Kitabı oku: «Wenn Hitler 13 Minuten länger geblieben wäre»

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Klein-Carla mit den besten Wünschen

für eine glückliche Zukunft.

Heiner Welter, Jahrgang 1948, Studium der Medizin, Literatur- und Theaterwissenschaften 1968 – 75 an der Universität Köln. Nach Staatsexamen und Promotion Ausbildung zum Chirurgen an der Ludwig-Maximilians-Universität München: dort Habilitation 1986, Professur 1994. Seit 1989 als Chirurg tätig. 1993 – 98 Studium der Neueren und Bayerischen Geschichte (W. Ziegler) an der LMU. Verheiratet mit der Radiologin Dr. Gabriele Conradi. Lebt in Krailling. Autor zahlreicher medizinische Publikationen, Buchbeiträge und Ausbildungsfilme. In Lindemanns Bibliothek erschien 2016 der Roman „Das verschwundene Grab der Manns“ (2. Aufl. 2017).

Eine Sammlung mit Essays ist in Vorbereitung.

Heiner Welter

Wenn Hitler

13 Minuten länger

geblieben wäre

Novelle


1. Der entscheidende Abend

Der Kriegsbeginn veränderte meine Arbeit grundsätzlich. Ausgerechnet mir fiel beim Völkischen Beobachter die Kriegsberichterstattung zu. Gerade mir, der aufgrund seines Klumpfußes als wehruntauglich – viele meiner Zeitgenossen würden sagen wehrunwürdig – beurteilt worden war. Aber: da gab es prominente Beispiele dafür, dachte ich mir, dass man trotz einer solchen Behinderung in Wort und Schrift Großes vollbringen kann.

Ein wichtiges Manuskript hatte ich an diesem Tag, dem 8. November 1939, in meinem Büro in der Schellingstraße zurückgelassen. Ob ich wohl in diesem Artikel die gewünschten positiven Darstellungen genügend herausgearbeitet hatte? Ich werde wohl an mir und den Texten noch eifrig feilen müssen? Unser Propagandaminister legt, das hatte er erst kürzlich vor Journalisten bei der Reichspressekonferenz betont, gerade in Kriegszeiten großen Wert auf diese Art der Berichterstattung. Während natürlich der Völkische Beobachter bisher keine Probleme mit der richtigen Darstellung hatte, mussten sich etwa Redakteure der Deutschen Allgemeinen Zeitung, der Frankfurter Zeitung und des Berliner Tageblatts wiederholt deutliche Kritik und Änderungswünsche anhören. Dies sollte sich nicht zu häufig wiederholen, immerhin ist der Blätterwald in Großdeutschland dicht genug. Da könnte man durchaus auf die eine oder andere Gazette verzichten.

Meine Gedanken drehten sich weiter um die täglich stattfindende Reichspressekonferenz. Ich würde in den nächsten Monaten häufiger nach Berlin fahren, um dort auch für Bayern die Anweisungen zu den geänderten Informationsrichtlinien unter Kriegsbedingungen zu erhalten. Richtig, ich werde häufiger im Reichsministerium für Propaganda sein und mir in Berlin sogar eine Zweitwohnung zulegen können. Ja, können, sagte ich zu mir, das klingt besser als müssen ...

Bei diesem Gedanken wurden meine Schritte wie von fremder Macht gesteuert langsamer. Mir blieb unklar, weshalb ich schließlich stehen blieb. So würde ich die Rede des Führers nie pünktlich erreichen. Sollte ich den Bürgerbräukeller in der Rosenheimer Straße zu spät erreichen, zöge das nur Gerede unter den Parteigenossen und Kollegen der schreibenden Zunft nach sich. Zu viele kannten mich, der ich immerhin seit 1921 Parteimitglied war und als Journalist noch unter Dietrich Eckart beim Völkischen Beobachter gearbeitet hatte. In dieser kurzen Phase bis zu seinem Tod an Weihnachten 1923 galt ich sogar ein wenig als der Liebling des Chefredakteurs. Kurz bevor er starb, hatte er noch meine Arbeitslosigkeit verhindert, indem er Frau Bechstein, eine Gönnerin des Völkischen Beobachters, überzeugen konnte, mich als eloquenten und sprachgewandten Privatsekretär einzustellen. Die Zeit bei der guten Helene half mir nicht nur wirtschaftlich auf die Beine, nein, in der Zeit des Parteiverbots und der Einstellung des Völkischen Beobachters lernte ich die Strukturen hinter der Fassade unserer Bewegung genauer kennen. Nach dem 26. Februar 1925 konnte ich meine Schreibe wieder voll ausleben, verlor aber nie den Kontakt zu den guten Bechsteins.

