Kitabı oku: «Alles für Allah», sayfa 3
DIE ISLAMISIERUNG DER ISLAMISCHEN WELT
Zwischen den 1930er- und 1960er-Jahren erlangten alle vormals kolonisierten islamischen Staaten die Unabhängigkeit. Vor allem die Staaten Nordafrikas und der Levante orientierten sich in der Folge an europäischen politischen Systemen. Sozialismus, Nationalismus und verschiedene Mischformen, wie etwa jene der syrischen oder irakischen „Baath-Partei“, hatten ab den 1940er-Jahren Konjunktur, konnten aber letztlich die wirtschaftlichen und sozialen Probleme ihrer Länder nicht lösen. Spezifische, über Jahrhunderte verfestigte autoritäre Strukturen – von der Führung bis auf die untersten Ebenen der Gesellschaft –, Klientelwirtschaft, Korruption und ein damit zusammenhängender Mangel an Gesellschaftsbildung standen dem wirtschaftlichen Aufschwung im Weg und ließen weite Bevölkerungsschichten verarmen.
Das eröffnete der islamistischen Bewegung zahlreiche Entfaltungsmöglichkeiten. So sorgte die Muslimbruderschaft in Ägypten in weiten Regionen für medizinische Versorgung, Armenspeisungen und Schulbildung. Überall dort, wo der Staat abwesend war, war die Bruderschaft zur Stelle und propagierte über Wohltätigkeitsprogramme auch islamische Moral- und Gesellschaftsvorstellungen. Sie mobilisierte auch für die islamische Erweckung Ägyptens gegen die britische Okkupation und gegen den „dekadenten westlichen Einfluss“. Die Parole „Der Islam ist die Lösung!“ wurde dabei zum Leitspruch. Der Kampf der Muslimbruderschaft richtete sich auch gegen den städtischen, modernen Teil der Bevölkerung, der sich ebenfalls Unabhängigkeit von Kolonialherrschaft, aber gleichzeitig eine demokratische Zukunft und individuelle Grundrechte wünschte. Hasan al-Bannā formulierte das Ziel der Organisation in fünf Leitsätzen, die bis heute gelten: „Gott ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unsere Verfassung. Der Dschihad ist unser Weg. Der Tod für Gott ist unser nobelster Wunsch.“
Ab den 1940er-Jahren etablierte die Muslimbruderschaft einen militärischen Arm. Dieser führte eine Reihe von Anschlägen durch, die 1948 zu einem Verbot der Bruderschaft führten. Im folgenden Jahr wurde Hasan al-Bannā von unbekannten Tätern ermordet. 1952 unterstützten die Muslimbrüder den Putsch der sogenannten „Freien Offiziere“ unter Gamal Nasser. Mehrere der Offiziere gehörten der Bruderschaft an, darunter auch der spätere Präsident Sadat. Doch schon bald nach der Machtergreifung kam es zu ersten Zerwürfnissen zwischen Nasser und der Bruderschaft. Schließlich wurde die Bruderschaft 1954 neuerlich verboten. Nach einem kurz darauf gescheiterten Attentat auf Nasser setzten massive Verfolgungen der Muslimbrüder ein. Unter anderem landete ihr wichtigster Vordenker, Sayyid Qutb, im Gefängnis, wo er seine einflussreichen Hauptwerke verfasste.29
Diese Ereignisse sind für die Ausbreitung des Islamismus in Westeuropa von entscheidender Bedeutung, denn in der Folge flüchteten zahlreiche Anhänger der Muslimbruderschaft nach Europa oder in die USA und wurden dort als politische Flüchtlinge anerkannt. Als Nassers Stern 1967 nach der desaströsen Niederlage gegen Israel im Sechstagekrieg sank, begann der neuerliche Aufstieg der Muslimbruderschaft in Ägypten. Der Nasserismus und der Panarabismus waren gescheitert. Die Muslimbruderschaft versuchte fortan, trotz eines nach wie vor bestehenden Verbots, auch die Universitäten und mit ihnen die städtischen Eliten zu erreichen, und es gelang ihr, Teile des Bildungsbürgertums für sich zu gewinnen.30
In Pakistan leitete der islamistisch eingestellte General Zia ul-Haq nach einem Militärputsch 1977 die schrittweise Islamisierung des Landes ein. Die Scharia wurde zur Grundlage des Strafrechts. Das Ergebnis dieses Islamisierungsprozesses können wir im heutigen Pakistan beobachten, wo die beispiellose Verfolgung und Ermordung Andersgläubiger und Andersdenkender durch Justiz und einen regelmäßig aufgebrachten Mob an der Tagesordnung sind, wie nicht zuletzt der traurige Fall der Christin Asia Bibi zeigt.31
Als eigentliches Fanal für die Ausbreitung des Islamismus können drei Ereignisse des Jahres 1979 gelten:
• Anfang des Jahres kehrte der im Pariser Exil lebende Ajatollah Khomeini in den Iran zurück und stellte sich an die Spitze der Aufstandsbewegung gegen den Schah. Das war der Startschuss für die islamische Revolution, in deren Folge Khomeini die Islamische Republik Iran ausrief.
