Kitabı oku: «Hein Bruns: In Bilgen, Bars und Betten», sayfa 2
Kapitel 2
Frostklarer Tag. Die Kälte knackt wie Krakauer Wurst. Quirlend flockt Weiß aus grauem Himmelstopf. Schnee knarrt und stöhnt unter Fußtritten. Vorortbahn. Ein Mädchen, sein, Meilers Mädchen, blieb zurück. Winkte und winkte, bis auch das Tuch eine Flocke war. Schön waren die Tage bei ihr, und noch schöner die Nächte, ja, die Nächte. Verflucht, die Nächte waren gut. Scheiße, jetzt nicht dran denken, bin sowieso leer wie meine Brieftasche. Nicht dran denken. Kann man auf See machen, wo man zum Nachdenken Zeit hat, auf langen Wachen und so. Dann kann man sich die Beine und Brüste und Mund und Augen wieder herbeiholen. Dann hat man auch was davon, und man kann was davon machen, so man keinen Hafen und keine Frauen hat. Aber jetzt, nee!
Weißwattige Rauchballen liegen auf nadelspitzen Industrieschornsteinen. Glühend brennt ein Feuer ein rotes Loch in das Schneegrau des Himmels: die Abgasflamme einer Ölraffinerie. Melchior Meilers fadenscheinige Koffer aus Fiber, Farbe und Pappe stachen im zermatschten Schnee des Abteils. Ein Zuchthaus gleitet vorüber, und in den Zellen brennt Licht. Schmutziggelbe Fleckenquadrate im Ziegeldunkel der Steine. Schmutziggelbe Flecken, von schwarzer Gitterschrift aufgeteilt. Schachbrettmuster der Unfreiheit. Die Zuchthauskapelle aber hat keine Flecken, morgens geht noch keiner beten. Die haben es gut, die da im Knast, haben zu essen, sind im Warmen und brauchen nicht zur See zu fahren. Vor Meiler, gegenüber, pult sich eine kopfbetuchte Frau in der Nase. Derjenige, der den Knetgummi erfunden hat, oder derjenige, der die Plastikbombe erdacht hat, hat bestimmt mit Nasenpopeln angefangen. Hat die Popel mit spitzen Fingern und bohrenden Nägeln aus der Nase geholt und die grünschwarzen Dingerchen zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her gedreht, gerollt, gewalzt zu Kugeln, zu Würsten, zu Walzen. Hat sie eingekniffen und sich vor Augen gehalten. So ist er auf Knetgummi gekommen, heute ein beliebtes Spielzeug für Kinder. So ist er auf die Plastikbombe gestoßen, heute ein beliebtes Spielzeug für Attentäter und Widerständler. Eigentlich müsste er an sein Mädchen denken, statt an Nasenpopel. Fünfzig Mark hatte Meiler schon nicht mehr. Taxe. Fahrkarte. D-Zug, versteht sich, er sollte ja schnell reisen. Doppelter Zuschlag, weil Fern-D-Zug. Er sollte ja schnell reisen. Die Zuschlagkarten machten schon einen feinen Mann aus ihm, es fährt nicht jedermann mit einem Fern-D-Zug, weiß Gott nicht. Einen feinen Mann, wenn auch die Koffer Pappkoffer sind, pah, was macht das schon? Junge und ältere Mädchen und Frauen, schlanke und dralle, steigen zu. Schnatternd, schnackend, gackernd, lachend, albern kichernd. Toupiert vergrößert. Gehackt vergrößert. Gemalt verschönt. Verkäuferinnen. Büroangestellte. Arbeiterinnen. Die Stadt frisst sie gleich, frisst und schluckt sie gleich, mit all der Farbe auf Gesichtern und Fingern. Mädchen und Frauen, die die Stadt gleich schluckt und die sie abends wieder auswirft, als sei sie ihrer überdrüssig. Keine Sorge aber um die Farbe, denn vor dem großen Auswurf treten der Pinsel und der Farbstift wieder in Tätigkeit. Nur der Glanz der Augen ist geschwächt. Der Glanz des herben Wintermorgens in den Augen der Mädchen, der ist abends stumpf. Den Glanz hat die Stadt behalten. Und den Tribut fordert sie täglich, bis die Augen ganz stumpf sind, so stumpf wie Milchglas. Aber daran haben die Wanze und der Wurm und die Schlange nun wirklich keine Schuld, nein, nein, daran nicht. Aber es gibt noch vielmehr Wanzen und Würmer und Schlangen in der Stadt, nicht nur bei den Reedereien, o nein. Und abends nach dem Auswurf werden die Mädchen und Frauen nicht mehr gackern und kichern und schnacken und schnattern, denn sie sind müde und abgekämpft. Sie haben den Glanz aus ihren Augen verloren, nur die Farbe ist frisch.
