Kitabı oku: «Das verschwundene Grab der Manns»

Yazı tipi:

Heiner Welter

Das verschwundene

Grab der Manns

Roman


Den großen Frauen meines bescheidenen Lebens:

Barbara, Elfi und Gabi.

In alphabetischer Reihenfolge,

steter Liebe und großer Dankbarkeit.

Heiner Welter, Jahrgang 1948, Studium der Medizin, Literatur- und Theaterwissenschaften 1968 – 75 an der Universität Köln. Nach medizinischem Staatsexamen und Promotion Ausbildung zum Chirurgen an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU): dort Habilitation 1986, Professur 1994. Seit 1989 als Chirurg in leitenden Positionen tätig. 1993 – 98 Studium der Neueren und Bayerischen Geschichte (W. Ziegler) an der LMU. Verheiratet seit 1977 mit der Literatuwissenschaftlerin, Theologin und Radiologin Dr. Gabriele Conradi. Kinder Julia, Frederic und Benjamin. Lebt in Krailling. Autor zahlreicher medizinische Publikationen, Buchbeiträge und Ausbildungsfilme.

1. Der magische Park

Schon vor Wochen wollte ich eine neue Lesebrille in Auftrag geben. Seither trug ich das Rezept des Augenarztes ständig in meiner Brieftasche und ärgerte mich täglich über die nachlassende Sehkraft. Gleichwohl fehlte mir der Antrieb etwas dagegen zu unternehmen. Heute nun, nachdem mir schon bei der morgendlichen Zeitungslektüre die Arme wiederum nicht lang genug erschienen um scharf lesen zu können, plante ich endlich Abhilfe zu schaffen.

Da ich wieder einmal, was meine Arbeit mir nur selten erlaubte, mittags zu Hause essen wollte, war ich zu ungewohnter Zeit mit meinem altersschwachen Wagen auf der großen Ausfallstraße unterwegs. Das Reklameschild eines Optikers nahm ich erst kurz vor einer großen Kreuzung wahr, nachdem mich eine Ampel zum Halten gezwungen hatte. Eine Parklücke bot sich an. Schnell hatte ich das Fahrzeug abgestellt und hastete über die Straße. Doch auf dem Weg zum Optiker sah ich rechts von mir, wie ein ersehnter Rastplatz, die ersten Bäume des Waldfriedhofs, der dem umliegenden Viertel seinen Namen leiht.

Urplötzlich verspürte ich, ohne dass ich eine plausible Erklärung wusste, einen unausweichlichen Zwang diesen Ort, den ich seit Jahren nicht mehr betreten hatte, sofort aufzusuchen. Lockten mich die zahlreichen Prominenten, die hier ihre Ruhe gefunden hatten: von Stuck, Krone, Junkers, Kortner, Fritz Wunderlich, Michael Ende und fast alle bayerischen Ministerpräsidenten? Jeder Totenkult lag mir fern, aber in mir stiegen Erinnerungen an zahlreiche Beerdigungen auf, die ich gerade hier erlebt hatte, mit einem immer gleichen Herzklopfen, für das ich keine Erklärung fand.

Meine Gedanken wanderten zurück: Allzu gegenwärtig war mir noch jener bitterkalte Januartag des Jahres 1984, an dem der mächtige, alte Chirurg Zinkler in Gegenwart einer großen Zahl seiner Schüler zu Grabe getragen wurde. In neuen, aber zu engen Haferlschuhen fror ich von der ersten bis zur letzten Minute dieser würdevollen Beisetzung, noch schlimmer aber auf dem Rückweg, der sich ungewöhnlich dehnte. Ich verlief mich in diesem Irrgarten, dem aus meiner Sicht hilfreiche gradlinig-geometrische Strukturen fehlen. Noch vor Ende der Kondolenz-Zeremonie war ich aufgebrochen, vielleicht auch um der Schar der meist eitlen Günstlinge Zinklers auszuweichen, die selbst noch dieses Ereignis nutzten, um sich wichtigtuerisch und stets nach allen Seiten lächelnd zu präsentieren.

Der Alte hatte in alttestamentarischer Herrlichkeit über Karrieren entschieden; manchmal war es nur ein Zucken seiner rechten Augenbraue, das sein Urteil widerspiegelte. Beteiligte aber verstanden sofort und beugten sich seinem Willen.

