Kitabı oku: «Alles für Allah»
Nina Scholz
Heiko Heinisch
Wie der politische Islam unsere Gesellschaft verändert
INHALT
COVER
TITEL
AUFTAKT: EINE BESTANDSAUFNAHME
DIE ISLAMISTISCHE HERAUSFORDERUNG
POLITISCHER ISLAM: SEINE URSPRÜNGE UND SEIN SELBSTVERSTÄNDNIS
Ein Brief an den IS
WAS IST POLITISCHER ISLAM?
Islamische Unduldsamkeit
ISLAMISMUS – GESCHICHTE UND GEGENWART
DIE ISLAMISIERUNG DER ISLAMISCHEN WELT
DER WEG NACH WESTEUROPA
DER MARSCH DURCH DIE INSTITUTIONEN
ISLAMISTISCHE GRÜNDERZEIT IN EUROPA
Ein eigener Fatwa-Rat für Europa
Rein in gesellschaftspolitische Bewegungen
Rein in die Parteien
SOZIALES ENGAGEMENT ALS MITTEL DER BEEINFLUSSUNG
IDENTITÄTSPOLITISCHE DISKURSE
MUSLIMIFIZIERUNG – GEWOLLT UND UNGEWOLLT
„Hausmuslime“
OPFERDISKURSE
DIE IDEOLOGIE DER GEWALT
HAT DER TERROR MIT DEM ISLAM ZU TUN?
MUSLIME ALS OPFER ISLAMISCHER AGITATION
MIT ISLAMISTEN GEGEN DEN TERROR?
MEINUNGSFREIHEIT
GEWALT ALS MITTEL DER EINSCHÜCHTERUNG
„RELIGIÖSE GEFÜHLE“
KAMPFBEGRIFF ISLAMOPHOBIE
ANTISEMITISMUS
ANTISEMITISMUS IN DER ISLAMISCHEN WELT
Originär islamische Judenfeindschaft
„Schutzbefohlene“ – eine lange Geschichte
FEHLENDES GESCHICHTSBEWUSSTSEIN
MORAL- UND EHRVORSTELLUNGEN: GESCHLECHT ZÄHLT
MORALVORSTELLUNGEN IM GEPÄCK
DAS KOPFTUCH – AUSHÄNGESCHILD DES POLITISCHEN ISLAM
TRENNUNG DER GESCHLECHTER
PARALLELGESELLSCHAFTEN
PARALLELJUSTIZ
RAN AN DIE KINDER!
Ein islamistisches Lehrstück
Koranschulen
Religiöse Konflikte in der Schule
Erziehung zur Segregation
AUSSICHTEN UND EINSICHTEN
INTEGRATION STATT SEGREGATION
DIE FREIE GESELLSCHAFT VERTEIDIGEN
RELIGIONSFREIHEIT UND MENSCHENRECHTE GELTEN FÜR ALLE
ANMERKUNGEN
IMPRESSUM
AUFTAKT: EINE BESTANDSAUFNAHME
„Es gibt keinen Islam und Islamismus.
Es gibt nur einen Islam.
Wer etwas anderes sagt, beleidigt den Islam.“
Recep Tayyip Erdoğan, 2008
Wir haben ein Problem mit dem islamischen Mainstream. Dieses „Wir“ umfasst alle, die – unabhängig von Herkunft und Religionszugehörigkeit – in einer freien, pluralistischen und demokratischen Gesellschaft leben wollen. In den vergangenen 40 Jahren ist innerhalb des Islam eine politische Bewegung herangewachsen, die, auf ältere islamische Konzepte zurückgreifend, im Islam ein ganzheitliches Programm sieht, das den einzelnen Menschen sowie Staat und Gesellschaft von Grund auf bestimmen soll. Diese Entwicklung, die der syrische Islamwissenschaftler Aziz Al-Azmeh als „Islamisierung des Islam“ bezeichnete, hat längst auch die muslimischen Communitys außerhalb der islamischen Welt erreicht. Das vorliegende Buch geht diesen Entwicklungen in Europa, insbesondere in Österreich und Deutschland, nach.
Eine wachsende konservative Bewegung innerhalb des Islam stellt die Werte der europäischen Aufklärung und die pluralistische Gesellschaft infrage, betrachtet sie als Zumutung, als Kränkung und als Angriff auf ihre Identität. Anhänger dieser Strömung wollen zwar in Europa leben, aber nicht als Teil der europäischen Gesellschaft, sondern als nach eigenen Regeln lebende Community.