Meiler wird heute noch, heute Nacht noch von einem Schiff gefressen, mit Koffern aus Farbe, Fiber und Pappe. Und doch sind die Gedanken bei Mira, dem Mädchen der vergangenen Tage und Nächte. Dem Mädchen mit den glatten Gliedern. Mist, nicht dran denken. Fernbahnhof. Umsteigebahnhof. Im Wartesaal der unteren Klasse, am bespuckten Tresen, trank Meiler ein paar Glas Bier. Untere Klasse? Aha, es gibt also doch noch Klassen. Er möchte sich wohl besaufen..., denn es stand ein Mädchen allein auf dem zugigen Bahnsteig, und das Tuch war eine große Schneeflocke, und die kleinen Schneeflocken, die richtigen und wirklichen und weißen und nassen, zogen einen wirbelnden Schleier vor des Mädchens Augen. Deswegen möchte er sich besaufen, aber dafür haben „Die“ ihm kein Geld gegeben, dafür nicht.
Die Arbeitskraft, Personalausweisnummer D 3920206, Melchior Meiler, hat fünfzig Mark bekommen, damit die Arbeitskraft vom Schiff gefressen wird. Die fünfzig Mark müssen doch irgendwie wieder reinkommen, sicher doch. Nein, es wird einem nichts geschenkt. Wieso auch? Besoffen an rohen Holztischen. Mief. Rauch. Schweiß und Füße. Bier und Fuseldunst. Rauch. Bratwurstqualm. Besoffene an rohen Holztischen; denn für Besoffene legt man keine Tischdecken auf. Kellner in schmuddeligen Jacken; denn für diese Gäste braucht man keinen Frack. Schankmädchen, mürrisch und ungefällig, für diese Gäste braucht man kein Lächeln, keine Verbindlichkeiten. Ein Landgewächs steckt sich ungeübt und linkisch eine Zigarette an, zieht daran mit roten Lippen und gelben Zähnen. Stößt den Rauch in den Rauch und in den Schweiß und in den Bratwurstdunst. Verbirgt den Glimmstängel in seinem Handteller... es könnte doch wohl jemand aus dem Dorf hier sein. Zwischen ihren nach einwärts gerichteten Füßen räkelt sich ein blattgrünes Einkaufsnetz, aus dem es beißend und eindringlich herausschreit: HERTIE — HERTIE — HERTIE. Gott ja, das Mädchen will einmal eine Dame sein, und sei es im Wartesaal unterster Klasse, im Wartesaal mit Besoffenen an Holztischen, mit Rauch und Schweiß und Ausdünstungen und Bratwurstqualm. Im Wartesaal unterster Klasse eines Fernbahnhofes. Fünfzig Mark hatte Meiler nicht mehr.
Meiler schob seine Koffer aus Farbe, Fiber und Pappe in das Abteil des Fernzuges. Und seine Koffer aus Farbe, Fiber und Pappe hob er ins Gepäcknetz. Setzte sich selbst in die erste Ecke des Abteils, gleich links. Saß hineingedrückt, als hätte ihm die Verlegenheit einen Schubs gegeben. Saß, als hätten ihn die mitleidigen Polster herabgezogen und in sich aufgenommen, gnädigst. Saß, als hätten ihn der Rauch und der Schweiß und der Bratwurstdunst hier hineingeraucht, hineingeschweißt in diese vornehme Luft. Und die Luft ist vornehm in einem Abteil der oberen Klasse, stinkvornehm ist die. Die Dame am Fenster ist vornehm. Sie hat sich ihren Pelzmantel lose um die Schultern gehängt und sieht gelangweilt aus dem Fenster. Ihre Koffer im Netz stinken nach Schweinsleder. Aber diese Dame popelt sich nicht in der Nase, weiß Gott nicht, zumindest aber nicht öffentlich, denn die Dame ist vornehm. Und der Herr, Meiler gegenüber, ist auch vornehm. Seine Hosenbeine hat er hochgezogen, und die Bügelfalten sind scharf wie ein Paprikaschnitzel. Ist bestimmt teurer Stoff, aus dem der Anzug geschneidert ist, ein Stoff, worin sich auch Bügelfalten wohl fühlen. Ja, der Herr ist vornehm. Musste Meiler sich da nicht in eine Ecke drücken, in die erste beste, in das mitleidige Polster hinein? Aber er hat doch auch eine Fern-D-Zug-Zuschlagkarte, warum ist er eigentlich nicht vornehm? Ach ja, Entschuldigung, die