• Im November besetzten bewaffnete Islamisten die Große Moschee in Mekka und riefen zu Aufständen in der gesamten islamischen Welt auf.
• Im Dezember marschierten sowjetische Truppen in Afghanistan ein, um die kommunistische Führung des Landes an der Macht zu halten.
Die Revolution im Iran blieb nicht ohne Auswirkungen auf die restliche islamische Welt und die dortigen islamistischen Kräfte. Die Erfahrung, dass Widerstand erfolgreich sein und die Islamisierung von Staat und Gesellschaft gelingen kann, sollte fortan fester Bestandteil des innerislamischen Diskurses sein.32
In der sunnitischen Welt sah man den schiitischen Iran zwar als religiösen Gegner, galt der Schiismus doch als häretische Strömung, aber die Tatsache, dass es ausgerechnet diesem gelungen war, einen islamischen Staat und ein „islamisches Gemeinwesen“ aufzubauen, schuf einen zusätzlichen Anreiz für sunnitische Islamisten. Die heute weitgehend in Vergessenheit geratene Besetzung der Großen Moschee in Mekka durch 500 schwer bewaffnete Islamisten nur wenige Monate nach dem Sturz des Schahs von Persien kann als erste sunnitisch-islamistische Reaktion auf die Ereignisse im Iran gelesen werden. Ziel war der Sturz des saudischen Königshauses und ein die gesamte islamische Welt umfassender islamischer Staat. Die Aufständischen riefen alle Muslime dazu auf, in ihren Ländern dem Islam und seiner Rechtsordnung zum Durchbruch zu verhelfen, die diplomatischen Beziehungen zum Westen abzubrechen und die Öllieferungen an die USA einzustellen. Diese Forderungen entsprachen fast wörtlich den Ideen, die der islamische Rechtsgelehrte und Gründer der islamistischen Hizb ut-Tahrir, Taqī ad-Dīn an-Nabhānī (1904–1978), in seinem programmatischen Hauptwerk „Die Ordnung des Islam“ (Nizam al-Islam)33 festgelegt hatte – einem Verfassungsentwurf für einen islamischen Staat, der unter Islamisten bis heute diskutiert wird.
Die Besetzung der Moschee konnte von der saudischen Regierung letztlich nur mithilfe französischer Spezialkräfte und nach zweiwöchigen schweren Kämpfen beendet werden.
Der saudische König Chalid hatte dafür eine Fatwa angefordert, die den Einsatz militärischer Gewalt und „Ungläubiger“ innerhalb Mekkas und der heiligen Stätten ausdrücklich erlaubte.34 Im Normalfall dürfen Nichtmuslime die Stadt nicht einmal betreten. Im Gegenzug für die Fatwa wurde den Islamgelehrten mehr Macht im Inland und Unterstützung für die Missionierung im Ausland zugesagt. In den folgenden Jahrzehnten wurde der Islam in Saudi-Arabien selbst immer rigider ausgelegt, gleichzeitig nahm die wahhabitische Propaganda, finanziert durch Petrodollars, bis dahin ungeahnte Ausmaße an. Mittels Moscheenbau, Schulen und Lehrmaterial wurde und wird islamistische Propaganda nach Europa getragen.
Mit dem Bürgerkrieg in Afghanistan tat sich ein weiteres Feld für Islamisten auf. Zwar fand hier ein Stellvertreterkrieg zwischen den beiden Machtblöcken USA und UdSSR und ihrer Verbündeten statt, aber mit dem Islamismus kam gleichzeitig eine Ideologie ins Spiel, die sich sowohl vom Ost- als auch vom Westblock abgrenzte, eine Tatsache, der sich mitten im Kalten Krieg kaum jemand bewusst wurde. Und so kam es, dass vom Westen ausgerechnet jene Islamisten mit Waffen ausgerüstet wurden, die ihre Bomben nur wenige Jahre später gegen genau diesen einsetzen sollten. Die Anschläge auf die US-Botschaften in Tansania und Kenia im Jahr 1998 waren die ersten gegen die USA geführten Anschläge von Osama bin Ladens Gruppe. In Daressalam starben dabei elf Menschen, 85 wurden verletzt. In Nairobi starben 213 Menschen, rund 4500 wurden verletzt.
