Kitabı oku: «"Wenn Du absolut nach Amerika willst, so gehe in Gottesnamen!"», sayfa 4

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From St. Louis to Sutter’s Fort, 1846

Die Wertschätzung von Lienhards Manuskript durch Korns/Morgan dürfte 1951

Erwin G. Guddes Neugier für Lienhards Bericht über den California Trail geweckt haben. 1961 erschien sein Buch «From St. Louis to Sutter’s Fort», die Übersetzung des California Trails (Bogen 51/1–83/1). Er folgt dabei Lienhards Text, allerdings mit der Tendenz, dessen Ausführlichkeit etwas einzugrenzen. Die Übersetzung enthält kleine Kürzungen und mehrere ungenau übersetzte Stellen, ebenso einige Verwechslungen. Guddes betont einfach gehaltener Sprachduktus hat einen eher distanziert wirkenden Stil zur Folge, zudem scheint ihm Lienhards trockener Humor entgangen zu sein. Es dürfte deshalb eher am Sprachstil des Übersetzers liegen, wenn dem englischen Text «a certain lack of freshness in the narration»14 zugeschrieben wird, und weniger daran, dass es sich um eine Aufzeichnung aus späterer Zeit handelt, wie dies der Rezensent von Guddes Buch vermutet.

Gudde bezeichnet in seiner Einleitung Lienhards Trail-Abschnitt als «einen der drei klassischen Berichte der grossen Westmigration von 1846». Obwohl nach seinen Worten die Versuchung, auch den Rest des Manuskripts zu übersetzen, gross gewesen sei und Freunde ihm dies auch empfohlen hätten, habe er sich nicht dazu entschliessen können. Um dies zu begründen, greift er auf seine Buchbesprechung von 1942 zurück und wiederholt seine dortige Kritik an Lienhard zum Teil wörtlich. Die Reise nach Kalifornien, meint er, sei bei weitem der interessanteste und wertvollste Teil des Manuskripts. Der «über den weiten, offenen Raum des Trails ziehende» Lienhard scheine ein «anderer Mann» zu sein als der Lienhard in Sutters Fort nach der Goldentdeckung.

Es ist bedauerlich, dass sich Gudde nach zwanzig Jahren von neuem auf Wilbur berief und seine Kritik, wiederum ohne Verifizierung, wiederholte. Zwar hatte er bei seiner Übersetzung des Trail-Abschnitts den grossen Unterschied zu «A Pioneer at Sutter’s Fort» erkannt, führte diesen jedoch auf den Autor zurück, der sich in Kalifornien völlig verändert habe. Dabei liess Gudde ausser Acht, dass Lienhard seine Erinnerungen dreissig Jahre später verfasste und es aus dieser zeitlichen Distanz kaum möglich gewesen wäre, in ein und demselben Manuskript zwei qualitativ derart unterschiedliche Texte zu schreiben. Hinzu kommt, dass sich die letzten anderthalb Seiten seines Buches mit den ersten zwei von Wilburs Buch überschneiden und die Texteingriffe, die Letztere von Beginn an vornahm, nicht zu übersehen waren.

New Worlds to Seek

John C. Abbotts Buch «New Worlds to Seek» ist die englische Übersetzung von Lienhards Kindheit und Jugend in der Schweiz, seiner ersten Reise nach Amerika und seines Aufenthalts von 1843–1846 in der Schweizer Siedlung Highland, Illinois (Bogen 1–51/2). Die Zeit in Highland, damals noch unter dem Namen «Neu-Schweizerland» bekannt, schliesst mehrere Abstecher in die benachbarten Staaten und Fahrten auf dem Mississippi ein. Das Buch endet an der Stelle, wo Guddes «From St. Louis to Sutter’s Fort» beginnt.

John Abbott (1921–2005) war während einundzwanzig Jahren Direktor der Lovejoy Library (Southern Illinois University, Edwardsville), wo er später die Leitung der Abteilung «Special Collections» übernahm. Dort widmete er sich vor allem der Erweiterung einer Sammlung von Quellen und Literatur zu Illinois und dem Mississippi-Tal. Daneben beteiligte er sich an mehreren ins Englische übersetzten Editionen von Berichten der Gründer und frühen Siedler Neu-Schweizerlands. Abbott war deshalb ein ausgezeichneter Kenner des geografischen und siedlungsgeschichtlichen Hintergrunds von Lienhards Text über die Jahre in Illinois.