Koffer aus Farbe, Fiber und Pappe, die machen es wohl, dass er nicht vornehm ist. Ja sicher, die sind das auch, …denn an ihren Koffern sollt ihr sie erkennen. Meiler nahm die Boulevard-Zeitung - und erschrak sich. Er erschrak, weil die Zeitung beim Entfalten raschelte. Nein, er erschrak nicht, weil die Zeitung raschelte, sondern er erschrak vor den Blicken seiner Gegenüber. Wie konnte er auch so unhöflich sein und hier mir einer Zeitung rascheln? Das tut man nicht. Das Rascheln vertreibt nämlich die Vornehmheit. Das Rascheln wirkt zerstörend und zersetzt die Feinheit. Und das Rascheln verjagt Gedanken und könnte das Schweinsleder angreifen, das kann man alles nicht wissen. Das Rascheln könnte die Bügelfalten beleidigen. Außerdem ist das Rascheln proletisch. Bloß nicht wieder rascheln. „Deutscher in der Zelle vergessen!“ „Staatspräsident von Togo ermordet!“ „Genossen unter sich!“ „Sie starb durch einen Brieföffner!“ „Europas riesige Eiszapfen!“ Vorsichtig wieder zusammenfalten, die Zeitung, ja, ja, vorsichtig. Die Schweinslederne rührt sich nicht. Die Bügelfalten zittern nicht. Keine Blickpfeile schwirren. Gut gemacht, alter Knabe, wirst langsam vornehm. Dass ihm nun, nachdem die Zeitungsgeschichte einigermaßen klar gelaufen war, die Blase drückte, das war äußerst unangenehm und auch sicher nicht vornehm. Verfluchter Mist war das nun auch wieder. Die Vornehmen müssen nie, komisch ist das auch. Die sitzen und sitzen und scheinen auf dem Gebiet überhaupt keine Gefühle zu haben. Die sitzen, und er muss - und nötig, so nötig. Kommt von dem verdammten Bier im Wartesaal der unteren Klasse. Er kniff die Beine zusammen und schlug sie - und das ganz sachte, behutsam und geräuschlos - übereinander. Nur die Bügelfalten nicht berühren, bloß das nicht. Er meinte die Bügelfalten gegenüber, Meiler hatte ja keine. So ist das aber auch, wenn man keine Bügelfalten hat, kann man auch nicht vornehm sein, und wenn man Bügelfalten hat, drückt einem auch sicher nicht die Blase. Das wird nächstens anders. Ganz bestimmt. Aber Meiler muss trotzdem, muss nötig. Verfluchter Mist! Schob sich an den Bügelfalten vorbei. Tür ganz leise zur Seite rollen, damit die Schweinslederne nicht aufsieht und tastete sich durch den schaukelnden Gang dahin, wo dransteht: WC. Für Herren und auch für Damen. Hier müsste die Schweinslederne auch hin, wenn sie müsste, und die Bügelfalten auch, wenn sie müssten. Das ist man gut, gibt es doch hier wenigstens keine Klasseneinteilung. Nicht mal eine Trennung der Geschlechter. Aber müssen die überhaupt? Wahr ist das aber auch, zuerst zerstörte er die vornehme Luft mit seinen Koffern, dann raschelte er mit der Zeitung „Sie starb durch einen Brieföffner!“ Und zuletzt drückte auch noch die Blase. Nein, nein, aus Meiler wird wohl nie ein feiner Mann werden. Im Gang, an der Tür zur Einsamkeit und des Wasserfalls stand ein Mädchen und wartete darauf, dass die grausamen schwarzen Buchstaben: BESETZT im Messingfutteral verschwinden... so mit klack. Das Mädchen musste auch. Ist es nun vornehm, zu warten, dass jeder Mann und jede Frau und er sehen, dass das Mädchen muss? Ist es vornehm, zu warten, um die Müssenden an sich vorbeidrängen zu lassen, Auge in Auge fast, um sich selbst dann in Klausur zu begeben? Meiler stellte sich in den mannshohen Ziehharmonikabalg, der immer balgt, stets Wind hat und fortwährend Musik macht, und kam sich vor wie in der Reichsmark-Zeit... Schlangestehen mit Muttern. Klack. BESETZT fällt in den Messingkeller und FREI weist auf eine Erlösung. Eine Dame duftet vorbei. Der Nächste... nein, die