Weshalb ließen mich diese Überlegungen wie versteinert zurück? Wo war ich eigentlich? Schwabing lag schon lange hinter mir. Die vor mir liegende Straße – erst vor einer Minute hatte ich die Mariensäule vor dem Münchner Rathaus passiert – lag in völliger Dunkelheit. Das Stadtbild hatte sich in den letzten beiden Monaten grundlegend verändert. Obwohl noch kein feindliches Flugzeug über der Hauptstadt der Bewegung gesichtet worden war, befolgten alle Volksgenossen die Regeln des Luftschutzes. Zahlreich geklebte Plakate verdeutlichten die tödliche Gefahr aus der Luft. Überall waren diese notwendigen Warnungen zu sehen: Die Litfaßsäule vor mir half mir bei der Orientierung. Meine Taschenlampe, nur kurz angeschaltet, zeigte mir die Reklame der „Schneider Weißen“ besonders eindrucksvoll, und das auch noch direkt vor dem gleichnamigen Brauhaus. Ich konnte mich nur im Tal befinden ...

Nein, sagte ich mir, ich trödelte vor mich hin, anstatt zumindest schneller zu gehen. Als Mitglied der Turnabteilung des TSV 1860 München war ich doch trotz meiner Behinderung sportlich gut geübt. Zwar hatte ich wegen meiner orthopädischen Spezialschuhe den Langstreckenlauf eher vernachlässigt, aber dafür hatte ich mich durch Radfahren und Gewichtheben fit gehalten. Gelaufen war ich natürlich auch, dies aber nur auf einsamen Waldwegen, ohne Publikum; niemand stellt doch gerne seine Behinderung zur Schau.

Der Weg von der Schellingstraße zur Rosenheimer dehnte sich mir allmählich zur Marathondistanz. Die letzte Steigung, gleich hinter der Isar, wollte ich, da ich sonst sicher die Hälfte der Rede verpassen würde, mehr oder weniger sprintend – zumindest kam mir meine Fortbewegung so vor – nehmen. Jedoch schon nach der halben Strecke blieb ich erneut, diesmal keuchend und jämmerlich hustend, stehen. Nachdem ich in mein Taschentuch gespuckt hatte, durchfuhr es mich wie mit einem Messer. Neben dem Schleim zeigten sich Blutfäden, wie ich sie bei meiner Mutter gesehen hatte. Danach waren ihr nur noch zwanzig Monate geblieben. Doch mit diesen Gedanken konnte und wollte ich mich in dieser für unser Volk so wichtigen Zeit nicht aufhalten, ich musste weiter.

Nun begann auch noch der verhasste Nieselregen des Novembers, eines Novembers, der mir später als ungewöhnlich mild im Gedächtnis bleiben sollte.

Wäre nicht dieses wichtige Datum, ich hätte mich heute schnell mit einer guten Flasche Wein ins Bett verdrückt. So aber drängte ich mich Schutz suchend entlang der Häuserfronten der rechten Straßenseite von einem Hauseingang zum nächsten. Das Portal zum Bürgerbräukeller erkannte ich bereits, als ich an einer unbeleuchteten Tür mit einer Person zusammenstieß, die völlig in Dunkelheit gehüllt war, ja – das war mein erster Gedanke –, die so etwas wie Finsternis ausstrahlte. Aber, gibt es das wirklich?