Vertraut im Umgang mit Manuskripten, legte er Wert darauf, den Autor und sein Werk möglichst authentisch zu vermitteln. Er erkannte zu Beginn seiner Arbeit, dass die Transkription, die ihm als Vorlage dienen sollte, über weite Strecken nicht Lienhards Originaltext entsprach. Sein grosses Verdienst ist, dass er sich daraufhin entschloss, die ganze Transkription neu zu bearbeiten. Obwohl seine Deutschkenntnisse begrenzt waren, machte er sich mit der deutschen Schreibschrift vertraut und zog zur Übersetzung eine zweisprachige Mitarbeiterin bei.

Zwei Anmerkungen sollen hier kurz erwähnt werden. Der Name von Lienhards Aargauer Reisekamerad Heinrich Thomann wurde zwar brieflich kommuniziert, dessen Schreibweise in der Anmerkung aber versehentlich als «Thomman» angegeben.15 Die zweite Anmerkung betrifft ein Leseversehen. Lienhard schreibt: «Warte, Kerl, dich werde ich in das Staatskosthaus nach Alton schicken!» Die Übersetzung lautet: «Just you wait fellow, I’ll send you to the government courthouse at Alton!» Lienhard meinte mit «Staatskosthaus» natürlich Gefängnis (penitentiary), was irrtümlich mit «government courthouse» (staatliches Gerichtsgebäude) übersetzt wird. In einer Anmerkung erklärt Abbott dazu: «The Madison County Courthouse was in Edwardsville; Alton was the site of the State Penitentiary.» Lienhard wusste dies offensichtlich und formulierte es dementsprechend korrekt.16

Abbott ist mit «New Worlds to Seek» ein schönes Buch zu verdanken, das Lienhard und seinen Text auf überzeugende Art präsentiert. Es biete, schreibt Lienhards Urenkel John Henry im Vorwort, auch späteren Generationen seiner Familie die willkommene Möglichkeit, nicht nur über die frühe Zeit am Mississippi mehr zu erfahren, sondern auch über die von Fernweh geprägten Jugendjahre seines Urgrossvaters, der in Amerika ein freies, selbstbestimmtes Leben suchte und vom Zufall begünstigt auf unerwartete Weise fand.

1 Die Landzuweisungen erfolgten in der Regel in spanischen Quadratmeilen, wobei 1 Quadratmeile (spanisch «legua») rund 18 Quadratkilometern entsprach.

2 Die folgenden Ausführungen zur Entwicklung des Trails stützen sich vor allem auf George R. Stewart, The California Trail. An Epic with Many Heroes (1962/1971).

3 John D. Unruh, The Plains Across. The Overland Emigrants and the Trans-Mississippi West, 1840–1860 (1982), 84.

4 Es handelt sich dabei um 25 ungebundene Druckbogen mit Bleistiftnotizen von Lienhards Hand. Das Dokument gelangte 1983 aus Familienbesitz an die Bancroft Library in Berkeley, Kalifornien.

5 Reuben Louis Spaeth, Heinrich Lienhard in California, 1846–1850. Master’s Thesis, University of California, Berkeley 1933. Ein Exemplar dieser Arbeit ist in der Bancroft Library vorhanden.

6 Heinrich Lienhard, I knew Sutter. Translated from the Original German by Students of German at C. K. McClatchy Senior High School. Sacramento: The Nugget Press, 1939.

7 John Paul Von Grueningen (Hrsg.), The Swiss in the United States. Madison, Wisconsin: Swiss-American Historical Society 1940; Reprint: San Francisco: R and E Research Associates, 1970.

8 Erwin E. Gudde (1889–1969) war gebürtiger Deutscher, emigrierte als junger Mann in die USA und lehrte von 1923 bis 1956 Germanistik an der University of California in Berkeley.

9 Erwin G. Gudde, Review of Books, in: The Pacific Historical Review, XI, 2 (June 1942), 233.

10 Wilbur, Pioneer at Sutter’s Fort, 116–117; Manuskript 127/3–128/1.

11 Wilbur, Marguerite Eyer. John Sutter, Rascal and Adventurer (A New Romantic Biography). New York: Liveright Publishing Corp., 1949.

12 John A. Hawgood, John Augustus Sutter. A Reappraisal, in: Arizona and the West, IV, 4 (Winter 1962), 345, Anm. 2.

13Vom tragischen Schicksal der Donner-Gesellschaft wird weiter unten im Text ausführlicher die Rede sein (siehe Seite 250ff.).