Nächste. Meiler ist noch nicht dran. Die Duftende hätte er doch nicht so ansehen dürfen. Klack. BESETZT. Wieso besetzt? Dann müsste es ja eigentlich noch ein Schild geben, für Männer: BESTEHT. Ach nein, das kann auch besetzt heißen, es kommt ganz drauf an. Meiler stand und trat von einem Bein auf das andere. Der Balg der Ziehharmonika schwabbelte hin und her, und die rollenden Räder schlugen stoßenden Takt. Klack. FREI. Die Schlangesteherin schämte sich vorbei. Die Schlangesteherin hätte er auch nicht so ansehen dürfen. Die Brille war noch warm, er fühlte es, als er sie anhob. Schade, dass er sich nicht zu setzen brauchte. Pisste und ließ dann Wasser in das Waschbecken. Mögen weitere Müsser und Müsserinnen draußen warten, keine Rücksicht, er musste es auch, als er musste. Eine warme Brille hinterließ er nicht. Behandelte den Seifenspender nach Vorschrift: Die Klappe einmal rechts herum, und wie aus einer Pfeffermühle der Pfeffer raspelt, so auch die gekörnte Seife. Duftet gut. Schöner Schaum. Papierhandtuch mit DB eingeblaut, kreppig, griffig. Verdammt, doch ein Genuss, so auf der Gangway der Vornehmheit zu balancieren. Ist die Gangway auch schmal und wackelig, Meiler hatte es gewagt. Ja, und diese Gangway führte ihn in den Speisewagen und er riskierte was: wagte sich flüsternd eine Flasche Bier zu bestellen. Die Kellner sind Grafen. Und die Speisewagengäste stinken auch alle nach Vornehmheit. Tranken Sachen, die er nie getrunken, aus Gläsern, die er nie sah. Hier wurden von Hornbrilligen und Maßanzügen Gespräche geführt, die er nie hörte. Von Transaktionen und Projekten, von Aktien und von Haussen und Baissen wurde geredet, aber Trinkgelder bekamen die Kellner nicht. Merkte er sich, Trinkgelder geben ist nicht vornehm. Vielleicht ist Trinkgeldgeben proletisch, weil es wohl so aussieht, als wolle man sich die Gunst der Grafen erkaufen. Merkte er sich, Trinkgeld geben ist nicht vornehm. Man soll den Grafen auch gar nicht erst ein Trinkgeld anbieten, sie könnten sich beleidigt fühlen.
Wieder ein Fernbahnhof. Umsteigeplatz. Die Koffer aus Farbe, Fiber und Pappe schleppten sich von Gleis vier nach Gleis neun. Leichtfüßige Mädchen, hochgehackt, hochtoupiert. Junge Männer, röhrenhosig, cäsarenköpfig. Alte Ehepaare, reisewütig. Arbeiter, Angestellte, eilend, hastend. Heilsarmisten, singend, sammelnd. Bahnbeamte, wichtig tuend, von Fahrplänen und Fahrzeiten, Ankünften und Abfahrten redend. Am neonbewehrten Imbissstand aß Meiler eine Wurst, lauwarm, teuer.
Der nächste Zug, ein Eilzug, ratterte ihn der Küste näher. Warm gedeckte Bauernhäuser. Weiß gedeckte Wiesen. Lichternde Lichter. Weißbesprenkelte Hänge. Kleinstadtbahnhöfe. Dorfstationen. Wiesen und Knicks. Es waren nur vier ganze peoples und Meiler, die um Mitternacht am Endbahnhof aus dem Zuge krabbelten. Der Ost hatte auch hier an der Küste seine Messer geschliffen. Im Wartesaal war es warm und leer. Hier wartete Meiler auf ein Taxi. Der Bierhahn stammte aus dem vorigen Jahrhundert. Eine Biersäule blitzte blank und schnörkelte in grün-weißem Porzellan. War nur eine Attrappe, denn es gab Flaschenbier. Der Wirt sparte mit Licht und sah aus wie ein Hobbyist, Briefmarkensammler, Taubenzüchter oder so. Das Taxi kam. Der Fahrer roch nach Schnaps, er wurde durch Meiler in einer Geburtstagsfeier gestört. Die kleine Stadt schläft. Es schläft auch das Licht. Die Bürger liegen mit ihren Frauen in warmen Betten. Durch die Gassen schneidet der Ost. Da und dort ein Fensterlicht, blank oder hinter Gardinen. Ein krankes Kind? Ein Sterbender? Eine Liebesstunde? Wer weiß!