Aus dem Hintergrund jedoch – der Eingang führte auf einen erstaunlich hell erleuchteten Hinterhof – stand genügend Licht zur Verfügung. Der Fremde verschwand jedoch genauso schnell, wie er sich vor mir aufgebaut hatte. Kurz sah ich noch seine Silhouette vor dem Hintergrund des Hinterhofs, dann schien er sich im grellen Licht aufzulösen. Ein Erkennen blieb unmöglich. Plötzlich durchfuhr es mich. Wir befinden uns im Krieg. Welcher Verrückte verstieß hier so eklatant gegen die Verdunklungsregeln? Die Volksgenossen waren doch intensiv auf die Gefahren des Bombenkriegs aufmerksam gemacht worden, und dann ... Kurz nur blickte ich in meiner Verwirrtheit zu meinem Ziel hinüber, dem Bürgerbräukeller, da knackte es im Durchgang zum Hinterhof. Als ich meinen Blick nach rechts zum Hof zurückwendete, blickte ich nur noch in eine dunkle Leere. Mich schauderte und jede Eile fiel von mir. Zögerlich und langsam ging ich den Bürgersteig entlang, näherte mich dabei im Schritttempo dem Eingang des Bürgerbräukellers. Ja, das würde ich nie vergessen, hier hatte unsere glorreiche Bewegung ihren Anfang genommen!

Völlig unklar blieb mir in dieser Minute, weshalb mein Eifer, dieses Ziel zu erreichen, erneut so abrupt erlahmte. Es stand doch die Rede des Führers, seine erste Rede in München seit Kriegsbeginn, an. Wir fieberten schon seit Tagen diesem Großereignis entgegen. Zwei meiner Kollegen saßen bereits seit Stunden auf besten Plätzen, um Fotos zu schießen und kein Wort des Führers zu verpassen. Mir aber war heute die Rolle des verehrenden Zuhörers – ganz ohne den üblichen Schreibdruck des Journalisten – um einiges lieber. So würde ich die eine oder andere Maß trinken und den 9. November in bester Stimmung mit begeisterten Volksgenossen begehen. Hoffentlich würde ich nun, da ich doch mindestens eine halbe Stunde zu spät kam, noch eingelassen? Trotz dieses Zweifels blieb es mir unmöglich, schneller zu gehen. Allmählich ergriff eine eigentümliche Schwere meine Oberschenkel, die – nur wenige Augenblicke später – auch in meine Unterschenkel hinabstieg. In Höhe des Eingangstors zum Bürgerbräukeller blieb ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite ermattet stehen. Wie sollte ich in diesem Schneckentempo die Straße überqueren? Immer wieder schossen große Limousinen – alle vorschriftsmäßig verdunkelt mit schlitzförmigen Öffnungen der Scheinwerferabdeckungen – an mir vorbei. In dieser Dunkelheit und mit meiner Behinderung hätte ich alle Chancen, überrollt zu werden.

In einem ruhigeren Moment fasste ich Mut und überquerte humpelnd die Straße. Ich schaute auf meine Uhr. Der Polizist vor mir musterte mich belustigt: „Na, Volksgenosse, Sie werden aber nicht mehr viel von der Rede des Führers mitkriegen ...“

„Weshalb denn das? Die Rede müsste doch mindestens bis 9 Uhr dauern?“, entgegnete ich verunsichert.

„Der Führer muss heute Abend mit dem Zug nach Berlin fahren. Ursprünglich war ein Flug vorgesehen, aber bei diesem Sauwetter mit Nieselregen und Nebel war kein Fliegen möglich. Seine Wagen für die Fahrt zum Hauptbahnhof stehen schon bereit.“

Dann musste ich mich aber wirklich beeilen! Der Polizist geleitete mich zum Festsaal. Während wir uns dem Eingang näherten, vernahm ich einen lauten, eher dumpfen Knall, den ich sogleich am ganzen Leibe als Druckwelle verspürte. Der Helm des Polizisten traf mich an der Stirn, dann stürzte der Beamte selbst auf mich und riss mich zu Boden. Mit dem Hinterkopf schlug ich auf die steinerne Umrandung des kiesbedeckten Gehwegs und merkte schon nach Sekunden, dass mir eine warme Flüssigkeit in den frisch gestärkten Hemdkragen floss. Kurzfristig wurde mir schwarz vor Augen, in meinem rechten Ohr vernahm ich einen hochfrequenten Pfeifton, die Geräusche um mich herum konnte ich jedoch nur wie durch Watte registrieren.