Aber es gab noch einen weiteren Grund früher als üblich aufzubrechen. An diesem Tag stand im Pathologischen Institut eine Sitzung an, die ich keinesfalls versäumen durfte, so oft ich auch von Universitätskarrieren in anderen Instituten oder Kliniken träumte. So beschleunigte ich meine Schritte, erreichte aber erst nach einem ermüdenden Umweg das große Eingangsportal.

So intensiv es mich seinerzeit an meinen Arbeitsplatz zurückgezogen hatte, so mächtig war heute nun meine Sehnsucht, diesen Ort wieder einmal aufzusuchen. Die neue Brille erschien mir plötzlich unwichtig, das hatte Zeit bis zur nächsten Woche.

So erreichte ich das Friedhofsportal, dessen beide Begrenzungen wuchtige Säulen darstellen, auf denen je eine Sphinx thront, jeweils eine der anderen zugewandt. Kaum wollte ich diesem Einlass zur Insel der Toten einen kurzen Blick schenken, scheuchte mich ein rasch einfahrender silbergrauer Leichenwagen von der Einfahrt zurück. Erst recht erschrak ich, als gleich hinter ihm ein zweiter erschien. Ich erinnerte mich an meine frühe Ausbildungszeit in Pathologie und Gerichtsmedizin. Damals nämlich standen sie, noch im bewährten Schwarz, in großer Zahl im Hinterhof des Instituts, wo sich die Gerüche einer benachbarten Essigfabrik mit denen der Sektionssäle mischten.

Oft wurden Opfer von Massenunfällen oder Familientragödien angeliefert oder abgeholt, deren Sterben und Tod am nächsten Tag die Boulevardpresse vermarktete. So erschüttert mich noch heute die Geschichte jener Kollegin, die nach dem Unfalltod des Ehemannes in Depressionen verfiel und schließlich ihre beiden Töchter und dann sich selbst mit Narkotika tötete. Immer noch sehe ich vor mir die sterblichen Überreste der beiden Buben, die in Giesing auf den Schienen stehend einen vorbeirasenden Zug anstarrten, den Gegenzug auf dem eigenen Gleis aber nicht bemerkten. Ein stark verschuldeter Familienvater sah keinen Ausweg mehr und tötete seine sechsköpfige Familie mit einem Schlachtermesser, das er anschließend sich selbst in die Brust rammte.

Vor diesen Familientragödien verblassten die Einzelschicksale, sofern es sich nicht um Prominente wie die verunglückte Frau eines bayerischen Ministerpräsidenten, den Selbstmord der verlassenen Freundin eines bekannten Fernsehmoderators oder die „Zweitsektion“ von Hitlers Stellvertreter handelte. Nicht ohne Vergnügen las ich Jahre später das Buch unseres legendären Rechtsmediziners und Dauer-Dekans „Kalte Chirurgie“. Wie er sah ich damals meine beruflichen Ambitionen im Spannungsfeld zwischen Rechtsmedizin und Chirurgie, zwischen kalter und messerscharfer Chirurgie.

Wie viele waren wohl seit der Eröffnung des Friedhofs im Jahre 1907 über diesen Weg leblos transportiert oder manchmal, dachte ich, einfach entsorgt worden? Letzteres schon deshalb, weil die „Ruhefristen“ immer kürzer wurden. Der gut durchlüftete, lockere Boden des Waldfriedhofs erlaubte ein schnelles Verwesen der Verstorbenen Das hatte mir erst kürzlich sein neuer Direktor erklärt. Zehn Jahre Ruhezeit seien da schon großzügig bemessen, wurde mir versichert.

Unweigerlich musste ich dabei auch an meinen Freund Franz denken, der auf einem harmlosen Bergpfad an der Rotwand gestürzt und zu Tode gekommen war. Leider erfuhr ich zu spät von diesem Unglück und versäumte so seine Beisetzung. Ja, jetzt wurde es mir klarer: Eben dieses Grab musste ich sogleich besuchen, seiner gedenken, der auch meiner Frau Gertraud schon in Studienzeiten nahegestanden war.

Vor dem rechten Pfosten des Portals verdeutlichte mir eine angegraute Ansammlung von Schnee, der mit Splitt, Papierfetzen und Blättern des letzten Herbstes durchsetzt war, dass die Wärme dieses Tages nur ein Vorbote des Frühlings war. Noch war der unfreundliche Winter der Großstadt nicht überwunden.