14 Henry H. Clifford, Buchbesprechung, in: California Historical Society Quarterly, XLI (September 1962), 259f.

15 Abbott, New Worlds to Seek, 232, Anm. 24.

16 Manuskript 31/3/22; New Worlds to Seek, 139 und 236, Anm. 40.

Heinrich Lienhards Biografie 1822–1846

Kindheit und Jugend auf dem Ussbühl 1822–1843

Heinrich Lienhard wurde am 19. Februar 1822 in Bilten, Kanton Glarus, geboren. Er war ein Nachfahre Conrad Leonhardts1 von Urnäsch, der im 17. Jahrhundert aus dem Appenzellerland in die Linthebene gezogen war und sich am Ussbühl niedergelassen hatte, einem zu Bilten gehörenden Weiler. Heinrichs Eltern, Kaspar und Dorothea Lienhard-Becker,2 bewirtschafteten einen einfachen Bauernhof mit einigen Hektar Land und einem bescheidenen Viehbestand. Dorothea Lienhard gebar sieben Kinder, von denen drei im ersten Lebensjahr starben.3 Heinrichs Geschwister waren Peter, geboren 1812, Barbara (1819) und der jüngere Bruder Kaspar (1825).

Lienhards Geburtshaus steht in malerischer Lage hoch über dem Talgrund, nur ein paar Schritte von der Kantonsgrenze entfernt, die den Ussbühl in eine schwyzerische und eine glarnerische Hälfte trennt. Es ist noch heute in Familienbesitz und bietet seinen Bewohnern einen einzigartigen Blick von der March im Westen, über das weite Riedland der Linthebene im Norden bis zu den Vorläufern der Glarner Alpen im Osten. Hinter dem Haus ragt der bewaldete Nordhang des Hirzli in die Höhe, über den ein steiler Fussweg zum ehemaligen Bergland der Familie hinaufführt, wo Heinrich oft Vieh hütete und Holz sammelte. Auf alten Karten ist dort noch die Bezeichnung «Lienhard-Berg» (heute Hämmerliberg) zu finden, dem früheren Brauch entsprechend, eine Alpweide nach ihrem Besitzer zu nennen.

Obwohl seit seiner Jugend auf dem Ussbühl viele Jahre vergangen sind, blickt Heinrich Lienhard beim Schreiben ohne Verklärung auf jene Zeit in der alten Heimat zurück, wenn er gleich zu Beginn seiner Erinnerungen feststellt: «Meine Eltern waren brave und arbeitsame Bauersleute, welche uns, solange ich mich zu erinnern weiss, zu strenger Zucht und zur fleissigen Arbeit hilten.»4 Die unbeschwerten Kinderjahre waren von kurzer Dauer, denn der Vater setzte dem fröhlichen Kritzeln auf dem grossen Schiefertisch in der Wohnstube bald ein Ende. «Schon im sechsten Jahre musste ich Vieh hüten», erzählt Lienhard, «man band einer Kuh, welche im Sommer nicht auf die Alpen getrieben wurde, einen Strick um die Hörner, an diesem musste ich sie auf unserm Grundstück halten.»5 In den folgenden Jahren wurde der Viehbestand auf zehn bis fünfzehn Tiere vergrössert; der Hütedienst erstreckte sich nun im Frühling und Herbst jeweils über die ganze Woche, einschliesslich Sonntag, und er wurde auch schwieriger, besonders auf Wiesen, wo es weder Hecken noch Zäune noch Gräben gab.

So ist es nicht verwunderlich, dass ein kleines Drama während des Viehhütens zu Lienhards ersten und eindrücklichsten Kindheitserinnerungen gehörte. Es ereignete sich im Sommer auf dem Bergland, wo das Hüten besondere Aufmerksamkeit erforderte. Der Tag war schwül, die von Fliegen und Mücken geplagten Tiere wurden unruhig und versuchten, durch Gebüsche und Wald davonzulaufen. Heinrich war auf Geheiss seines älteren Bruders damit beschäftigt, Tannäste einzusammeln, als ein junger Ochse, der sich ein wenig von der Herde entfernt hatte, auf einer Felsplatte ausrutschte und in einen der steilen Lattenzüge fiel, eine Art grosse Rutschbahnen, auf denen Heuballen und Bäumstämme bequem ins Tal befördert werden konnten. Auch der Ochse glitt nun wie ein Stück Holz einem nahezu senkrechten Felsabsatz zu und stürzte über diesen hinaus in die Tiefe. Weinend rief Heinrich zum Elternhaus hinunter um Hilfe, worauf bald der ältere Bruder bei ihm erschien. Er hörte sich die Geschichte an und machte sich dann auf die Suche nach dem Tier, «mich noch versichernd», so Lienhard, «dass ich dafür vom Vater ganz sicher eine recht ordentliche Portion Prügel bekommen werde».6

