglichen Drecksarbeit drücken sie sich. Das soll ich für sie erledigen. Und ihnen Bescheid geben, wenn genug Geld da ist, um was zu kaufen. Die spinnen ja wohl. Andererseits habe ich jetzt Abertausende von Mausklicks darauf verwendet, dass alles so schön geworden ist. Genau genommen: Drei mal 47.718 Mausklicks, wie das Statistikmodul mir mitteilt. Verdammt, das heißt nur noch knapp über 2.000 Mal Tiere füttern, dann könnte ich endlich den Komodowaran kaufen. Das wenigstens will ich noch schaffen, bevor ich den Quatsch hier ein für allemal lösche.
Es ist ein großer Triumph, als ich mich eines Nachmittags, als sie von der Schule kommen, vor den Kindern aufbaue: »Jungs, wollt ihr mal in unseren Zoo gucken? Wir haben jetzt Komodowaran-Babys!« »Och nö«, sagen sie, »wir wollen lieber Clash of Clans spielen!« »Clash of Clans?«, frage ich irritiert. »Ja, das ist so ein Spiel im Internet, da baut man ein Dorf auf und muss das gegen Feinde verteidigen, mit Zauberern und Barbaren, und dann gewinnt man Gold und kann damit Drachen kaufen, und wenn man total gut ist und ganz viel dunkles Elixier gesammelt hat, gibt es sogar Lavahunde.« »Lavahunde?! Was soll das denn? Mensch, wir haben Komodowaran-Nachwuchs in unserem Zoo!« »Ach, der Zoo ist doch langweilig.«
Nachts, bevor ich ins Bett gehe, rufe ich »My super cute zoo« noch einmal auf. Die Komodowaran-Babys sind wirklich superniedlich. Wenn man sie anklickt, zischen sie ganz süß. Ich bin ein kleines bisschen stolz auf mich. Das habe ich ganz allein geschafft. Dann scrolle ich durch meinen Zoo, der inzwischen drei Bildschirme einnimmt. Über 200 hungrige Mäuler gilt es zu stopfen. 25 Besuchertoiletten müssen via Mausklick gereinigt, über 100 Pflanzen gegossen werden. Den nächsten Level erreiche ich in 348.000 Erfahrungspunkten. Da kann man dann Mammuts zurückzüchten. Und Dodos. Ausgestorbene Tiere also! Was für ein Quatsch! »Der Zoo ist doch langweilig!« – das Verdikt meiner Söhne lastet schwer über Level 25. Ich fürchte, sie haben völlig Recht. Irgendwie macht es mir jetzt auch keinen Spaß mehr.
Ein letztes Mal füttere ich die Nashörner, Warzenschweine, Polarfüchse und Hasen. Ich wünsche ihnen alles Gute. Dann schließe ich das Programm. Für immer. Ab morgen bauen wir Goldminen, Elixiersammler und Heereslager. Wäre doch gelacht, wenn wir diesen Lavahund nicht kriegen würden.
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