Nach wenigen Schritten auf dem breiten Hauptweg des Friedhofs blickte ich wie geblendet zum strahlend blauen Himmel hinauf. Das war der von mir so geliebte erste Föhnwind, der nicht selten ein schmerzhaft grelles Licht verbreitet und den Kopf mit eiserner Zwinge umfasst, um so einen dumpf dröhnenden, manchmal auch bohrenden Schmerz auszulösen.

Für mich war das gut erträglich, da der bevorstehende Frühling in mir eine wohltuende Hoffnung auf längere und wärmere Tage und damit auf mehr Lebensfreude weckte. Der Winter blieb für mich immer eine Zeit des Todes, der Frühling brachte mir Hoffnung auf neues Leben. Noch aber waren wir nicht so weit: Zu sehr lag der ausklingende, lange Winter über der noch weitgehend schlafenden Natur. Ein paar Föhntage würden kaum ausreichen, das Eis auf meinen Laufwegen des Kreuzlinger Forstes zu schmelzen. Zwar waren die wenigen Schneeglöckchen, die ich in diesem Jahr schon gesehen hatte, schon verwelkt oder gebrochen, aber sie standen auch an begünstigten, von der Sonne bevorzugt erwärmten Stellen.

In der Tiefe dieses Totenwaldes aber hielten sich herbstliche Feuchtigkeit und winterliche Kälte bisweilen noch bis in den späten Mai. Nicht einmal Gertrauds Onkel Pepperl besuchte dann diesen Ort. Im Sommer aber konnte er halbe Tage hier ausharren und sich mit seinen zweiundachtzig Jahren als Sieger über die Verblichenen feiern. Onkel Pepperl nämlich ging dann von Grab zu Grab, errechnete das Alter der Toten und glich es mit dem eigenen ab. Nicht selten strahlte er dabei über das ganze Gesicht und nickte zustimmend, empfand sich als Triumphator im Wettkampf ums Überleben. Vor Jahren hatte er mich, noch während meiner Besuche in den Semesterferien, einige Male mitgenommen und sprach dann offen mit mir über seine Vorlieben und Obsessionen angesichts des massenhaft dargebotenen Todes. Wir standen uns sehr nahe, sonst hätte er sich wahrscheinlich nicht in dieser Weise geöffnet.

Doch – entgegen allen Unterstellungen – war ich es wirklich nicht gewesen, der im Familienkreise über Onkel Pepperls Friedhofsbesuche geplaudert hatte. Dennoch kamen sie auf und provozierten so manche spöttische Bemerkung. Dies verletzte mich sehr, denn Onkel Pepperl bedeutete mir viel, nicht nur wegen seiner Liebe zum Totenreich. Nun dauerte es wohl Monate, bis der Onkel wieder Vertrauen zu mir aufbaute.

Diese Vorliebe für Friedhofsbesuche teilte in meiner Familie niemand. Man war mehr dem Leben und seinen Festen zugewandt. Dies wurde mir schon in jungen Jahren bewusst, als ich noch in einer rheinischen Kleinstadt zu Hause war und dort im Laufe der Jahre eine Vielzahl von Beerdigungen miterlebte. Weder Mutter noch Großmutter wurde es zu viel, allen diesen Einladungen nachzukommen. Selbst flüchtige Bekannte wollte man mit zu Grabe tragen. Aber es ging dabei – das wurde mir früh bewusst – weniger um das Aussegnungsritual und die eigentliche Bestattung als um die anschließende Leichenfeier. Wie selbstverständlich wurde auch ich, etwa vom sechsten Lebensjahr an, in diese Festivitäten einbezogen. Als etwas anderes habe ich diese Beerdigungen nämlich nie empfunden.

2. Erstes Erleben des Todes

So verstand ich das Sterben immer nur als einen Teil des Lebens, wenn auch den Endteil, das Finale. Für mich war es deshalb auch selbstverständlich, unseren Sohn Benno zur Beerdigung seines Großvaters mitzunehmen. Das aber führte zu einem heftigen Disput mit Gertraud. Zunächst nahm sie meine Entscheidung scheinbar hin, einige Tage später aber folgten Vorhaltungen: Der Sechsjährige sei durch das Verschwinden des Sarges in des Grabes Tiefe psychisch belastet worden. Er schlafe derzeit schlecht. Und dies sei natürlich meine Schuld, die des gefühllosen Vaters. Es dauerte Wochen, bis Gertraud von dem Thema abließ. Benno erschien mir hingegen völlig unauffällig, abgesehen von der Tatsache, dass er eines Tages unserem sanftmütigen Hund Julius ins rechte Ohr biss.