Im Verbund mit islamistischen Organisationen, Islam-Lobbyisten und -Lobbyistinnen zwingen sie so westlichen Gesellschaften jenen Kulturkampf auf, der seit den 1970er-Jahren in der islamischen Welt tobt und diese in eine Krise geführt hat, deren Ausmaß noch nicht absehbar ist. Sie erzwingen im Namen der Religionsfreiheit eine permanente Debatte über den Islam, über religiöse Anliegen und Forderungen, indem sie die Gesellschaft, in der sie leben, immer wieder mit den Regeln und Moralvorstellungen des Islam konfrontieren. Gleichzeitig versuchen sie, jede kritische Debatte über islamische Vorstellungen und die in Europa tätigen Islamverbände zu unterbinden und als rassistisch und „islamophob“ zu diskreditieren. Letztlich geht es ihnen darum, dem Islam eine exklusive Stellung in der Gesellschaft zu verschaffen und für fundamentalistische Communitys Freiräume für ein Leben nach streng islamischen Regeln durchzusetzen. Einem polarisierenden Weltbild folgend, das die Welt in Muslime und „Ungläubige“ einteilt, ziehen sie eine klare Grenzlinie zwischen die Menschen.
Diese Debatten und Auseinandersetzungen sind für europäische Gesellschaften relativ neu, während sie die islamische Welt schon sehr lange beschäftigen. In nahezu allen islamischen Ländern hat eine puritanische islamische Strömung gesellschaftliche Hegemonie erlangt. Wir haben es letztlich mit einer globalen politischen Bewegung zu tun, die von diversen Organisationen und Staaten (vor allem Saudi-Arabien, Katar, Türkei und Iran) getragen wird, die sich oft genug gegenseitig bekämpfen, aber in ihren Utopien Übereinstimmungen aufweisen.
Im Kern laufen diese Utopien auf eine Gesellschaft hinaus, die sich islamischen – als göttlich imaginierten – Regeln unterwirft. Islamisten träumen von einer unter einem Kalifat geeinten idealen islamischen Weltgemeinschaft, von „der Herrschaft Gottes in der ganzen Welt“1, oder, weniger poetisch ausgedrückt, von der Weltherrschaft. Yusuf al-Qaradawi, der Chefideologe der Muslimbruderschaft und wohl einflussreichste Fernsehprediger der arabischsprachigen Welt, offenbarte bereits vor einem Jahrzehnt unverblümt, was in Europa lebende und wirkende Proponenten des politischen Islam antreibt: „Ich erwarte, dass der Islam Europa erobern wird, ohne zum Schwert oder zum Kampf greifen zu müssen – mittels Dawa [Missionierung, Anm.] und durch die Ideologie. Die Muslime müssen zu handeln beginnen, um diese Welt zu erobern.“2
Die Kraft islamistischer Überzeugungen wird von vielen unterschätzt, obwohl die Geschichte reich an Beispielen ideologischer Verblendung, dem Glauben an das vermeintlich „Richtige und Wahre“ und dem daraus resultierenden Eifer ist. Wir brauchen uns nur den Nationalsozialismus, die Beseeltheit seiner Anhänger, die Begeisterung unzähliger Frauen und Männer vor Augen halten, von denen sich allzu viele zu allem bereitfanden. Oder den Fanatismus der Kommunisten unter Stalin, die Verfolgung von Dissens und den Gulag für eine historische Notwendigkeit hielten. Sie alle waren überzeugt, das Richtige zu tun und für eine gerechte Sache zu kämpfen, die am Ende der ganzen Welt zum Heil gereichen sollte.3 Ihre Ideologen meinten, was sie sagten, und ihre Anhänger haben versucht, die Welt in diesem Sinne zu gestalten. Wir sollten davon ausgehen, dass auch die islamistischen Ideologen ernst meinen, was sie sagen, und dass ihre Anhänger ebenso beseelt sind von der Idee, das „gute und richtige Leben“ in die Welt zu tragen. Sie glauben, im Wortsinn, „Alles für Allah“ zu tun. Mit dem Islamismus ist eine neue totalitäre Ideologie in Europa angekommen, die in muslimischen Communitys wachsenden Zuspruch erhält, andererseits jedoch ihre vehementesten Gegnerinnen und Gegner unter denjenigen findet, die selbst oder deren Vorfahren aus islamischen Ländern stammen.