Der Krieg in Afghanistan entwickelte sich zu einem internationalen islamistischen Kampf, der mit dem Aufbau eines Finanzierungs- und Rekrutierungsnetzwerks einherging, das später auch in Tschetschenien, auf dem Balkan und im algerischen Bürgerkrieg genutzt werden sollte.35 Kämpfer aus nahezu allen mehrheitlich islamischen Staaten, aber auch Muslime aus der Sowjetunion und Westeuropa strömten nach Afghanistan. Rund 30 Jahre später werden über das gleiche dschihadistische Netzwerk Kämpfer aus aller Welt nach Syrien und in den Irak geschleust werden. Das Netzwerk zog aber nicht nur Kämpfer an, es entließ sie nach einiger Zeit auch wieder als ausgebildete Dschihadisten mit ausgezeichneten Verbindungen in ihre Heimatländer. Das trug ebenso zur Verbreitung islamistischer Vorstellungen bei wie die Arbeitsmigration in die Staaten des Golf-Kooperationsrates (Saudi-Arabien, Bahrain, Katar, Kuwait, Oman und Vereinigte Arabische Emirate). Von dort brachten viele der Millionen Arbeitsmigranten eine fundamentalistische Lesart des Islam zurück in ihre Heimatländer.
› Die Ausbreitung islamistischer Vorstellungen und der damit verbundene gesellschaftliche Wandel in mehrheitlich islamischen Ländern ist mittlerweile unübersehbar.
Das Straßenbild hat sich seit Ende der 1970er-Jahre sichtbar verändert. Sah man früher noch eine bunte Vielfalt auf den Straßen, Frauen und Männer gemeinsam in den Cafés sitzen und auf den Boulevards flanieren oder in Badekleidung an den Stränden,36 so prägen heute, sieht man von bestimmten Gegenden und modernen Vierteln großer Städte ab, zunehmend ein homogenes, puritanisch islamisches Outfit und entsprechende Verhaltensvorschriften die islamische Welt.
DER WEG NACH WESTEUROPA
Unter den vielen 1954 aus Ägypten flüchtenden Anhängern der Muslimbruderschaft befand sich auch Said Ramadan (1926–1995), der Schwiegersohn des Gründers der Bruderschaft. Ramadan war in der Folge maßgeblich am Aufbau der Strukturen der Muslimbruderschaft in Europa beteiligt. Ähnlich wie bei der späteren Unterstützung der Taliban betrachtete die westliche Politik die ägyptische Muslimbruderschaft als Verbündete im Kampf gegen den sowjetischen Einflussbereich, dem Ägypten unter Nasser zuzurechnen war. Diese Situation konnte Said Ramadan nutzen, um unter anderem das „Islamische Zentrum Genf“ (1961) und das „Islamische Zentrum München“ (1973)37 aufzubauen. Das Genfer Zentrum wird bis heute von seinem Sohn Hani Ramadan geleitet. Die Muslimbruderschaft verfügte somit über zwei Stützpunkte in Westeuropa. Von München und Genf ausgehend überzogen sie Europa in den folgenden Jahrzehnten mit einem dichten Netzwerk, dem aktuell etwa 200 Organisationen und Institutionen zugerechnet werden können.