Nach dieser düsteren Erfahrung von Benno, die sich am Wohnort des Großvaters im Rheinland abgespielt hatte, schilderte ich ihm häufig meine einprägsamen Erlebnisse in dieser Region. Zu gerne erinnerte ich mich an meine Kindheit dort und dabei besonders an die große Gaststätte meines Onkels Hermann Ohnesorge in Kölns Innenstadt. Abend für Abend stellte er den umschwärmten Mittelpunkt seiner illustren Gäste dar. Dort sang ich schon als Achtjähriger mit Stammgästen wie Werner Höfer oder Hennes Weisweiler Karnevalslieder, und das nicht nur am Rosenmontag, wenn nämlich regelmäßig der Karnevalszug an unserm Hause vorbeizog. Wir konnten dann wählen, ob wir vom sechsten Stockwerk aus den besseren Überblick genießen oder aber im Erdgeschoss Bonbons und Pralinen fangen wollten. Die Erwachsenen feierten in geschlossener Gesellschaft ganze Tage hindurch, ich selbst suchte mir immer mal wieder eine ruhige Ecke zum kurzen Zwischenschlaf. Aufgewacht erhielt ich neben alkoholfreien Getränken nicht selten meine Lieblingsspeise, ein übergroßes Eisbein mit Sauerkraut und Kartoffelpüree. Die Erwachsenen aber sangen, während das Bier bis zum Aschermittwoch in Strömen floss. An diesem Tag tauchte dann auch mein Großvater Friedrich wieder auf, der meist zwischenzeitlich den Anschluss an seine Familie verloren hatte. Das geschah zumindest alle zwei bis drei Jahre in der Karnevalszeit.

Einige Jahre später – die Großeltern waren allesamt verstorben und das Studium hatte mich nach einer freudlosen Gymnasialzeit in einer Klosterschule des kargen Westerwaldes ins Rheinland zurückgeführt – verbrachte ich in Onkel Hermanns Gaststätte einen zunächst recht lustigen Abend. Plötzlich jedoch sprach der Onkel von seinem bevorstehenden Ende. Es sei genug, er habe von diesem ganzen Leben die Nase voll, nun sei wirklich bald Schluss. Aber man solle bei seiner Beerdigung nur recht ausgelassen feiern, viel essen und trinken und keinen noch so harten Witz auslassen.

So hatte ich den lebenslustigen, wohlbeleibten Onkel bisher noch nie erlebt. Auch die Freunde am Stammtisch schüttelten verständnislos den Kopf und schoben ihre Biergläser zur Tischmitte, gleichsam als wollten sie den Umtrunk beenden. Nein, das durfte sein Ernst nicht sein, so könne er weder denken noch handeln.

Das konnte doch nur eine Stimmungsschwankung sein. Oder wollte er sich uns einmal ganz anders denn als Unterhalter präsentieren? War es vielleicht eine Altersdepression oder wollte er uns nur erschrecken? Den Anwesenden glückte es jedoch schnell, ihn wieder auf andere Gedanken zu bringen: „Hermann, die nächste Runde! An deinem Achtzigsten laden wir das ganze Freudenhaus hierhin ein. Dann lassen wir es hier so richtig krachen!“

„Na, ob ich das wohl noch erlebe? Gut, aber was soll’s! Heute trinke ich euch alle erst einmal unter den Tisch!“ Onkel Hermann lachte wieder so, wie wir ihn alle kannten. Bereits eine Stunde später verließ ich die Runde, da eine Anatomie-Prüfung bevorstand und meine Wissensdefizite mir nicht verborgen geblieben waren. Onkel Hermann verabschiedete mich ausgelassen und prophezeite mir eine große Zukunft als „Damenschneider“. Verlegen lächelnd eilte ich nach Hause, um mein lückenhaftes Anatomiewissen aufzubessern.