› Europa befindet sich in einer historisch neuen Situation.
Nach langem Ringen hatten westeuropäische Gesellschaften zu einem Konsens des religiösen Friedens gefunden. Dieser Konsens wird durch fundamentalistische Muslime infrage gestellt, die in ihrer Religion nicht alleine eine Anleitung zur persönlichen Lebensführung sehen, sondern ein Regelwerk aus Geboten und Verboten, die gesellschaftlich durchgesetzt werden und dem Islam eine privilegierte Stellung verschaffen sollen. Hinzu kommen extrem patriarchale, gewaltbegünstigende Traditionen innerhalb muslimischer Communitys, die, ob religiösen Ursprungs oder nicht, gegen die Menschenrechte verstoßen, Autoritarismus, der sich auch in Erziehungsmethoden niederschlägt, daraus resultierende Gewaltaffinität, Kompromisslosigkeit und tradierte Frauen verachtende Moral- und Ehrvorstellungen. Diese im heutigen Europa ungewohnte Erfahrung stößt keineswegs nur bei ressentimentbeladenen Teilen der Bevölkerung auf Befremden, Misstrauen und Angst vor religiöser Unduldsamkeit, Intoleranz und Gewalt. Vor ihrer Ausbreitung fürchten sich auch Angehörige anderer Einwanderergruppen und alle Muslime, die es schätzen, frei von Bevormundung durch Tradition oder Religion leben zu können.
Die Gesellschaft scheint in dieser Frage gespalten, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass das Erkennen von Veränderungen immer auch von der eigenen Lebensrealität abhängt: davon, in welchem Viertel man lebt, in welche Schule die Kinder gehen, welcher gesellschaftlichen Schicht man angehört – kurz gesagt, davon, inwieweit man von den Veränderungen, die der fundamentalistische Islam mit sich bringt, persönlich betroffen ist. So werden die Diskussionen mit Menschen aus Stadtvierteln, deren Kinder in „Problemschulen“ von religiösen Peergroups unter Druck gesetzt werden, anders verlaufen als solche mit Eltern, deren Kinder Privatschulen oder angesehene öffentliche Schulen besuchen und die solchen Konflikten bislang aus dem Weg gehen konnten.
„Tun wir nicht länger so, als stünde kein rosa Elefant im Raum. Er geht nicht weg, wenn wir ihn ignorieren“, schreibt die Schweizer Politikwissenschaftlerin Elham Manea am Ende ihres jüngsten Buches „Der alltägliche Islamismus“.4 Streng islamische Lebens- und Gesellschaftsvorstellungen beeinflussen seit etwa zwei Jahrzehnten zunehmend unser Zusammenleben. Auf die Frage, wie wir als Gesellschaft auf religiös motivierte Forderungen reagieren, auf Moscheen und Koranschulen, in denen zur Segregation vom Rest der Bevölkerung aufgerufen wird, auf islamistische Organisationen und auf Hassprediger, haben Gesellschaft und Rechtsstaat bislang keine angemessene Antwort gefunden. Diesen Problemen, die sowohl rasche Konsequenzen erfordern als auch eine langfristige Strategie, gehen viele politische Entscheidungsträger nach wie vor aus dem Weg; sei es aus Naivität, aus Wunschdenken oder aus wahltaktischem Kalkül.
Die massive Migration aus islamischen Ländern ist ein Novum in der modernen europäischen Einwanderungsgeschichte, obwohl gerade Österreich eine lange Migrationsgeschichte vorzuweisen hat. Spätestens seit 1848 strömten immer mehr Menschen aus verschiedensten Teilen der Habsburgermonarchie in die Hauptstadt Wien, was angesichts der Tatsache, dass damals halb Mitteleuropa zum Habsburgerreich gehörte, zu einem bunten Gemisch aus Menschen verschiedenster Völker führte. Ein echter Wiener ist, wer mindestens eine tschechische Großmutter oder einen ungarischen Großvater hat, behaupten manche. Gängige Familiennamen wie Novak, Swoboda, Novotny oder Horvath legen Zeugnis davon ab.
Auch in Deutschland gab es ähnliche Entwicklungen: Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wanderten circa 500.000 Polen ins Ruhrgebiet ein und stellten dort binnen weniger Jahrzehnte rund 15 Prozent der Bevölkerung. Zwar kam es, wie bei jeder Einwanderung größerer Gruppen, auch hier zu Verwerfungen und Konflikten, aber nach zwei Generationen waren sie bestens integriert. An die Geschichte der polnischen Einwanderung ins Ruhrgebiet erinnern heute nur noch die deutschen Orlowskis, Schimanskis und Kowalskis. Sie waren gekommen, weil sie ein besseres Leben suchten, und die meisten von ihnen waren dem Land gegenüber positiv eingestellt.