Einige Menschen schrien vor Schmerzen, andere riefen um Hilfe. So stellte ich mir ein Gefecht an der Front vor, das ich wohl nie erleben würde.

Was wäre nun zu tun, war mein nächster Gedanke, wenn ich aufstehen könnte? Aber der auf mir liegende Polizist rührte sich nicht. Sein Gewicht belastete mich nicht zu sehr, sodass ich beschloss, zunächst einmal liegen zu bleiben. So glaubte ich mich halbwegs geschützt.

Später berichteten Augenzeugen, dass außerhalb des Saales, in dem der Führer gesprochen hatte, niemand verletzt worden sei, man eine Explosion nicht einmal gehört habe. Dies aber muss ich energisch dementieren!

Die Schreie wurden immer lauter und verzweifelter: „Sanitäter, Sanitäter ... Ist denn kein Arzt da?“

Allmählich drehte ich mich auf die rechte Seite und befreite mich von dem leblosen Körper auf mir. Mit der rechten Hand fasste ich in meinen Nacken: Blut. Ich konnte es sogar riechen ... Stammte es von mir oder ... Am Hinterkopf waren meine Haare verklebt, meine Kopfhaut schmerzte, ich glaubte, einen Riss zu ertasten. Als ich den Polizisten zur Seite rollte, vernahm ich ein kurzes Stöhnen, insgesamt aber erschien er steif, leichensteif. Es fror mich, während ich mich langsam in eine sitzende Position brachte. Die Luft um mich herum war voller Staub, Nebel und Pulverschwaden, die ich nicht zuordnen konnte. Ein wenig roch es nach Silvester-Knallern, dann aber auch wie ein Schwelbrand. Aus dem nur wenige Meter entfernten Haupteingang des Bürgerbräukellers quoll eine Menschenmasse: kriechend, gebückt, aufrecht, humpelnd, springend und laufend, ohne dabei auf die am Boden liegenden Menschen zu achten. In panischer Angst versuchte man, dem Inneren zu entkommen, wo wohl ein Brand oder eine Explosion stattgefunden hatte.

Sanitäter und Polizisten rückten an: „Hier muss sofort abgesperrt werden!“

Jemand rief: „Wir müssen zunächst die Verletzten bergen!“

Ein Ruf elektrisierte mich und drängte meine eigene Situation in den Hintergrund: „Wo ist der Führer? Wo ist Doktor Goebbels?“

Hustend und nach Luft schnappend stand plötzlich Gauleiter Wagner neben mir: „Ja, Herr, Herr ..., wie war denn bloß Ihr Name?“

Ich schluckte, sagte lieber nichts. „War doch letzte Woche noch in Ihrer Redaktion ...“

„Ja, Herr Gauleiter, selbstverständlich ... Was ist denn nur passiert?“

„Ja, das kann ich auch nicht sagen, wurde von meinem Sekretär dringend nach draußen gerufen ... dann ein großer Knall, meinen guten Hinterleithner hat es einfach weggerissen, ich konnte mich gerade noch an einer Laternenstange festhalten, sonst hätte es mich auch zu Boden geworfen.“

„Aber, was war denn die Ursache?“, insistierte ich.

„Wahrscheinlich ist ein Ofen in der Küche explodiert. Etwas Ähnliches soll in der letzten Woche auch in Nürnberg passiert sein, Herr Gauleiter“, vernahm ich aus dem Hintergrund, bevor ein Polizist nahe an uns herantrat. Er schrie verzweifelt auf: „Jessas, der Seppi, ja, Seppi, wie schaugst denn du aus?“ Er kniete plötzlich neben mir und inspizierte den Polizisten, der auf mich gestürzt war.