Ein weiterer Sohn Said Ramadans ist Tariq Ramadan. Er steht für einen neuen Aufbruch der Muslime in Europa und die Betonung der muslimischen Identität. Das Ziel, so Ramadan, sei nicht mehr die Integration in die bestehende Gesellschaft, sondern die Partizipation, um der Gesellschaft eine islamische Alternative anzubieten. Mit solchen Aussagen avancierte er zum Star vieler junger Muslime und Musliminnen in Europa. Bei Jugendorganisationen, die ein unkritisches Verhältnis zur Muslimbruderschaft aufweisen und im Jugend-Dachverband der Muslimbruderschaft FEMYSO organisiert waren oder sind, wie etwa die französische Union des jeunes musulmans (UJM), die „Muslimische Jugend Österreichs“ (MJÖ) oder die „Muslimische Jugend in Deutschland“ (MJD), war er gern gesehener Gast. Hinter seiner moderaten Fassade verbargen sich stets fundamentalistische Ansichten. So warnte Ramadan etwa vor den Inhalten des Biologieunterrichts, da sie der islamischen Lehre widersprechen könnten. Eltern rief er dazu auf, die Kinder durch Vermittlung des Kreationismus dagegen zu immunisieren. Zudem fiel er auch dadurch auf, dass er die Körperstrafen der Scharia, wie etwa die Steinigung von Ehebrecherinnen, relativierte und es ablehnte, sie zu verurteilen.38
Etwa zeitgleich mit den Anfängen der Muslimbruderschaft in Westeuropa startete Saudi-Arabien seine Bemühungen, den wahhabitischen Staatsislam neben Öl zu einem Exportschlager des Landes zu machen. Berühmt-berüchtigt ist der Deal zwischen dem belgischen König Baudouin und dem saudischen König Faisal im Jahr 1967: Belgien erhielt billiges Öl, im Gegenzug durfte Saudi-Arabien eine religiöse Infrastruktur in Belgien aufbauen. So entstand 1978 die erste und nach wie vor größte Moschee Belgiens mit weiteren assoziierten Institutionen, wie etwa einer islamischen Schule.
Ein Jahr später wurde in Wien das ebenfalls von Saudi-Arabien finanzierte und bis heute von dort gelenkte „Islamische Zentrum“ errichtet, die größte Moschee Österreichs. Der Direktor der Moschee ist Angehöriger der saudi-arabischen Botschaft in Wien. Beide Moscheen werden von der „Islamischen Weltliga“ unterhalten, welche vorwiegend vom saudi-arabischen Königreich finanziert wird. Offiziell als islamische Nichtregierungsorganisation (NGO) geführt, erfüllt sie eine wichtige außenpolitische Funktion in der Missionstätigkeit Saudi-Arabiens.
› Mit diesen ersten Zentren der Muslimbruderschaft und Saudi-Arabiens war der fundamentalistische, politische Islam in Europa angekommen.
Parallel dazu hatten sich durch den Zuzug von Menschen aus islamischen Ländern nach Deutschland und Österreich im Rahmen sogenannter Anwerbeabkommen mit der Türkei und Jugoslawien seit den frühen 1960er-Jahren muslimische Gemeinden etabliert. In den ersten beiden Jahrzehnten schufen die Gläubigen unter diesen Migranten und Migrantinnen in Eigeninitiative und ohne Unterstützung aus den Herkunftsländern erste Ansätze einer religiösen Infrastruktur.39 Diese Phase war auf beiden Seiten noch deutlich vom Gedanken des nur vorübergehenden Aufenthalts geprägt, sinnbildlich erfasst im Begriff „Gastarbeiter“, der auch als Eigenbezeichnung verwendet wurde. Die religiöse Infrastruktur bestand vor allem aus Wohnzimmermoscheen und den provisorisch eingerichteten sogenannten Hinterhof- und Kellermoscheen.40
Mit dem einsetzenden Familiennachzug ab Mitte der 1970er-Jahre wuchsen die muslimischen Communitys. Erst in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren begannen sich die Herkunftsländer für „ihre“ muslimischen Gemeinden zu interessieren und griffen mit finanziellen und personellen Ressourcen in das zuvor „wild“ gewachsene Vereinswesen ein. Verbände wie etwa die türkische Religionsbehörde Diyanet (DITIB in Deutschland und ATIB in Österreich)41 oder die islamistische Millî Görüş („Nationale Sicht“), aber auch der IZBA (Verband bosniakischer Vereine in Österreich) beziehungsweise IGBD (Islamische Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland)42 begannen, bereits bestehende Moscheevereine unter ihre Fittiche zu nehmen. Heute wird die islamische Vereinslandschaft von einigen großen Verbänden dominiert, die allesamt finanziell von ihren jeweiligen Mutterorganisationen im Ausland abhängig sind und unter deren ideologischem Einfluss stehen.
Unter Präsident Erdoğan, der selbst aus der Millî-Görüş-Bewegung kommt, hat sich die staatliche türkische Religionsbehörde Diyanet zunehmend der Ideologie von Millî Görüş und Muslimbruderschaft angenähert. Dadurch sind die beiden größten Moscheeverbände in Deutschland und Österreich Teil des islamistischen Spektrums und tragen neben der Muslimbruderschaft maßgeblich zur Etablierung eines politischen Islam in den muslimischen Communitys der beiden Länder bei.