Das scheint für einen nicht unerheblichen Teil der Einwanderer aus islamischen Ländern, auch im Unterschied zu anderen aktuellen Einwanderungsgruppen, aber nicht der Fall zu sein, denn im Gegensatz zu diesen bringen viele von ihnen eine Ideologie mit, die in Widerspruch zu der Gesellschaft steht, in die sie einwandern. Wie sollen wir auf Menschen reagieren, die zwar in europäischen Ländern leben wollen, aber die westliche Gesellschaft als unmoralisch und sündhaft verachten und als Gefahr für ihre Kinder betrachten? Was bedeutet die steigende Zuwanderung aus kollektivistischen Gesellschaften jener Länder, die von islamistischen Vorstellungen geprägt sind und in denen der Einzelne und seine Würde eine untergeordnete Rolle spielen, für Europa? Es ist illusorisch, anzunehmen, die Neuankömmlinge würden der Strahlkraft von Freiheit und Selbstbestimmung erliegen, wenn sie ihnen nur gut genug erklärt würde. Das ist nicht nur eine sträfliche Unterschätzung der Macht von Ideologien, es nimmt auch andere und ihre Überzeugungen vom „guten und richtigen Leben“ nicht für voll, sondern hält diese für bloß vorübergehende Erscheinungen.
Der politische Islam ist angetreten, die Gesellschaft nach seinen Vorstellungen umzugestalten. Von den Veränderungen, die er für unsere Gesellschaft mit sich bringt, handelt dieses Buch. Darüber hinaus gibt es einen Überblick über die wichtigsten Akteure und ihre Strategien. Die alte Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, stellt sich angesichts eines neuen religiösen Totalitarismus mit aktueller Dringlichkeit. Es geht um nichts Geringeres als einen Gesellschaftsvertrag, der das friedliche und den individuellen und voraussetzungslosen Menschenrechten verpflichtete Zusammenleben der Menschen weiterhin gewährleisten kann.
DIE ISLAMISTISCHE HERAUSFORDERUNG
„Nicht der Koran muss mit der Demokratie verträglich sein, sondern umgekehrt, die Demokratie muss mit dem Koran vereinbar sein.“
Der Imam einer Moschee der Türkischen Föderation in Wien, 20175
In den vergangenen 40 Jahren ist es fundamentalistischen Strömungen in nahezu allen mehrheitlich islamischen Ländern gelungen, ihre Auslegung der Religion in die Mitte dieser Gesellschaften zu tragen und diese Lesart zum Mainstream zu machen. Diese Veränderung hat auch Auswirkungen auf muslimische Communitys in Europa. Während diese Entwicklung bis vor wenigen Jahren nur in kleinen Zirkeln zur Kenntnis genommen wurde, sprechen inzwischen auch Politik und Medien immer häufiger vom „politischen Islam“. Der Begriff hat sogar Eingang in das Regierungsprogramm der türkis-blauen Koalition in Österreich gefunden. Unter der Überschrift „Kampf dem politischen Islam“ findet sich dort ein eigenes Kapitel, das unter anderem strafgesetzliche Bestimmungen gegen den politischen Islam ankündigt.6
Man gewinnt jedoch den Eindruck, dass weder Politik (quer durch alle Parteien) noch Medien eine adäquate Vorstellung vom Phänomen politischer Islam oder Islamismus haben. Das mag der Tatsache geschuldet sein, dass es sich hierbei um eine für Europa vergleichsweise neue Gegebenheit handelt. Analyse und Faktenwissen hinken den Ereignissen und der öffentlichen Debatte hinterher. Nicht nur der islamistische Terror, sondern die vielen, dem alltäglichen Islamismus geschuldeten sichtbaren Veränderungen treiben heute immer mehr Menschen in europäischen Ländern um, ohne dass die Politik bislang eine hinreichende Antwort auf diese Herausforderung gefunden hätte.