An der Bunkerstation lag das Schiff. Eine Eisburg. Decklast: Holz. Begossen und emailliert. Glasur des Winters. Eine gefährliche Glasur. Todesschlitten. Auf- und Niedergänge, Relinge, Verschanzungen trugen Eisbärte. Wanten, Antennen, Stagen, Drähte, Tampen, Reeps und Festmacher waren in Eis gepackt, als hätte man sie durch Zuckerguss gezogen. Gleißende, brennende Augen der Bogenlampen. Unheimlich glitzernde, funkelnde Eisburg Schiff. Von der Bunkerstation zum Schiff windet sich durch die Schneewatte eine tiefschwarze Schlauchschlange, eben atmend. Die Eisburg säuft das kalte Blut der Schlange. Vermummte Männer an Deck, fast in Lumpen, über Eisglasspiegel balancierend. Flüche, Geschimpfe. Arschloch. Idiot. Blödmann. Albernes Gelächter. Eine vereiste Leiter sprosst sich an Deck. Die Koffer schaffen es und sind jetzt in einer angemessen Umgebung, passen nun wie ein Maßanzug. Das Schiff frisst Meiler. Der Bierhahn war nur eine Attrappe. Das ganze Leben ist eine Attrappe. Das Schiff, das Holz, das Eis, alles ist nur Attrappe. Alles ist morgen tot, ist morgen nicht mehr. Alles stirbt, ist immer am Sterben. Alles Geborene, Gewordene, Bestehende stirbt schon bei seiner Entstehung... ist Attrappe. Nur die Menschen meinen, sie seien keine Attrappen, keine Schaupackungen. In der Winternacht verschwand das rote Schlusslicht des Taxis, und ihn fraß ein Schiff mit Koffern, mit seinem ganzen Besitz. Meiler wurde von Augenpaaren scharf und hart und schnell gemustert, von Vermummten in Pelz und Pudelmützen, von Gestalten in Lumpen und Latschen. Leise und dünn fragte Meiler, wo wohl der Kapitän anzutreffen sei. Im Salon, wurde ihm geantwortet. Stets schüchtern fragen, niemals aufdringlich, arrogant, anfeindend. Sich selbst ein bisschen schwächlich machen, verkleinern, verleitet den anderen dazu, zu fühlen oder als bereitwilliger Helfer aufzutreten, wenn nicht sogar Mitleid zu empfinden. Im Salon gern etwas forscher auftreten, damit reiht man sich selbst gleich ein. Oh, auf Schiffen kannte Meiler sich aus, da machte ihm niemand etwas vor, das ist anders als an Land oder im Fernzug, ganz bestimmt. Die Tür vom Salon stand auf. In einem Stuhl hing lederjackig und breitschulterig ein Wasserschutzpolizist. Wichtig schrieb der Maklerclerk in seinen Papieren, und der dritte, das war der Kapitän. Meiler klopfte an die offene Tür und trat gleich ein. „Mein Name ist Meiler, Meiler Melchior, ich bin der neue Dritte Ingenieur.“ Der Kapitän stand auf und gab Meiler schnell und hastig die Hand, sagte lispelnd und leise seinen Namen, Rischer oder so ähnlich. Mein Gott, dachte Meiler, ist das eine nervöse Nudel, der Alte. Seine Augen flatterten und flogen wie Kolibriflügel. Die Hände zitterten, wie die eines Berufsonanisten, als der Alte Meilers Seefahrtsbuch entgegennahm. Die üblichen Fragen lispelnd, belanglose Bemerkungen machend: Funker schläft schon! Funker schläft viel! Sprungfederhaft hopste ein Kanarienvogel in seinem Käfig auf und ab. Der Lispeler wandte sich von Meiler ab. Holzauf, holzab hopste der Vogel und piepste. „Ja, mein Murki, jaja... ßoviel Aufregung für dich... gehst gleich ßlafen, nicht? Nicht, mein Murki? Sind ßuviele Menschen hier, nicht, mein Murki? Ja, ja!“ Meiler kam es vor, als bedaure der Alte sich selbst. „Schönes Tier!“ sagte der Polizist und spekulierte auf den nächsten Schnaps. „Ja, ein schöner Vogel“, meinte der Clerk, „singt er auch?“ Der Clerk musste ja auch was sagen. „Und wie!“ sagte der Alte. „Nicht, mein Murki, nicht, du ßingst doch ßön, nicht?“ Scheiß auf deinen Murki, dachte Meiler, sag mir lieber, wie das nun weitergeht. Von Murki zu Meiler. „Melden Szie ßich beim Ersten Ingenieur, er wohnt ein Deck tiefer.“ Erster Ingenieur, wie sich das anhört. Wer schimpft sich bei der Seefahrt nicht alles Ingenieur? Oberhalb der Kammertür sind wohl kleine Schildchen angebracht, beschriftet: I. Ing., II. Ing., III. und IV. Ing. Das steht da wohl, aber sind es auch Ingenieure, die in diesen Kammern wohnen? Selten genug, meistens sind es Seemaschinisten. Das hat der Reeder geschickt gemacht und dabei gut spekuliert, denn welcher Schlossergeselle mit ein oder zwei Semestern Technikumausbildung lässt sich nicht gern als Ingenieur bezeichnen? Gib den Menschen einen Titel und dafür weniger Gehalt.