Der Bemerkung Peters hätte es kaum bedurft, denn Heinrich wusste selbst, was ihn erwartete: «Es war bereits dunkel, als ich unter grossem Bangen unser Haus erreichte, Vater und Bruder waren noch an der Stelle, wo der junge Ochs endlich nicht mehr weiter rollen konnte. Was mir die Mutter vom Vater mich betreffend sagte, war wenig ermunternd für mich. Sie hiess mich in die Wohnstube gehen, wo ich hinter dem Ofen fast mit Todesangst die Ankunft des Vaters erwartete.»7 Dass er an diesem Abend ohne Schläge davonkam und der Vater nur schimpfte, erschien ihm wie ein Wunder; er ahnte wohl, dass er dies der Fürsprache seiner Mutter zu verdanken hatte. Doch auch der scharfe Tadel prägte sich ihm tief ein: «Die Worte des Vaters, er würde mich dem Ochsen nachgeschmissen haben, wenn er dabei gewesen wäre, machten ein unvergesslicher Eindruck auf mein Gemüth, war es mir doch, als ob ich bereits über die Felsen und Abhänge des Lattenzugs hinunter stürze, Hals und Knochen bräche und natürlich mause Tod unten ankomme.»8

Der Zwischenfall hatte ein Jahr später ein Nachspiel, indem sich an derselben Stelle das gleiche Unglück ein zweites Mal anbahnte. Die Worte des Vaters noch deutlich im Gedächtnis, unternahm Heinrich ein riskantes Klettermanöver, um das Tier vor dem Hinunterfallen zu bewahren. Als er später dem Vater davon erzählte und ihm die gefährliche Stelle zeigte, meinte dieser, Heinrich hätte sich wegen des Tieres nicht derart in Gefahr begeben dürfen. Der Knabe erinnerte ihn darauf an seine früheren Worte, «da wurde er noch ernster und besonders still; er sagte mir, dass wier einen Zaun bauen werden, damit dann keine solche Gefahr mehr mir entstehen soll».9 Und mit besonderer Genugtuung erfüllte es Heinrich, als er abends den Vater zur Mutter sagen hörte: «Das war eine rechte Torrheit von mir, dass ich dem Jungen damahls sagte, dass, wenn ich dabei gewesen wäre, als der frühere Stier den Lattenzug hinunter fiel, ich ihn auch mit hinunter geschmissen haben würde. Wäre der arme Junge jetzt tod, so müsste ich mir mein Leben lang Gewissensvorwürfe machen!»10

Für Kaspar Lienhard war es selbstverständlich, dass seine drei Söhne Bauern würden. Für seine Frau und Kinder blieb dies nicht ohne Folgen: «Da mein Vater trotz seinem Zeitunglesen denselben Grundsätzen wie die meisten übrigen Bauersleute huldigte, nämlich: ‹Bleibe im Lande und nähre dich Redlich!›, so meinte er, dass seine Söhne ganz Dasselbe Leben treiben müssten, wie er, sein Vater und sein Grossvater es getrieben, und so glaubte er sich verpflichtet, so viel Land zu kaufen, dass jeder von uns die Bauerei auf ähnliche weise wie er betreiben sollte. Da er aber dieses viele Land nicht alles bezahlen konnte, musste er sich in Schulden einlassen, und nun gab es erst recht alle Hände voll Arbeit.»11 Während der grosse Bruder auf dem Hof zupackte, wie der Vater es von ihm erwartete, entwickelte sich Heinrich schon früh in eine andere Richtung. Er hütete ungern Kühe, liess sich vom älteren Bruder nur widerwillig Befehle erteilen und nahm auch die ihm vom Vater verordneten Arbeiten in Feld und Stall ohne grosse Begeisterung an die Hand. Er war ein neugieriges Kind und ging gerne zur Schule, wo sich schon bald andere Interessen und Begabungen bemerkbar machten. Kaspar Lienhard beobachtete diese frühen Anzeichen von Unabhängigkeit mit Argwohn und war offensichtlich entschlossen, auch Heinrich zum Bauern zu erziehen – wenn möglich durch Arbeit, wenn nötig durch Strafen.