„Ja mei, da is fei nix mehr zum macha!“ Er sprang auf, schüttelte verzweifelt seinen Kopf und nahm ihn anschließend fassungslos in seine Hände, gerade so, als würde dieser anderenfalls zu Boden stürzen. „Na ... nix mehr zum macha ...“

„Da am Buckel ...“

Tatsächlich befand sich auf dem Rücken des Polizisten eine blutgetränkte Öffnung in der Uniformjacke.

„Wohl ein Granatsplitter“, konstatierte ich ungefragt und registrierte sogleich einen vorwurfsvollen Blick des Gauleiters: „Wie wollen Sie das denn beurteilen? Haben Sie eigentlich gedient? Woher soll denn hier ein Granatsplitter herkommen, aus der Küche vielleicht?“

„Vielleicht war das auch ein Schuss ...“ Weiter kam ich nicht, denn der neben mir stehende Polizist riss mich am Jackett in die Höhe und schrie: „Du bist jetzt staad. Für dich hol ich den nächsten Sanitäter, der dir das Hirn verbind! Du bluts ja wie a Sau ...!“

Der nächste vorbeieilende Rot-Kreuzler wurde zwar von meinem Helfer angehalten, riss sich aber sogleich los und verkündete nach einem verächtlichen Blick, der mir galt: „Für solche Bagatellen haben wir heute keine Zeit, dort im Bierkeller gilt es Menschenleben zu retten. Vielleicht sogar den Führer selbst ...“.

Gauleiter Wagner fasste sich an die Stirn: „Was? Der Führer? Ich dachte, ihn hätte seine Leibstandarte längst in Sicherheit gebracht? Außerdem stand er doch weit genug von der Küche entfernt.“

Der Sanitäter, deutlich älter als ich, entgegnete mit ängstlichem Blick: „Herr Gauleiter, hier geht es nicht um einen Küchenbrand ... es geht um den Führer! Er ist keinesfalls in Sicherheit gebracht worden, er muss noch im Festsaal sein ...“

„Sie Karbolpinsler! Wenn den Führer schon nicht seine Leibstandarte schützen kann, dann aber die Vorsehung! Das wurde uns doch schon mehrfach bewiesen! Kommen Sie, wir schau’n nach! Folgen Sie mir ...“

Und so ließen sie mich, da ich noch immer heftig am Kopf blutete, einfach am Boden sitzen. „Volksgenossen ...“, dachte ich nur und sank ermüdet zurück.

Kaum konnte ich abschätzen, wie lange ich vor mich hin gedöst hatte. Aber sollte es wirklich länger als eine Viertelstunde gewesen sein?

Wie lange mochte der Gauleiter mit seinen Helfern gesucht haben, bis ein gellender Schrei über den Hof des Bürgerbräukellers schallte: „Der Führer ist tot!“

Ich fuhr vom Boden hoch. Was soll nun aus uns werden? Der Krieg, der Lebensraum im Osten? „Nein, nein, nein ... alles umsonst“, stammelte ich vor mich hin.

Während ich mein orthopädisch versorgtes Bein langsam an meinen Körper zog, ging mir der nächste Gedanke durch den Kopf: Wer wird der Nachfolger des Führers? ... Generalfeldmarschall Göring, natürlich, der Reichsminister der Luftfahrt war doch erst am 1. September, am Tag des Kriegsbeginns, in der Reichstagsrede des Führers expressis verbis für den Fall seines Todes zu seinem Nachfolger bestimmt worden. Außerdem gab es bereits das Gesetz von 1935, in dem der Führer seine Nachfolge entsprechend geregelt hatte. – Aber, war der Generalfeldmarschall nicht auch im Saal?

Oder sollte er nicht hier gewesen sein? Immerhin ist Jagdsaison.

Ich müsste möglichst schnell in die Redaktion zurück, dort könnte ich in Ruhe telefonieren ...