So, immer dem Geräusch und dem Geruch der Maschine nach, arbeitete sich Meiler mit einem Koffer den steilen Niedergang zum nächsten Deck hinunter. Dort lagen die Ingenieurskammern. Weiß Gott, möglichst kurze Wegstrecke von der Kammer zur Arbeitsstätte, zum Maschinenraum. Das ist auch ein Prinzip. Am liebsten würden die Reeder ja doch sehen, dass das Maschinen-Personal seine Kojen im Maschinenraum aufschlagen würde. Es ist ja auch jammerschade um den vergeudeten Raum für Wohnzwecke, wie gut könnte man noch den Laderaum vergrößern und somit mehr Ladung mitnehmen. Wie würde sich doch der Profit steigern. Motorengeräusche. Dumpfe Wärme. Stickige, verbrauchte Luft kroch durch den Betriebsgang, den Meiler ging, um zur Kammer des „Ersten“ zu gelangen. Die Wände waren verdreckt wie öffentliche Bedürfnisanstalten. Licht, so müde wie Kinderaugen. Meiler meldete sich beim Ersten Ingenieur, an Bord Chief genannt. Vor ihm stand ein kleines mickeriges Männchen, Meiler überragte es um einen Kopf. Hängeschultrig, hornbebrillt. Seine starken Augenbrauen tanzten über den dicken Brillengläsern einen Boogie, und die Hände spielten fingerig mit einem verschmierten Putzlappen. Meiler stand groß und breit in der Tür. „Ihre Kammer ist drüben auf der Backbordseite. Ziehen sie sich man gleich um, Sie müssen gleich auf Wache, der Zweite Ingenieur ist besoffen!“ Er sagte tatsächlich Zweiter Ingenieur. Nette Aussichten für Meiler, gleich Wache zu gehen, also mit dem Schlafen schon Scheiße. Ja, klein war der Chief, so klein. Klein geworden durch den Maschinenlärm. Kleingemacht durch die Aufregungen und die Arbeit. Kleingehalten durch die vitaminarme Kost. Konserven. Konserven... Futterkartoffeln abzugeben, an Mästereien und Reedereien. Für Schiffsgebrauch noch gut genug. Kleingehalten durch den Kapitän: ...dann muss ich das der Reederei berichten… Kleingehalten durch die Reedereischreiben: ...uns ist es unverständlich, dass Sie... und so weiter. Besonders klein gehalten durch die Drohungen der Handlanger des Reeders: ... und wenn es Ihr Gesundheitszustand nicht zulässt, dann tut es uns leid, dann müssen Sie… und so weiter. Klein wird er immer bleiben, der Chief. Und nach seiner Pensionierung noch kleiner werden, soweit ihm die Reederei einen kleinen Zuschuss zu seiner Rente gibt. So wird er weiter kriechen bis zu seinem Ende vor dem Reeder und seinen Handlangern. Weiterkriechen, bis er ganz klein in seiner Holzkiste liegt. Ein Beileidsschreiben an die Witwe, und der Zuschuss hört auf. Nach seiner Pensionierung werden ihm die Angst und der Respekt vor dem Reeder und seinen Handlangern bis an sein Lebensende in den Knochen liegen. Er wird immer vor den Handlangern und von den Handlangern in devoter Unterwürfigkeit sprechen. Er weiß auch, dass der Stift, der Lehrling im Reedereikontor, einen längeren Arm hat als er. Was hat der Chief von seinem Leben, insbesondere von seiner Familie eigentlich gehabt? Nichts. Aber er hat des Reeders Besitz vermehrt… und dass der Reeder mehr Schiffe bauen konnte. Er hat auf sein Familienleben verzichten müssen, er sah seine Kinder kaum, denn in einem Hafen, wo die Maschinenreparaturen anfallen, Besprechungen mit den Inspektoren nötig sind, hat er Bestellungen von Gasöl und Schmieröl, von Ersatzteilen, Werkzeugen, Farben, Pinseln und was so eine Maschinenanlage alles an Kleinkram für eine Reise benötigt, aufzugeben und in Empfang zu nehmen. Zumindest aber dafür verantwortlich zu zeichnen. Denn er soll damit fahren, er soll damit arbeiten, und ihn fasst man ans Maul, wenn draußen auf See oder in einem überseeischen Hafen etwas fehlt oder vergessen wurde und teuer eingekauft werden muss... uns ist es unverständlich... Und seine Frau sitzt in der Kammer und sieht ihren Mann nur zu den Mahlzeiten, manchmal auch dann nicht mal. Und sie liest und handarbeitet und macht sich Sorgen um die Kinder, die vielleicht bei einer Nachbarin untergebracht sind. Sie liest und handarbeitet, und das macht sie unter anderem zu Hause auch. Aber hier hat sie doch ihren Mann: Hat sie ihn? Ja, sie hat ihn, er ist gar nicht so weit von ihr entfernt, ach was, so weit wirklich nicht... nur unten in der Maschine kraucht er herum, verschmiert und verschwitzt und verärgert. Und