DER MARSCH DURCH DIE INSTITUTIONEN
„Nutzt die Demokratie – das System der Kuffar – nutzt es zugunsten unserer Mission.“
Munir al-Ghadban, ehemaliger Anführer der syrischen Muslimbruderschaft, 198443
Infolge der Anschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington kam es auch in der Schweiz zu mehreren Hausdurchsuchungen, unter anderem bei Youssef Nada, einem einflussreichen Anführer der Muslimbruderschaft, der am Aufbau des „Islamischen Zentrums München“ beteiligt war. In seiner Wohnung fand die Polizei ein brisantes Dokument: ein Papier der Bruderschaft vom Dezember 1982 mit dem aufschlussreichen Titel „Der Weg zu einer weltweiten Strategie für islamische Politik“. Die Existenz des Dokuments wurde von den Funktionären der Bruderschaft nicht bestritten. Allerdings dementierten sie – obgleich der Titel dieses Dementi ad absurdum führt –, dass es sich um ein Strategiepapier handle. In zwölf Punkten wird ein Plan zur Unterwanderung von Gesellschaften skizziert und das langfristige Ziel der Etablierung eines weltweiten islamischen Staates formuliert.44
Der Islamismus-Experte Lorenzo Vidino bezeichnet das Dokument als den Modus Operandi der Muslimbruderschaft im Westen.45 Die darin ausgeführte Strategie entspricht exakt dem Vorgehen derjenigen Organisationen, die dem Netzwerk der Bruderschaft zugeordnet werden können. Aktivisten werden angehalten, das Terrain genau zu analysieren und Aufgabenbereiche für die islamische Missionierung (Dawa) zu definieren. Kader sollen flexibel und an die lokalen Gegebenheiten angepasst vorgehen, ohne in Konflikt mit der „Generallinie der globalen islamischen Politik“ zu geraten. Auf lokaler Ebene wird die Zusammenarbeit mit anderen islamischen Gruppen, die sich für die gleiche Sache einsetzen, empfohlen.
Der Palästinafrage wird ein eigenes Kapitel gewidmet, sei doch der Kampf um Palästina „der Schlüssel zur Renaissance der arabischen Welt“. Es brauche Studien über Juden, die als „Feinde der Muslime“ bezeichnet werden. Jegliche Versöhnung mit ihnen sei Defätismus, der die Bewegung untergrabe. Daher seien dschihadistische Gruppen in Palästina aufzubauen und mit solchen in der gesamten islamischen Welt zu vernetzen.
In einem anderen Punkt weist das Papier Anhänger der Bruderschaft dazu an, strategisch geschickt vorzugehen und keine Konfrontationen mit Gegnern zu suchen, um nicht unnötige Gegenreaktion zu provozieren, die zur Gefahr für die Bewegung und ihre Mission werden könnte. Muslimbrüder sollen die Freiheiten nutzen, die ihnen die einzelnen Länder bieten, und in Parteien, Gewerkschaften, zivilgesellschaftliche Organisationen und Institutionen aller Art eintreten und sich in Parlamente wählen lassen, um die Sache der Muslime und des Islam zu vertreten.
› Aus den Erfahrungen der Vergangenheit und den zahlreichen Verboten in der islamischen Welt klug geworden, bekennen sich in Europa nur die wenigsten Organisationen und Personen zur Muslimbruderschaft.
Sie in Zusammenhang mit der Bruderschaft zu bringen, birgt das Risiko einer Klage. In der Regel sind es Erkenntnisse des Verfassungsschutzes oder eigene Fehler, die einzelne Organisationen überführen konnten. Die deutschen Verfassungsschutzämter leisten zur Identifizierung islamistischer Organisationen wie der Muslimbruderschaft einen wichtigen Beitrag. Die detaillierten Erkenntnisse inklusive der Nennung von Organisationen und Personen des legalistisch-islamistischen Spektrums werden der Öffentlichkeit in jährlichen Berichten zur Verfügung gestellt. Die dafür nötigen rechtlichen Grundlagen fehlen dem österreichischen Verfassungsschutz. Hier besteht Reformbedarf.