An die harten, oft ungerechten Strafen erinnert sich Lienhard mit bitteren Gefühlen: «Die Jahre vergiengen auf diese weise auf gleichförmige art. Ich hatte bei den gewöhnlichen Arbeiten mitzuhelfen; schon im neunten Jahre musste ich helfen Heu rechen und Grund umgraben, und war ich da nicht so fleissig, wie mein Vater meinte, dass ich sein könnte, so gab es Ohrfeigen in Hülle und Fülle, so dass eines Abends ein Nachbar meinem Vater ordentlich Vorwürfe derwegen machte. Ich erinnere mich noch sehr wohl, dass ich beorfeigt wurde, blos weil ein Nachbar einige (wie mein Vater glaubte) ungerechte Ausdrücke gegen ihn sich erlaubte. Freilich that es ihm gleich nachher wieder recht leid derwegen, aber die Straffe war damit nicht Ungeschehen zu machen, und es war für mich nur ein schlechter Trost, ja ich war schon lange gewöhnt, mich selbst als eine Art Sündenbock zu betrachten, indem ich fast immer nach Vaters Ansicht der allein Schuldige für alles sein musste, wenn etwas nicht gieng, wie er es wünschte.»12

Umso wichtiger war für Heinrich der Einfluss seiner Mutter. Sie versuchte stets zu vermitteln und zu schlichten, und ihre vernünftigen Worte bewirkten oft, dass eine Strafe des Vaters milder ausfiel als befürchtet: «Meine Mutter war eine anständige, brave Frau und gute, sorgsamme Mutter, welche ihre Liebe gleichmässig auf ihre Kinder vertheilte. Sie war viel mehr befähigt, die Eigenschaften ihrer Kinder zu beurtheilen, als der Vater. Wenn sie es für nöthig hielt, konnte sie auch strafen, und ihre Strafe war empfindlich, aber sie versuchte es doch auch mit gütigen Worten und Mahnungen, und diese hatten immer ihre guten Wirkungen.»13

Neben der Mutter fand Heinrich in der Person des Gemeindepfarrers von Bilten einen wichtigen Verbündeten. Rudolf Schuler war ein engagierter Kämpfer für die allgemeine Schulpflicht und ein grosser Förderer des Glarner Schulwesens.14 Dank seinem unermüdlichen Einsatz gab es in Bilten früher als in den meisten anderen Gemeinden des Kantons ein Schulgesetz, das die Eltern verpflichtete, ihre Kinder bis zum 16. Altersjahr zur Schule zu schicken,15 und er sorgte auch dafür, dass es befolgt wurde: «Genaue Absenzenverzeichnisse wurden geführt und die saumseligen Eltern und Kinder erst ermahnt, dann vor Stillstand citirt, und wenn dies nicht fruchtete, gab es auch einzelne Fälle, die der Obrigkeit verzeigt wurden.»16 Während der Pfarrer für die unteren Klassen einen Hilfslehrer einstellte (aber die Aufsicht über alle Klassen vertrat), übernahm er die oberen Klassen der Dreizehn- bis Sechzehnjährigen selbst. Sein Lehrplan umfasste Sprache, Religion, Rechnen, Vaterlandsgeschichte, biblische Geschichte, Geografie sowie Zeichnen und Musik. Rudolf Schuler galt als strenger Lehrer, doch Heinrich verlor seine Angst vor ihm schon am ersten Schultag, als der Pfarrer auf ihn zutrat, ihn nach seinem Namen fragte und für seine ersten Schreibversuche lobte. Er merkte bald, dass der Pfarrer die Schüler, die sich Mühe gaben, freundlich behandelte und nicht überforderte, «er war mehr gegen Nachlässige oder Possenreisser manchmahl etwas scharf, welche es aber auch gewöhnlich wohl verdienten.»17

«Ich machte im Ganzen wenn auch gerade keine riesigen, doch zimmliche Fortschritte in der Schule», meint Lienhard rückblickend, «so dass ich die zwei letzten Jahre meistentheils, das letzte Jahr aber fast Fortwährend der Oberste in der Klasse18 beim Pfarrer war. Geographie, Gegensätze19 und Aufsätze waren mir angenehme Beschäftigungen, und gab es einmal zur Abwechslung Naturhistorische Geschichte, so war ich mit Leib und Seele dabei. Ich gestehe, dass es aber auch Dinge gab, welche ich nicht gern lernte, ja sogar eine art Antipaty dagegen hatte. Eines war Noten lernen, ein sehr langweiliges Geschäft für mich, da ich ja bald jede Melodie nach ein paarmahligem Abhören schon auswendig konnte. Dann war das ortographisch Richtigschreiben mir ganz Wiederwärtig. Ich begreife Heute noch nicht, warum ich mich in diesen zwei Fächern nicht besser befleisste, besonders im Letzten. Gramatikalisch und Ortographisch Richtig schreiben können ist gewiss zu jeder Zeit eine Hauptsache. Dieses wusste ich indessen Recht wohl, aber der Wiederwillen dagegen war leider zu gross, als dass meine Vernunft darüber gesiegt hätte.»20


Pfarrer Johann Rudolf Schuler (1795–1868), Lehrer und Förderer Heinrich Lienhards.