setzt er sich einmal ein paar Minuten zu ihr, dann wird auch sie ihre Sorgen nicht los, denn er hört gar nicht zu. Kann sich einfach nicht in ihre Gedankengänge hineinfinden, tritt nicht in ihren Kreis. Hat nur seinen Kreis, das Schiff und die Maschinenanlage. Hat seine Besprechungen mit Werftingenieuren und Bunkerfritzen, mit Inspektoren oder sonstigen Heinis... und die Frau sitzt dabei und liest oder handarbeitet und wünscht jeden Türenklopfer und Besprecher zum Teufel. Und kommt der Abend... Herrgott, ist das ein Abend... wunderschöner Abend. Nun sollte ja eigentlich das Eheleben beginnen, so ist es doch wohl, nicht? Aber wie kläglich sieht das aus, wie traurig. Dann raffen sie sich zu einem hysterischen Geschlechtsakt auf, ohne Freude, ohne seelische und manchmal sogar ohne besondere körperliche Vorbereitung. Müde und abgespannt fällt er dann in die Kissen zurück und schläft, und die Frau liegt wach. Hellwach. Ach ja, das wollte ich ihm auch noch sagen, mit dem Ältesten, das geht nicht mehr, der wird so frech, und die Zensuren in der Schule lassen nach. Da müsste doch was unternommen werden. Aber was unternehmen, was? Und das wollte die Frau auch noch sagen, dass es mit der Kleinen gesundheitlich gar nicht mehr geht, dass sie sich fortwährend erbricht und über Schmerzen im Rücken klagt und dass kein Arzt weiß, was es ist, aber sie beobachten oder sie zur weiteren Beobachtung in eine Kinderklinik überweisen will. Dass es Oma auch nicht gut geht und dass sie wohl nicht mehr lange mitmacht und dass die Frau sie pflegen muss. All das wollte die Frau noch sagen. Ach, das kann ich ihm auch morgen sagen und fällt dann in einen unruhigen Schlaf. Wird wieder aufgescheucht durch Gegröle und Gesinge und Weiberkreischen, und durch die Gänge geht eine wilde Jagd, werden schweinische Witze gerissen. Die Mannschaft oder sonst wer kommt von Land zurück und hat sich Dockschwalben und Schluckeulen und Pissnelken auf die Hörner geladen... vielleicht auch in drei Tagen einen Tripper. Ja, das kann ich ihm alles morgen sagen, morgen ist es dann wohl etwas ruhiger. Denkste. Morgen ist es genauso. Morgen ist es nicht ein Tüttelchen anders. Gewiss, da unten in der Maschine läuft das jetzt, die Hilfsdiesel und die Arbeit, aber dann kommt was anderes. Kommt ein Ingenieurassistent und möchte einen freien Tag. Kaum ist der aus der Tür, will ein anderer abmustern. Bei dem oder dem Reiniger stimmen die Überstunden nicht, der andere will zum Arzt. So ist das ein Klopfen und Kommen und Gehen und Klopfen. Was wollte die Frau nicht noch alles sagen? Vieles, vieles wollte sie sagen. Aber was sagt sie denn? Nichts! Nichts sagt sie, jedenfalls nichts zu Ende. Ja, Meiler weiß das alles, kennt den Laden und auch die Leute. Aber scheißegal, hier ist es wenigstens warm, und hier ist es nicht vornehm, hier kann man auch getrost mit einer Zeitung rascheln. Hier gibt es keine Bügelfalten und keine schweinsledernen Koffer. Hier müssen die Sinne wach und die Nerven gespannt sein. Hier kommt man nicht zum Denken, vorläufig jedenfalls nicht, über das einsame Mädchen auf dem Bahnsteig. Los, los, ran, und stell dich nicht so an, du kennst den Laden doch, bist doch kein Seekalb. Tu doch nicht so, als wäre es auf anderen Schiffen anders. Ein Kanarienvogelkapitän, ein gnomiger, kleingemachter und klein gehaltener Chief können dich noch lange nicht aus den Latschen kippen. Hoh, hoh. Ja, ja... aber wenn das Mädchen auf dem Bahnsteig nicht wäre. Ach, geht auch vorbei, legt sich alles, lass nur erst einige Tage vergehen, gewöhne dich man erst mal ein, sollst sehen... wird alles seinen Gang gehen. Kannst dich nur nicht vom süßen Leben an Land trennen, von warmen Betten und weichen Brüsten. Legt sich alles, verlass dich drauf. In der Matrosenmesse, an der er vorbei musste, stand das Lied vom Mädchen fürs Geld genauso fest wie der Rauch und der Schnapsdunst. Des Reeders Leibeigene feiern. Und sie dürfen feiern und sie können es auch. Der Schnaps ist billig, und Schnaps bekommen sie, Schnaps betäubt und trübt die Sinne. Denn der Seemann darf nicht denken, sonst könnte er vielleicht den hellen Gedanken haben, doch lieber an Land zu bleiben. Bis zu seiner Kammer nahm Melchior Meiler noch eine Hürde.