Nach wenigen Minuten erschien Gauleiter Wagner erneut: „Alle tot, zumindest die führenden Persönlichkeiten unserer Bewegung. Das ist das Ende!“

„Und Generalfeldmarschall Göring, Herr Gauleiter?“

Wagner rieb sich durch das verschmutzte Gesicht: „Göring? ... Ich habe ihn weder gesehen noch begrüßt ...“

2. In der Schorfheide

Am frühen Nachmittag desselben Tages fuhr Generalfeldmarschall Hermann Göring in einem Kübelwagen – einem ersten Prototypen, der ihm persönlich von VW zur Verfügung gestellt worden war – vor dem Eingang zu seinem Landsitz Carinhall in der Schorfheide, nördlich von Berlin, vor. Seiner an diesem Tage auffallend kleinen Jagdrunde verkündete der Reichsjägermeister fast wie zur Entschuldigung: „Na, meine Herren, beim nächsten Jagdausflug werde ich Ihnen ein besseres Wetter präsentieren. Das war ja heute sau...“

Mehr sagte er nicht, während der japanische Botschaftsvertreter sich inzwischen vor dem Wagen stehend tief vor ihm verneigte. „Und immerhin“, fuhr Göring belustigt fort, „haben wir neben dem kapitalen Hirsch noch fünf Stück Rotwild geschossen. Und das nicht einmal zur Schonzeit!“

Der japanische Botschafter verneigte sich erneut, verstand aber nicht den Hintergrund von Görings Bemerkung.

Göring zeigte auf die Bronzeplastik eines Kronenhirschen, die seit 1937 am Ende der Kastanienallee von Carinhall stand. „Das war er, der Raufbold!“ Er klopfte sich mit beiden Handflächen auf den Bauch und lachte schallend. Sein Adjutant Karl-Heinrich Bodenschatz flüsterte dem Japaner zu: „Das war die Sache mit der Schonzeit ... Erklär’ ich Ihnen später genauer ...“

Göring warf seinem Adjutanten einen bösen Blick zu. Dieser nahm sichtbar Haltung an.

„Nun, dann mal hinein in die gute Stube“, verkündete der Generalfeldmarschall und wies seinen Gästen den Weg in die geräumige Eingangshalle.

Ein Kellner im Frack – unbeweglich in der Mitte der Eingangshalle stehend – servierte Champagner in ungewöhnlich hohen, schweren Kristallgläsern. Die anwesenden Japaner verbeugten sich tief, ehe sie den übrigen Gästen kichernd zuprosteten. Bodenschatz glaubte, jedenfalls erklärte er dies später seinem Ordonanzoffizier Hönighausen, die fernöstlichen Gäste seien nur das Trinken aus Porzellanschalen gewöhnt und hätten sich wohl über die deutschen Trinkgefäße ziemlich amüsiert.

Hermann, wie ihn alle Mitarbeiter hinter vorgehaltener Hand nannten, suchte die Nähe zum Geschäftsträger der japanischen Botschaft in Berlin, Usami Uzohiko, der erst zum Jahresende durch einen „bevollmächtigten Botschafter“ abgelöst werden sollte. Göring hatte den Antikominternpakt von 1936 immer als eine Vorstufe zum „Weltpolitischen Dreieck“ Berlin – Rom – Tokio gesehen. Dem schien bis zum Sommer 1939 auch Ribbentrop zuzustimmen. Mit dem Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 war diese Konstellation jedoch zunächst auf Eis gelegt.

Hermann Göring sah es nun als seine Aufgabe an, die Beziehungen zu den Japanern trotz der eher prochinesischen Haltung großer Teile der deutschen Bevölkerung zu pflegen und zu verbessern. Seine Jagdgesellschaften waren aus seiner Sicht ein ideales Mittel der Kontaktpflege. So fehlten selten japanische Gäste. Heute war sogar der ehemalige Botschafter Tokios, Oshima Hiroshi, der im Sommer 1939 in die Heimat zurückbeordert worden war, auf Besuch in Berlin und von Göring eingeladen.

Da es naturgemäß üppige Portionen vom Wildbret gab, wollte Göring den Essgewohnheiten seiner japanischen Gäste entgegenkommen und ließ als Vorspeisen Fischsuppe und Lachs servieren.

Hermann Göring rülpste nach der Fischsuppe genussvoll, erinnerte an die Tischsitten Luthers und verkündete befriedigt, nun sei genügend Platz für das Hauptgericht.