Ungeachtet dieser Abneigung gegen die Orthografie schrieb Heinrich gerne Aufsätze, wobei der Pfarrer ihn nach Kräften unterstützte. Er bedachte die Arbeiten seines Schülers stets mit lobenden Worten und vermittelte ihm dadurch Selbstvertrauen im schriftlichen Ausdruck sowie Freude am Erzählen, Eigenschaften, ohne die später vermutlich weder Reisenotizen noch Manuskript entstanden wären. Zwischen Pfarrer Schuler und Heinrich Lienhard scheint vom ersten Schultag an eine Art stilles Einverständnis bestanden zu haben: Schuler freute sich über den Lerneifer des aufgeweckten Bauernbuben vom Ussbühl, und Heinrich fand beim Pfarrer die Anerkennung und Förderung, die sein Vater ihm nicht geben konnte.

Die folgende Episode zeigt anschaulich, wie viel dem Heranwachsenden die Wertschätzung des Pfarrers bedeutete und wie bestrebt er war, sich diese zu erhalten. Eines Tages beobachtete Heinrich bei einer Schreibübung, dass einige Kameraden in der Reihe vor ihm eine kurze Abwesenheit des Pfarrers dazu benutzten, bei den vor ihnen sitzenden Mädchen abzuschreiben. Als der Pfarrer zurückkam, ging er durch die Bankreihen, korrigierte nacheinander alle Schiefertafeln und strich bei Heinrich sechzehn Fehler an. «Ich hatte allerdings viele erwartet», gesteht dieser, «aber doch soviele nicht, und im Bewusstsein, dass die Untern ihre Aufgaben gar nicht selbst gemacht hätten, machte ich anstatt der 16 nur 14 auf die Tafel, und zwar schnell und im selben Augenblick, als der Pfarrer dem Nächsten nach mir die Tafel abnahm. Als ich diese famose That begangen, zeigte ich die Tafel meinem nächsten Nachbar. Nun war aber auch seine Tafel schon kurigirt; er hatte einige Fehler weniger als ich, drei oder vier der Untern aber noch weniger.

Als alle kurigirt waren, kam der Pfarrer wieder zu mir, um zu fragen, wie viele Schreibfehler ich habe (denn jetzt sollten die Schüler danach die Plätze wechseln), leider gab ich ihm nicht die Sechszehn, sondern nur Vierzehn an. ‹Das ist nicht die Wahrheit›, sagte er, ‹hast du nicht Sechszehn?› – ‹Ich habe Vierzehn, Herr Pfarrer!›, war meine Antwort, denn ich dachte, wenn einer 16 hat, muss er gewiss 14 haben und lügt daher nicht, wenn er so sagt. Aber ein Schlag auf mein Gesicht – es war der Erste und auch der Letzte, den er mir je gab – lehrte mich sogleich, dass der Pfarrer die Sache anders auffasste als ich. Ich war sehr ärgerlich, aber noch mehr beschämt, und bereute sogleich, diesen Betrug versucht zu haben. Doch sagte ich ihm noch, dass mehrere Nachbarn ihre Aufgabe gar nicht selbst gemacht und sie sowohl als ich Strafe verdient hätten; denn ich hatte sie noch lachen sehen und war nicht geneigt, still zu bleiben.»21

Der Pfarrer liess sich dadurch aber nicht beeindrucken, denn er schien entschlossen, dem Knaben eine Lehre zu erteilen, die ihm das Lügen in der Zukunft verleiden würde. Nicht nur liess er die Mitschüler ungestraft, sondern er befahl Heinrich auch, sich an einem gut sichtbaren Ort hinzustellen und sich zu schämen. «Ich fühlte diese Demüthigung nur zu sehr», erinnert sich Lienhard, «auch war ich überzeugt, dass ich sie reichlich verdient habe, und ich nahm mir vor, in Zukunft durch gutes Betragen und tüchtiges Lernen den guten Willen des Pfarrers wieder zu gewinnen.»22 Den Mitschülern zeigte Heinrich seine Verachtung, indem er sich anderntags nicht, wie der Pfarrer es verlangte, neben die «Abschreiber» setzte, sondern freiwillig in die unterste Bank. Der Pfarrer schien ihm die kleine Eigenmächtigkeit nicht übel zu nehmen, sondern behandelte ihn, wie Heinrich erleichtert feststellte, sogar freundlich, «wodurch ich nur noch mehr in meinem Beschluss erstarkte, in Zukunft mir keine derartige Vergehen mehr zu schulden kommen zu lassen».23