Mit dem Begriff Islamismus verbinden die meisten vermutlich in erster Linie Bilder von Terroranschlägen aus New York, Madrid, Istanbul, Paris, London, Berlin und unzähligen anderen Städten der Welt; Berichte über die Gräueltaten des „Islamischen Staats“, von Sklavenmärkten, auf denen jesidische Frauen und andere Gefangene verkauft werden, und von bärtigen Männern, die schwer bewaffnet und die schwarzen Flaggen mit weißem Aufdruck des Glaubensbekenntnisses schwenkend laut Allahu Akbar („Gott ist am größten“) in die Kameras schreien. Der gewalttätige Islamismus, oft auch mit dem Begriff Dschihadismus beschrieben, stellt jedoch nur die sichtbare Spitze des Eisberges dar.
› Längst haben sich gewaltfrei und legalistisch vorgehende Islamisten auf den Weg gemacht, die Gesellschaft zu transformieren.
Während der Dschihadismus in Europa in Gestalt sogenannter Gefährder und ihrer Sympathisanten ein sicherheitspolitisches Problem darstellt, ist die Herausforderung durch legalistische islamistische Kräfte eine mindestens ebenso große, wenn nicht größere gesellschaftspolitische Aufgabe. Neben der dschihadistischen Szene hat sich eine vielfältige Bewegung etabliert, die Propaganda in islamische Communitys hineintragen will und damit durchaus erfolgreich ist. Auch wenn Letztere den dschihadistischen Weg als fehlgeleitet betrachten, stellen ihre politischen Ziele eine Gefahr für Demokratie und Pluralismus dar, ähnlich wie andere gewaltfreie extremistische Vorstellungen auch. Als warnendes Beispiel für den islamistischen Gang durch die Institutionen und eine Islamisierung von Staat und Gesellschaft unter Ausnutzung des demokratischen Rechtsstaats kann die Türkei gelten, wie im folgenden Kapitel noch ausgeführt wird.
POLITISCHER ISLAM: SEINE URSPRÜNGE UND SEIN SELBSTVERSTÄNDNIS
Als Islamismus im eigentlichen Sinne wird eine moderne politische Strömung innerhalb des Islam bezeichnet, die 1928 mit der Gründung der Muslimbruderschaft in Ägypten die Bühne betrat. Politischer Islam und Islamismus sind Begriffe, die in der wissenschaftlichen wie allgemeinen Debatte meist synonym verwendet werden. Mit ihnen wird das Phänomen einer auf dem Islam basierenden politischen Ideologie bezeichnet. Dieses Phänomen ist keine Erfindung von „Islamfeinden“, wie von manchen ins Feld geführt wird. Es waren vielmehr die Väter des Islamismus selbst, die den Islam als eigenständiges politisches Konzept definierten.
Für den Gründer der Muslimbruderschaft, Hasan al-Bannā (1906–1949), war der Weg des Westens von ökonomischen Krisen und aufsteigenden Diktaturen geprägt. Damit meinte er sowohl die westlichen Demokratien als auch Faschismus und Kommunismus. Dem gegenüber sah er im Weg des Islam eine historisch bewährte und eigenständige politische Alternative. Al-Bannā begriff den Islam keineswegs als rein spirituellen Rahmen, sondern definierte ihn, islamischer Ideengeschichte folgend, als politisch-religiöses Konzept, das die Grundlage der idealen Gesellschaft und des idealen Staates bilden und alle Bereiche derselben umfassen müsste. Um sich von ihren säkular eingestellten Gegnern abzugrenzen, haben in der Folge verschiedenste Gruppen sich selbst als „Islamisten“ (islamiyun) bezeichnet7 und von der islamischen Erweckung (Sahwa) gesprochen.