Das Netzwerk der europäischen Organisationen ist mit seinen vielen Unterorganisationen in den Bereichen Jugendarbeit, Studentenvereinigungen, interreligiöser Dialog, soziale Arbeit, Wohltätigkeit und Bildung, Flüchtlingsbetreuung und Deradikalisierungsarbeit und nicht zuletzt den vielfältigen Initiativen gegen Rassismus und „Islamophobie“ nur schwer zu überblicken.46 Das hat durchaus System. Am Ende weiß niemand mehr, wo Muslimbrüder und -schwestern zu finden sind. Zugegeben wird nur, was durch Versehen oder Eitelkeit öffentlich bekannt wurde.
Ende 2018 stritt selbst Ümit Vural, der neu gewählte Präsident der „Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich“ (IGGÖ), eines staatlich anerkannten Dachverbands islamischer Organisationen, jegliche ideologische Nähe zu Millî Görüş, der türkischen Partnerorganisation der Muslimbruderschaft, ab, obwohl er nachweislich seit seiner Studentenzeit dort Funktionen innehatte und Vorstandsmitglied der „Islamischen Föderation Wien“ war. Auf Nachfrage erklärte er, bei Millî Görüş denke er nur an seinen Vater, „der mich mit sechs Jahren in die nächste Moschee mitgenommen hat, weil ihm das ehrenamtliche Engagement wichtig war“. Das habe ihn geprägt, aber mehr sei nicht gewesen.47 Es lässt nichts Gutes erwarten, dass Vurals Präsidentschaft mit einer Verharmlosung von Millî Görüş und der Verschleierung seines Engagements bei der Organisation beginnt.
Anfang Januar 2019 waren er und der „Islamophobieforscher“ Farid Hafez die österreichischen Vertreter auf einer von der türkischen Religionsbehörde Diyanet organisierten Konferenz mit dem Titel „Treffen der Europäischen Muslime II“ in der Kölner DITIB-Zentrale. Dort gaben sich neben Ibrahim El-Zayat auch weitere führende Größen der europäischen Muslimbruderschaft ein Stelldichein. Das Abschlussdokument48 liest sich über weite Strecken wie eine Weiterentwicklung des 2001 gefundenen Strategiepapiers der Muslimbruderschaft. So wird darin ein enger Zusammenschluss der Muslime gefordert, die als kollektive Gemeinschaft ihre Unterschiede gegenüber dem Rest der Gesellschaft bewahren und gemeinsame Handlungsfähigkeit entwickeln sollen. Dafür sollen nach genauer Analyse der Situation in Europa die notwendigen Institutionen geschaffen werden. Während die Konferenz in Deutschland wegen der Einladung von Muslimbrüdern zum Skandal geriet und Innenminister zweier Bundesländer drohten, die DITIB nun durch den Verfassungsschutz beobachten zu lassen, wurde die Teilnahme des Präsidenten der IGGÖ in Österreich bislang lediglich zur Kenntnis genommen. Auch der aktuelle Präsident der „Islamischen Gemeinschaft in Deutschland“ (IGD), Khallad Swaid, leugnete auf Nachfrage des Autors des vorliegenden Buches jegliche Verbindung seiner Person und der IGD zur Muslimbruderschaft. Laut Erkenntnissen des Verfassungsschutzes jedoch ist die IGD ein Sammelbecken für Muslimbrüder in Deutschland.49
Zurück zum Strategiepapier: Um alle Kräfte auf das Ziel hin zu bündeln, einen islamischen Staat auf Erden zu errichten, sollen lokale und weltweite Machtzentren im Dienste des Islam beeinflusst werden, heißt es darin. Gefolgt von der originell anmutenden Aufforderung, „wissenschaftliche Studien über die Möglichkeit der Etablierung der Herrschaft Gottes in der ganzen Welt“ vorzubereiten. Dazu gehöre, lokale und weltweite Machtzentren auf Möglichkeiten der Beeinflussung hin zu analysieren. Muslimbrüder sollen in ihren jeweiligen Aufenthaltsländern in den verschiedensten einflussreichen Institutionen tätig werden, um diese für die Sache des Islam zu nutzen. Und genau dort finden wir sie heute europaweit.
Das Strategiepapier wurde zu einer Zeit verfasst, als die restliche Welt dem Islamismus als eigenständiger ideologischer Bewegung noch keinerlei Beachtung schenkte. Auch heute noch wird die Gefahr des legalistisch operierenden Islamismus, wie er sich am Beispiel der Muslimbruderschaft offenbart, gravierend unterschätzt.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.