Er wusste, dass die beste Gelegenheit, das Vertrauen des Pfarrers zurückzugewinnen, der nächste Aufsatz sein würde. Aufsatzschreiben stand zwar erst in einigen Tagen auf dem Programm, aber möglicherweise bemerkte der Pfarrer die Ungeduld seines Schülers, und vielleicht war er ja auch selbst nicht ganz glücklich über die Ohrfeige vom Vortag – jedenfalls entschied er sich, sein Unterrichtsprogramm zu ändern. «Gegen mein Erwarten und zu meiner grossen Freude erhielten wir am selbigen Tage schon den Auftrag, auf den nächsten Tag Aufsätze zu schreiben, und er gab uns die Wörter auf, über welche wier schreiben sollten, die er dann wie gewöhnlich einigermassen auseinander setzte. Ich konnte meine Freude darüber kaum verbergen, und ich erinnere mich noch sehr wohl, wie mich der Pfarrer lächelnd ansah. Er mochte wohl wissen, was ich empfand, und ich glaube, dass ich das empfand, was er sich vorstellte. Mit besonderm Eifer gab ich mich meiner Aufgabe hin, um das Wort oder die Meinung und Bedeutung dessen womöglich recht und richtig zu erklären, auch gab ich mir Mühe, dass Dieselbe so Fehlerfrei als möglich ausfiel.

Mit Begierde erwartete ich am nächsten Tag den Augenblick, wo er unsere Aufsatzschriften entgegen nahm, und konnte meine Ungeduld kaum mässigen, bis ich die Meinige, von ihm kurigirt und mit seinem geschriebenen Urtheilsspruch darunter, wieder zurück erhielt. Meine Erwartung war nicht nur nicht getäuscht, sondern übertroffen, denn es war das beste Urtheil, welches mir bis dahin zu Theil geworden. Und es war für mich eine besondere Genugthuung, auf diese art und so bald den ersten Platz wieder einzunehmen, und ich konnte ein kleines, frohlockisches Lächeln kaum verbergen, ja sogar der Pfarrer selbst schien mir dadurch ein wenig Vergnügt. Von nun an blieb ich oben, und ich führte mich so auf, dass ich keinen Grund mehr zur Unzufriedenheit gab.»24

Pfarrer Schulers für damalige Zeiten fortschrittliche Ideen stiessen bei vielen Eltern auf Unmut und Ablehnung, so dass er sich zeitweise heftigem Widerstand ausgesetzt sah. Gerade das häufige Aufsatzschreiben entwickelte sich zu einem Stein des Anstosses bei der Dorfbevölkerung, denn «dabei sollen von den Kindern oft 10 bis 20 Seiten lange Aufsätze eingeliefert worden sein, manche bis spät in die Nacht hinein darüber gearbeitet haben. Hatte daran der Hr. Pfarrer seine Freude und spornte er durch Ruhmeserhebung der Fleissigen auch die Andern zu ähnlichen Leistungen an, so erschienen diese Hausaufgaben seinen Leuten von Bilten als etwas Unerhörtes, zu der Väter Zeiten nicht Dagewesenes, als eine all zu überspannte Forderung, und beschloss desshalb die Gemeinde 1835, dass alle und jede Aufsatzarbeit bei Hause untersagt sein solle und erneuerte dieses Verdikt auch 1837, 1839 und noch wieder 1853.»25