Etwa sechs Wochen später, an diesen letzten Abend in seiner Gaststätte erinnerte ich mich nur noch unscharf, berichtete mir meine Mutter von Onkel Hermanns Tod. Es hatten sich wirtschaftliche Schwierigkeiten entwickelt, der Pachtvertrag seines Lokals sollte nicht mehr verlängert werden. In dieser Situation hatte er sich erhängt. Im Wohnraum im sechsten Stock über seiner Gaststätte, von dessen Balkon aus wir Jahr für Jahr den Rosenmontagszug beobachtet hatten, hing er in seinen letzten Minuten an einer robusten Deckenlampe. Aber, so betonte meine Mutter eindringlich, ich solle keinesfalls über diesen Selbstmord sprechen, mit niemandem natürlich ... Dies gab sie mir mit auf den Weg. Erst bei Onkel Hermanns Beerdigung erfuhr ich, dass sein Schwager Andreas Jahre zuvor in Panik vor einer eingebildeten Krebserkrankung denselben, vermeintlich unausweichlichen Ausweg gewählt hatte.

Aber auch bei diesem, wie bei jedem früheren, Leichenschmaus sprach man nur kurz über den Tod und frühere Todesfälle. Sehr schnell fand man ins pralle rheinische Leben zurück, schrie nach Bier und Braten, verriet, welcher brave Ehemann aus dem näheren Biotop derzeit welche Nachbarin vögele, und sang bald darauf wieder die Lieblingshymne der Kegelbrüder: „Nach der Tagesschau, nach der Tagesschau, geht es wieder auf die Frau ...“

Wieder Jahre später, wie ich hatten mehrere jüngere Mitglieder der weiteren Familie der Sehnsucht nach dem Süden nachgegeben und sich dort niedergelassen, empfand ich Beisetzungen im bayerischen Oberland ähnlich lebensfroh: Frisches, kühles Weißbier, dampfende Knödel und saftiger Schweinsbraten ließen kaum länger andauernde Trauer zu. Gerade auf dem Lande werden Leben und Sterben seit jeher als zusammengehörig gesehen und als Alltäglichkeit erlebt, obwohl der Kranke auch hier immer häufiger zum Sterben ins Krankenhaus verbannt wird. Jedenfalls ließ man nach der Beisetzung sehr schnell den verstorbenen Sepp oder Toni hochleben und prostete sich permanent zu, bis schließlich eine bleierne Biermüdigkeit um sich griff. So war ich bei einem Anlass dieser Art schließlich hinter einer Gartenbank eingeschlafen, bevor mich Gertraud übel gestimmt weckte und zum Aufbruch mahnte.

3. Letzte Ruhe im Waldfriedhof

Noch bei diesen Gedanken verweilend schreckte ich hoch, da nicht weit von mir eine unangenehm helle, grell klingende Glocke die Friedhofsruhe zerschnitt. Ja, das genau war jene Glocke, die mir schon bei Zinklers Beisetzung so störend aufgefallen war. Selbst die wie immer konspirativ beieinanderstehenden Schüler fuhren damals zusammen und bemühten sich, schnell die Aussegnungshalle zu erreichen.

Worüber mochten sie gesprochen haben? Wer von den eigenen Schülern den nächsten vakanten Lehrstuhl erhalten solle oder etwa über die derzeit besten Anlagemöglichkeiten für ihr Geld? Wo sollte es hingebracht werden: in die Schweiz, nach Liechtenstein, San Marino oder Übersee?

Oder hatten sie etwa über ihre Freundinnen gesprochen, über deren Vorlieben und Besonderheiten? Zutrauen konnte man ihnen solche Gespräche auch unter den Arkaden der Aussegnungshalle.

Die Zinkler’sche Klinik erfolgreich zu durchlaufen, galt als harte Männerschule. Ordinarius konnte nur werden, so lautete jedenfalls das Gerücht, wer innerhalb der Klinikmauern mindestens ein uneheliches Kind gezeugt hatte. Entsprechend mühte man sich.

Nun aber, nach dem Ruf der Glocke, versammelten sie sich schnell vor dem Sarg des Verstorbenen, den ich noch unmittelbar nach seinem Tode in einem Ambulanzraum seiner alten Klinik aufgebahrt gesehen hatte. Er war nämlich nicht weit von seiner alten Arbeitsstätte, mitten auf dem Sendlinger-Tor-Platz, tot zusammengebrochen. Die Notärztin versuchte vergeblich ihn zu reanimieren: Sie wusste nicht um seine Grunderkrankung, die eine erfolgreiche Wiederbelebung ausschloss. Schwestern unserer Ambulanz hatten ihm den damals üblichen Kopfverband angelegt, der das Herunterfallen des Unterkiefers verhindert. So wirkte er auch im Tode würdevoll, ganz so wie wir ihn gekannt hatten.