Backbordgang standen drei lederjackige Wasserschutzpolizisten vor der verschlossenen Kammertür des Kochs und forderten, der Koch solle die Tür öffnen. Spitz und grell schrie ein Kind. Zeterte eine Frau. Fluchte ein Mann. Zersplitterte die Füllung einer Tür... Polizeistiefel sind benagelt. Bierflaschen rollten, liefen schäumend leer. Schlachtermesser scheppern an Deck. Faustschläge. Schreie. Der Koch wurde verhaftet. Schreie, Faustschläge. Das Kind in der Koje. Die Frau mit offenen Haaren und Bluse. Eine junge Frau. Du Schwein. Du Hund. Knips machte die stählerne „Acht“, einfach knips, hässlich knips und ab. Jetzt brauchte der Koch für sich und seine Familie vorerst nicht zu sorgen. Er schrie nach seiner Frau, nach seinem Kind. Trat, schimpfte, fluchte, spuckte. Die Frau gebärdete sich wie eine Furie. Die Frau lag eine Stunde später mit einem Matrosen im Bett und machte eine Nummer. Das Kind spielte auf dem Sofa. Es war mal wieder ganz nett bei der christlichen Seefahrt. Die nächste Hürde. So schnell frisst ein Schiff nun auch nicht. III. Ingenieur. Das kleine weiße Kunststoffschild oberhalb der nächsten Kammertür, das mit den schwarzen Buchstaben III. Ingenieur, bat Meiler, doch hier einzutreten. Deckenlampe. Weißes Licht. Ein Tisch und auf durchgefettetem Zeitungspapier ein zerfetzter Bückling. Kopf halbiert, die Kiemen wie verrostete Zahnräder. Boulevardzeitungsruf: Kugel im Kopf und nichts gemerkt. Sofa, in die Ecke gehauen, gelbinselig gefleckt. Zwei Bullaugen. Blind. Grünspan. Matratzen auf der Koje boten Seegras feil. Waschbecken vollgekotzt. Bücklingsreste, einmal runter, einmal rauf und raus. Zwei Wasserhähne, für Kalt- und Warmwasser, ausgerichtet wie zwei preußische Grenadiere. Welcher Komfort. Unter dem Tisch ein Mann. Hose und Träger. Perlonhemd. Der Mann schlief und war besoffen. Und draußen, außerhalb des Raumes, oberhalb der Tür ein kleines Kunststoffschild mit schwarzen Buchstaben: III. Ingenieur. Die Matrosen sangen: „Denn es kann ja nichts Schöneres geben, als in Hamburg ein Mädchen fürs Geld.“ Eine „Kugel“ rollte sich in die Kammer, eine „Kugel“ in einem verdreckten Overall, sie wurde von Meilers Koffer gestoppt. „Wer sind Sie denn? ... Ach so... Sie... Sie sind der neue Dritte, nich? ... Ich... sehen Sie mich an, ... ich bin der Zweite Ingenieur hier... oder haben Sie was dagegen?“ „Nö“, sagte Meiler, „aber es kommt drauf an und kann noch kommen.“ „So?... Das sehen wir dann schon... aber erst sehn Sie man zu, dass Sie den da hochkriegen... der muss von Bord… kann ja nix vertragen… das Arschloch. Ach, lass man, mach ich!“ Fußtritte halfen, dass das Bündel sich an Tischkante und Zeitung hochhantelte. Das Bündel lehnte sich an die Kugel und den Tisch, sie rissen die Zeitung mit dem Bückling zu Boden, sie küssten sich, sie zertraten und zerstampften den Bückling. Nun war Melchior Meiler vom Schiff verschlungen.