Einen einheitlichen Islamismus gibt es nicht, aber wie bei anderen Phänomenen gibt es natürlich bedeutungsunterscheidende Merkmale, die es uns erlauben, sie von anderen abzugrenzen und ihr Wesen zu erfassen und zu definieren. Wir haben es beim Islamismus, wie bei jeder anderen größeren politisch-ideologischen Bewegung auch, mit einem Spektrum von verschiedensten Organisationen zu tun. Dazu zählen staatlich-islamische Akteure ebenso wie transnationale und nationale Organisationen, die bei all ihren Unterschieden eine Idee eint: die Umgestaltung von Staat und Gesellschaft nach islamischen Regeln. Das islamistische Spektrum reicht von dschihadistischen Organisationen wie dem IS oder al-Qaida, die sich als internationale Organisationen begreifen und teilweise weltweit als eine Art Franchisesystem funktionieren, bis hin zu legalistischen, also sich im Rahmen der jeweiligen staatlichen Gesetze bewegenden Organisationen. Zu Letzteren zählt etwa die DMG („Deutsche Muslimische Gemeinschaft“) – ehemals IGD („Islamische Gemeinschaft in Deutschland“) –, die nach Einschätzung des deutschen Verfassungsschutzes als wichtigste Organisation von Anhängern der Muslimbruderschaft gilt, die versuche, im gesellschaftlichen und politischen Bereich Einfluss zu nehmen.8
Ein weiterer islamistischer Player des legalistischen Spektrums ist die türkische, neo-osmanisch ausgerichtete Millî-Görüş-Bewegung („Nationale Sicht“), die in Deutschland ebenfalls vom Verfassungsschutz beobachtet wird.9 Sie arbeitet eng mit der Muslimbruderschaft zusammen. Aus der Millî-Görüş-Bewegung stammt der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. Er vertritt als politischer Ziehsohn des Gründers Necmettin Erbakan (1926–2011) nach wie vor die Ideologie der Bewegung. Von Beginn seiner politischen Karriere an verfolgte er einen Islamisierungskurs entgegen dem in der Türkei herrschenden Kemalismus. Dieser Kurs zeichnete sich schon nach seiner Wahl zum Oberbürgermeister von Istanbul (1994 bis 1998) ab, als er verlautbarte, man könne nicht gleichzeitig laizistisch und Muslim sein. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt wurde der Alkoholausschank in städtischen Gastronomiebetrieben eingestellt. Seine Absicht, gesonderte Badezonen für Frauen und nach Geschlechtern getrennte Schulbusse einzuführen, stieß jedoch auf zu großen Widerstand. Erdoğan hat aus seiner Einstellung und seinen Zielen nie einen Hehl gemacht und sie bei aller notwendigen Taktik konsequent verfolgt, auch wenn viele das nicht wahrhaben wollten und ihn aus verschiedenen Motiven als demokratischen Erneuerer begrüßten. Daher verwundert es nicht, dass sich unter seiner Ägide nach und nach auch die staatliche türkische Religionsbehörde Diyanet mit ihren Ablegern in sämtlichen Ländern, in die türkische Musliminnen und Muslime ausgewandert sind (in Österreich unter dem Namen ATIB, in Deutschland unter DITIB bekannt), zu einer islamistischen Organisation entwickelt hat.
› Dschihadismus und gewaltfreier legalistischer Islamismus unterscheiden sich in erster Linie in ihren Methoden und in der konkreten Ausformulierung ihrer Ziele und nicht so sehr in den Grundzügen ihrer Ideologie.
Während die einen zur Waffe greifen, um ihre Utopie gewaltsam herbeizuzwingen, haben sich die anderen auf den berühmten „Marsch durch die Institutionen“ begeben. Sie sind heute in politischen Parteien und NGOs vertreten, arbeiten in den europäischen Ländern, in denen sie leben, mit staatlichen und zivilgesellschaftlichen Stellen zusammen und beginnen, sich in eigenen politischen Parteien zu organisieren.
Ein zentrales Anliegen islamistischer Organisationen ist eine gesellschaftliche Sonderstellung des Islam, die mit einer Teilhabe am demokratischen System bei gleichzeitiger Segregation von der Mehrheitsgesellschaft einhergeht. Was auf den ersten Blick verwirrend erscheint, macht aus islamistischer Logik durchaus Sinn. Freiräume für konservativ-islamische Communitys, innerhalb derer nach islamischen Regeln gelebt werden kann, lassen sich in einem demokratischen System zunächst nur nach demokratischen Regeln erreichen, in der Hoffnung, irgendwann über jene politischen Mehrheiten zu verfügen, die es erlauben, die Regeln selbst zu ändern. Erdoğan hat diese Strategie in einer Wahlkampfrede im Jahr 1998 mit einem Zitat aus dem mittlerweile berühmten Gedicht des türkischen Dichters und Politikers Ziya Gökalp (1876–1924) auf den Punkt gebracht: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“
Die verschiedenen islamistischen Strömungen weisen neben unterschiedlichen Methoden, wie dieses Ziel zu erreichen sei, natürlich auch eine ganze Menge ideologischer Differenzen auf. Selbst innerhalb einer Organisation treten immer wieder Richtungskämpfe zutage. Dieses Phänomen ist allen größeren politischen Bewegungen eigen, wenn man etwa an die Bolschewiki und ihre internen Richtungskämpfe nach Lenins Tod denkt.