Orgelmusik – Reden hatte sich der Verstorbene verbeten – begleitete die kurze Trauerfeier, bevor der Sarg auf einen Wagen gestellt und nach draußen auf den hart gefrorenen und mit Schnee bedeckten Weg gezogen wurde. Nun sprach niemand mehr, während unter den festen Winterschuhen der eisige Untergrund knirschte. Jeder schien in Gedanken fern vom eigentlichen Geschehen zu sein. Mir selbst ging es nicht anders; erst als der lange Trauerzug anhielt, blickte ich mich um. Von früheren Besuchen her erkannte ich, dass wir uns in der Nähe der Gräber zweier Literaten, denen ich mich lange schon verbunden fühlte, befinden mussten.

In diesem Gräberfeld war 1920 auch Lena Christ beigesetzt worden, die, nachdem sie wegen des Verkaufs eines gefälschten Bildes vor Gericht geladen worden war, hier im Waldfriedhof am 31.06.1920 – einem Tag, den es nie gegeben hatte – mit Gift vor ihrem zukünftigen Grab, in dem schon der Stiefvater ruhte, Selbstmord begangen hatte.

Nicht weit entfernt befand sich auch das Grab Frank Wedekinds, der 1918 an den Folgen einer Blinddarmoperation gestorben war. In früheren Jahren war ich immer wieder tief beeindruckt vor dieser Grabsäule gestanden, auf der ein Pegasus siegreich über den Tod zu reiten schien.

Diesen Gedanken hing ich noch nach, als mir plötzlich klar wurde: Ich hatte die Aussegnungshalle nun schon mindestens zweimal umrundet. Weshalb war ich nicht weiter in den Waldfriedhof hineingegangen? War ich in Trance? Ja, schoss es mir plötzlich durch den Kopf, auch Baron von Schrenck-Notzing war 1929 hier begraben worden, von dessen Hypnosesitzungen auch Thomas Mann so tief beeindruckt war und die man in erhaltenen Kurzfilmen sehen kann.

Die Bilder vom Januar 1984 ließen sich jedoch einfach nicht aus meinem Gehirn verdrängen. Immer wieder sah ich die Karrieristen vor mir, die mein Freund Franz-Xaver Stutz zu vorgerückter Stunde als Olympioniken der Wissenschaft zu bezeichnen pflegte. Auch er glaubte lange, nur im ärztlichen Beruf volle Erfüllung in medizinischen und wissenschaftlichen Belangen zu finden. Persönlicher Ehrgeiz sollte ebenso befriedigt werden wie das Bedürfnis zu helfen und zu heilen. Nun diskutierten wir oft die Frage, ob wir nicht unser Leben mit übergroßen und falschen Zielen überlastet hätten. Waren nicht diese Fachkollegen klüger aufgestellt, die sich bedingungslos einem mächtigen Chef unterworfen hatten und ihm in Kadavergehorsam gefolgt waren? Franz-Xaver sprach immer wieder von der Unmenschlichkeit der Fachidioten, die unsere Universitäten in großer Zahl bevölkern. War es aber nicht doch vernünftiger sich anzupassen und ganz nach jenem Bild zu leben, das die namhaften Chefs vorgaben? Wie war das noch mit dem Eid des Hippokrates? Mussten wir nicht unsere Lehrer verehren, von ihnen lernen und ihrem Vorbild folgen?

Auch mich hatten die großen Entwicklungen der Wissenschaften, besonders der Chirurgie und Transplantationsmedizin, in der Zeit um 1967 begeistert.

Aber, da ich mich allmählich zwischen Klinik und Wissenschaft eingepfercht fühlte, begab ich mich seit Jahren zunehmend auf Distanz zur gelebten Universitätsmedizin. Die offensichtliche Skrupellosigkeit gegenüber Patienten und Kollegen, verbunden mit einer grenzenlosen Geld- und Machtgier der leitenden Ärzte, nahmen mir die Ideale und Illusionen der frühen Assistentenjahre. War es bis vor wenigen Jahren noch ausschließlich Fachliteratur gewesen, so las ich inzwischen – sieht man einmal von wenigen Ausnahmen ab – nur noch Belletristisches.