Nicht viel besser erging es dem Pfarrer mit seinen Bemühungen, die persönlichen Talente der Schüler zu fördern. Heinrich war unter den Mitschülern als «Zeichenkünstler»26 bekannt, und auch dem Pfarrer war seine Begabung nicht lange verborgen geblieben. Er brachte ihm deshalb zuerst einfache, dann immer anspruchsvollere Vorlagen mit, die der Knabe nach Hause nehmen durfte, um sie abzuzeichnen und die verschiedenen Formen zu üben. Vom Lob des Pfarrers ermutigt, scheint Heinrich dabei jenen Eifer entwickelt zu haben, den sein Vater bei der Arbeit in Feld und Stall vermisste. Die Folgen waren hart für Heinrich: «Gerne wollte ich regnerische Tage zum Zeichnen benützen, aber da hiess es vom Vater: ‹Heraus mit dem faulen Kerl, ich will ihm schon zeichnen mitten im Tage, wenn man so viele nöthige Arbeit zu verrichten hat! Deine Zeichnerei bringt uns doch kein Brod ins Haus, ist auch für Bauersleute ganz unnütz.›

Mein Vater war überhaupt der Ansicht, dass ein Bauer nebst Schreiben, Lesen und Rechnen sonst gar keine weitere Schulkenntnisse bedürfe. Unter diesen Umständen blieb mir daher keine Zeit zum Zeichnen ausser Abends, nach dem Abendessen, beim trüben Schein der Öllampe. Da mag Jeder, der es versucht hat, schon wissen, ob man dabei Vortschritte machen kann und ob dessen Augen eine solche Anstrengung auf längere Zeit aushalten können. Die meinigen entzündeten sich bald, und ich ward verbunden, das Zeichnen für eine Zeitlang ganz zu unterlassen. Unser Pfarrer meinte zwar, meine Eltern bewegen zu können, dass sie mich entweder zum Maler, Musterzeichner oder Bildhauer ausbilden lassen sollten, indem er sagte, dass es eine Sünde sei, ein solch gutes Talent nicht auszubilden, womit ich in Zukunft ein gutes Auskommen finden könnte. Doch war alles umsonst, und mein Vater war darin nicht zu bereden.»27

Am Palmsonntag 1838 wurde Heinrich konfirmiert und damit aus der Schule entlassen. In Bilten gab es zu jener Zeit keine Möglichkeit, eine höhere Schule zu besuchen, und auswärtiger Schulbesuch kam nicht in Frage. Auch später noch merkt er dies mit Bedauern an: «Ich erinnere mich noch sehr wohl, wie ich Jünglinge meines alters oft um ihr Glück beneidete, deren Eltern befähigt waren, sie auf höhere Lehranstalten zu schicken, und welche dann in den Ferienzeiten mit punten Farben um ihre Kapen oder farbigen Schlingen als sogenannte Studenten fröhlich nach ihren Heimathen zurück kehrten. Nach meines Vaters Wille sollte ich von nun an ganz Bauer werden, denn dass man mich nach meinem Geschmack, Willen oder Talent frage, fiel meinem Vater natürlich nicht ein. Das musste der Vater ja besser wissen als ich, so meinte er, und damit hatte ich mich zu fügen, mochten da meine Gedanken in die weite, liebe Welt hinaus schweifen, so viel sie wollten. Und wie oft schweiften meine Gedanken hinaus, besonders wenn ich oben auf dem Berg beschäftigt war! Die herrliche Aussicht über das weite Thal, in welchem unser Vaterhaus stand, die Berge, Tähler, Flüsse und Seeen von vier sich nahegrenzenden Cantonen, die prachtvolle Aussicht auf den Zürichsee mit seinen zahlreichen prächtigen Ortschaften! Dorthinunter, dorthinaus, war es mir immer, werde, ja müsse ich einst auch gehen. Doch waren dieses vor der Hand nur eitle, sehnsüchtige Träume, und mir schien nur wenig Aussicht vorhanden, dass diese Träume jemahls realisirt werden würden.»28

Ganz so hoffnungslos war seine Lage jedoch nicht, denn ein anderer junger Mann in der Familie hatte dieselbe Idee bereits in die Tat umgesetzt: Heinrich Schindler aus Mollis, ein Cousin zweiten Grades, war Anfang Dreissigerjahre in die USA ausgewandert. Mochten die Umstände, unter denen er seine Heimat verlassen hatte, auch nicht die glücklichsten gewesen sein,29 so las Heinrich dennoch fasziniert seine Briefe und fasste bereits damals heimlich den Entschluss, später ebenfalls nach Amerika zu reisen. Drei Jahre nach Heinrich Schindler erfüllten sich auch zwei Cousins, je ein Sohn zweier Brüder des Vaters, diesen Traum, und es ging ihnen gut in den USA.30 Ihre Nachrichten hielten Heinrichs Fernweh wach und bestärkten ihn in seinem Gefühl, das Leben werde auch ihm mehr zu bieten haben als nur harte Arbeit und eine bescheidene Existenz auf dem Ussbühl.

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