Der Hirschbraten schwamm in schwerem Bordeaux – und diesen wollte der Gastgeber nämlich in zweifacher Form sehen: im Glas und auf dem Teller – während die japanischen Gäste mit riesigen bayrischen Semmelknödeln kämpften.

Es wurde bereits der Nachtisch – Vanilleeis mit Lychees, was der Gastgeber für die Krönung asiatischer Nachspeisen hielt – serviert, als Bodenschatz von seinem Ordonanzoffizier nach draußen gebeten wurde. Kaum zwei Minuten später kehrte der Adjutant zurück und eilte mit erstarrter Mine und weiten Schritten auf Göring zu, der sich soeben mit einer übergroßen Serviette über das ganze Gesicht fuhr.

„Herr Generalfeldmarschall, Herr General ... Hermann ...“ Ihm brach die Stimme weg. Nur noch leise flüsternd näherte er sich dem Reichsjägermeister: „Auf den Führer ist in München ein Attentat verübt worden. Er ...“ Göring erhob sich langsam und wandte sich Bodenschatz zu, aus dem es nur noch stammelnd hervorbrach: „Ja ... der Füh..., der Führer ... ist tot.“

Göring flüsterte scheinbar noch gefasst: „Ja, heute im Bürgerbräukeller, ja, da musste er reden, der Führer ... auch ich hätte dort sein sollen!“ Sein Gesicht wurde innerhalb weniger Augenblicke puterrot. Man merkte, er rang nach Fassung, wand sich in seinem deutlich zu engen weißen Luftwaffenrock, dann nahm er seine Dessertgabel und schlug gegen seinen großen Rotweinkelch. Das Glas gab einen hellen Klang von sich, der zunächst verheimlichte, dass es unter dem heftigen Schlag zerbrach.

Göring erhob sich schwerfällig und sprach zum Publikum, das sich zunächst nur widerwillig in seiner lebhaften Unterhaltung stören ließ. Er fuhr sich mit seiner Serviette über das Gesicht: „Meine Damen und Herren, es ist etwas Schreckliches passiert ...“

Sofort entstand ein eisiges Schweigen, als ob die Anwesenden eine wichtige Kriegsnachricht erwarteten, immerhin befand sich das Reich im Krieg, und auch die Japaner standen nach dem Grenzkonflikt mit der Sowjetunion in der Mandschurei unter Waffen.

„ ... meine Damen und Herren“, Göring übersah dabei, dass keine Damen anwesend waren. „ ... meine Damen und Herren, der Führer ist tot. Die genauen Umstände sind noch unklar, es hat bei einer Veranstaltung in München, auf der Hitler sprach, wohl eine Explosion gegeben. Es ist unklar, ob es sich um ein technisches Problem oder aber eine Höllenmaschine handelte ... Die Kriminalpolizei ermittelt ...“. Görings Gesicht war erneut puterrot, deutlich sichtbar liefen von seiner Stirn große Schweißtropfen über die Wangen.

Bodenschatz zupfte am rechten Ärmel der Generalsuniform: „Hermann, wir müssen sofort zur Reichskanzlei! Der Fahrer wartet bereits.“

„Meine Damen und Herren,“ setzte der Generalfeldmarschall gestelzt fort, „als Nachfolger unseres Führers muss nun ich ... sofort ... die Staatsgeschäfte übernehmen ... und handeln ... Leider ... leider muss ich daher diese Gesellschaft verlassen und in die Reichskanzlei eilen. Ich bitte um Ihr Verständnis. Bitte bleiben Sie aber noch hier und lassen Sie sich von meinen Leuten bewirten!“

Einige Anwesende behaupteten später, Göring sei mit Bodenschatz hinausgewankt und habe sich nur mühsam auf den Beinen halten können.

Ein aufgeregtes Tuscheln machte sich breit, kaum dass der Hausherr die Halle verlassen hatte. In jeder Ecke stand einer der Kellner, weiterhin salzsäulenhaft unbeteiligt. Im mächtigen Kamin knisterte und spritzte verbrennendes Holz. Hiroshi wandte sich seinem Sohn mit einem süffisanten Lächeln zu: „Da brennt kein Buchenholz, das kann nur Fichte sein.“

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