Ausgangspunkt meiner persönlichen Literatur-Exkursionen war dabei Thomas Manns Novelle „Tonio Kröger“, die ich während der Pubertät mit Begeisterung gelesen hatte, da ich in ihr die Einsamkeit und Verlassenheit erlebte, die auch ich in dieser Lebenssituation empfand. So sehe ich in mir einen Hans Hansen, der aber anders lebt und reagiert, als sich der Dichter diese Person vorstellte. Der pseudointellektuelle Tonio bleibt mir dagegen völlig fremd. Mit den aufgezeigten Extremen kann ich wenig anfangen. Existieren denn überhaupt solche Gegenpole und Vereinfachungen menschlicher Typen in einer Zeit umfassender genetischer Vermischung in Europa? Von Globalisierung möchte ich gar nicht erst sprechen. Wo finden wir wirklich diese einseitigen Charaktere, dazu noch geklont zu einem Äußeren, damit es dem Bild des Dichters entspricht?

Ist denn die Vereinfachung tatsächlich, wie oft behauptet wird, ein Beweis für die literarische Größe des Werkes? Muss der blauäugige Blonde heute noch beneidet werden, findet er nicht eher Spott als Bewunderung, während Künstler und Wissenschaftler hoch angesehen sind, der Blonde aber eher dem Umfeld ungesunder körperlicher Dressur und sportlicher Extremleistungen zugeordnet wird? Sollte dies vielleicht, wie Freund Franz-Xaver es immer wieder betonte, nicht auch für die Medizin gelten?

So kamen mir die Prachtathleten der angewandten Medizin in den Sinn, die ich in den letzten fünf Jahren, seitdem ich zunächst nebenberuflich für das Beratungsbüro meines Onkels Franz-Josef Herrligkommer tätig war, kennenlernen konnte. Auch diese „blonden“ Mediziner sah ich eher mit Distanz, konnte keine besonderen Sympathien für sie entwickeln, aber viel weniger noch Neid auf das von ihnen Erreichte.

Aus dieser Situation heraus wurde mir schnell deutlich, wie schwer es ist, gewünschtem Erscheinungsbild und fachlicher Kompetenz gerecht zu werden, beides miteinander zu verbinden. Der Arzt, den wir als Headhunter für eine leitende Position vorschlagen sollen, muss schließlich einiges bieten: fachliche, wirtschaftliche und soziale Kompetenz, Einfühlungsvermögen, Führungsqualitäten, aber auch ein ansprechendes und sympathisches Äußeres. Eine manchmal unlösbare Aufgabe, der man nur durch Kompromisse gerecht werden kann.

Stand ich vor wenigen Jahren auf der Suche nach einer leitenden Stellung selbst noch vor Personalberatern, so bin ich heute nicht mehr der Betroffene, finde mich aber in einer vergleichbaren Problematik wieder, nur auf der anderen Seite des Tisches. Nicht immer ging es bei unserer Arbeit um derartige Personalentscheidungen. Nicht selten galt es innerklinische Organisationsformen zu durchleuchten und zu ändern, dann wieder einzelne Klinik-Leistungen an externe Einrichtungen zu übertragen. Wahrscheinlich wäre mir eine derartige Umstellung in Thematik und Arbeitsweise nicht gelungen, wenn ich nicht in Onkel Franz-Josef, der im Freundeskreis mit der ungewohnten Abkürzung Frajo angesprochen wurde, einen humorvollen und jederzeit hilfsbereiten Vorgesetzten gefunden hätte, der aus jeder Lebenssituation ein positives Ergebnis zu gestalten wusste.

So lernte auch ich bald meinen persönlichen Weg vom Universitätsassistenten zum Berater und Headhunter als logische und sinnvolle persönliche Entwicklung zu erkennen und zu bejahen. Inzwischen fühle ich mich gefragt und genieße auch ein wenig die Macht, die mir plötzlich zugefallen ist.

Und wieder läutete die schrille Glocke der Aussegnungshalle. Vor dem Eingang formierte sich ein Trauerzug, der aus nur drei Personen bestand. Der einfache, schmucklose Kiefernsarg war schnell auf ein Gefährt verladen, der dann von zwei Totengräbern in großer Eile davongezogen wurde. Kein Blumenschmuck, die Trauergäste blickten wie peinlich berührt in verschiedene Richtungen beziehungsweise auf den Boden. Eine solche Situation erschüttert mich grundsätzlich mehr als der Anblick eines Toten, den ich ja oft genug von Berufs wegen erlebt hatte. Hier wird mangelnde Betroffenheit in demonstrativer Offenheit an den Tag gelegt.

Ganz anders war es bei der Beisetzung des Anfang der 1990er Jahre verstorbenen früheren bayerischen Ministerpräsidenten gewesen. Da dieser in meiner Nachbarschaft lebte, hatte ich ihn in den letzten Jahren häufiger gesehen und gesprochen. Er verkörperte für uns alle den gütigen Landesvater, den wir gern noch länger als Ministerpräsidenten erlebt hätten. Unvergessen blieb mir die Anekdote, die man mit seinem Ausscheiden aus dem höchsten Amt verband.

Sein Parteivorsitzender wollte ihn nach sechzehn Jahren als Ministerpräsident beerben. Daraufhin antwortete er diesem: „Mich kann nur ein Höherer abberufen!“ und zeigte zum Himmel hinauf. Daraufhin entgegnete der mächtige Parteivorsitzende: „Und ich bin der Höhere!“ So blieb er für mich weiter der wirkliche Landesvater, bis zu seinem Tode, bis zu seiner Beisetzung, an der ich teilnehmen wollte, wenige Tage nachdem er an einem Heiligabend im Kreise seiner Familie verstorben war.

Bei dieser Beisetzung nun gab es keinen Zutritt zum Inneren der Aussegnungshalle, in der sich Familie, politische Prominenz und geladene Gäste versammelt hatten. Für mich bestand nicht einmal die Möglichkeit, auch nur in die Nähe dieses Gebäudes zu gelangen. Der Weg zum Grab schließlich war sehr kurz, da sich das Ehrengrab der Stadt München am Hauptweg nahe dem Eingang des Waldfriedhofs befindet. Der Sarg und die unmittelbar folgenden Personen, darunter natürlich auch der amtierende Ministerpräsident, wurden durch Sicherheitsbeamte abgeschirmt.

Dieser Polizeischutz für einen Sarg erinnerte mich an eine Erzählung Konstantins von Bayern, der die Beerdigung seiner Großmutter kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs – es war 1946 – beschrieb. Aus Angst vor einer Entführung des Sarges der Infantin durch spanische Monarchisten, die Monate zuvor aus dem Konzentrationslager Dachau entlassen worden waren, wurde Polizeischutz erforderlich. Nur führte dieser Trauerzug nicht über einen Waldweg, sondern durch eine in Trümmern liegende Münchner Innenstadt zur ebenfalls stark beschädigten Michaelskirche, wo der Zugang zur Fürstengruft erst durch ein Räumkommando vom Schutt der eingestürzten Kirchendecke befreit werden musste.

4. Eine ungewöhnliche Begegnung

Diese Gedanken an Vergangenes wollte ich nun endlich abschütteln und verspürte dabei eine feste Entschlossenheit, von dieser Aussegnungshalle weg tiefer in den Friedhof hineinzugehen. Wollte ich das Grab meines Freundes Franz auf kurzem Wege erreichen, durfte ich mich jedoch nicht zu weit von der Friedhofsmauer entfernen und musste dann deren Verlauf folgend mich nach etwa einhundert Metern nach links wenden. Unterwegs könnte ich noch den kleinen Kuppelbau des Mausoleums der Zirkusfamilie Krone besuchen. Ein reizvolles Gebäude, in dessen Innerem ein Marmorelefant über die Ruhe der Toten zu wachen scheint.

Um diese besondere Grabstelle aber zu erreichen, musste ich den breiten Weg verlassen, der von der Aussegnungshalle nach Westen und damit auch zum Grab des Freundes führt. Nicht weit von der Friedhofsmauer kam ich so zum Grabfeld 12. Ich atmete bewusst tief ein und aus, da mir schlagartig die Luft um mich herum – allen physikalischen Gesetzen zum Trotz – gleichermaßen dünn wie ungewöhnlich warm erschien. Sekunden später sah ich plötzlich zwischen mir und dem Mausoleum einen mittelgroßen Mann, bekleidet mit einem braunen, abgewetzten Ledermantel. Sein Gesicht war von mir abgewendet, der Blick zu Boden gesenkt, während er mit seiner rechten Fußspitze einen Kreis in das Kieselsteinbett des Weges malte.

Als ich dem Fremden so nahe war, dass wir uns die Hände hätten reichen können, drehte er sich schnell zu mir um und überraschte mich mit einem strahlenden Lächeln. Neben seiner hohen Stirn fielen mir sogleich zwei parallel zueinander verlaufende Narben im linken Wangenbereich auf, die wohl aus seiner Zeit bei einer schlagenden Verbindung herrührten.