Kitabı oku: «Die Jagd nach Liebe», sayfa 6

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V.
Der Bruder

Claude nahm eine möblierte Wohnung, ein gleichgültiges Nachtquartier. Seine Tage verbrachte er mit Ute in dem Stockwerk, das er ihr ausstattete, oder bei den Lieferanten. Sie interessierte sich wenig für ihre Möbel; sie mußten einfach schick sein. Übrigens wurden sie nicht abgestaubt: das englische Mahagoni-Empire des Salons war immer bestreut mit Kämmen und Reclams Theaterbüchern. Es war also, wie Ute feststellte, schon alles eins.

Ihr Ehrgeiz erwachte erst, wenn es an die Stilisierung der eigenen Person ging. Sie stand im Anprobekabinett des Modehändlers. Ihr Rock lag um ihre Füße her eine Handbreit am Boden. Hinauf bis zu den Knien wölbte er sich weit, schwer bestickt, eine Kuppel von gehäuften Blättern, Ranken, Pflanzen. Und ihr entstieg triumphierend die schwarze, steile Linie aus Schenkeln, Hüften, Brust und Schultern. Die Arme hingen daneben, tragisch steif. Das Haar prunkte mit dunkler und heftiger Glut über diesem bleichen Kopf, diesem rückwärts gelehnten, auf dem Rande des hohen Kragens weiß aufgeblühten. Claude bemerkte andächtig, dies sei eine reicher lohnende Kostbarkeit, als stellte man sich auf den Schreibtisch eine Figur namens »Medusa« oder »Diseuse«.

Der Chef wollte ihnen wohl. Er sagte zu Ute:

»Dieser Rock, gnädige Frau, kostet mich 700 Franken. Dem Brodeur habe ich 300 Franken geben müssen. Ich zeige ihn den meisten Damen gar nicht, ich befehle den Mädchen, ihn nicht zu zeigen. Ihnen, gnädige Frau, zeige ich ihn.«

Er rechnete nur nach Franken, trug einen weißen Ziegenbart und versuchte, französischen Akzent zu sprechen.

»Wird die Futterseide nicht reißen?« fragte Ute.

»Gnädige Frau, kränken Sie mich nicht, bei mir reißt nie etwas. Mir kann etwas Menschliches passieren, aber es ist selten. Es ist meine Natur, den Damen stets nur das Beste zu kaufen und anzubieten, und gegen meine Natur kämpfe ich nicht an.«

Ute fand die Anschaffung im Grunde überflüssig für das Theater. Es käme darauf an, möglichst viel zu haben fürs Geld, also schick und unsolid.

»Bei den kleinen Theatern muß man alles spielen, aber alles. Man braucht mehr Kostüme als auf ersten Bühnen.«

»Deinem Direktor zu imponieren«, sagte Claude, »kann nie schaden.«

Ute gab das zu, und das Kleid wurde gekauft. Der Chef gab ihnen auf den Weg:

»Ich verführe Sie noch zu vielem, gnädige Frau. Ich werde Sie so bedienen, daß es Ihnen und mir zur Freude gereicht.«

Aber der freudigste war Claude.

Er hatte in dieser Zeit nur einen Kummer; den verursachte ihm Utes Freundin Bella, wenn sie mitging. Denn erstens verminderte sie dadurch seine eigene Wichtigkeit. Und dann riet sie zu Sachen im Kokottengeschmack.

»Mein Gott, Fräulein Bella, warum müssen es denn auf der Straße immer Hängekleider sein?«

»Mein Papa hat sie gern«, erklärte Bella. Ute sagte:

»Sie haben Zukunft.«

»Dann müssen sie erst was anderes werden als aufgeputzte Schlafröcke«, meinte Claude, gut bürgerlich. »Und zu diesem Hut werden Sie Ute nicht bewegen. Ich habe ihn, außer bei Ihnen, erst bei einer Dame gesehen, und das war keine.«

»Aber Papa findet ihn fesch.«

»Ihr Papa sieht gern Kokotten. Darum müssen Sie sich so anziehen, damit er die Illusion hat.«

»Die Kokotten«, sagte Bella sanft, »gefallen doch nicht meinem Papa allein, sondern allen Herren. Warum sollen wir das nicht auch dürfen. Die Kleider, die heute noch zu schick für uns sind, nächstes Jahr, wenn die Kokotten sie abgelegt haben, kriegen wir sie ja doch.«

Ute behauptete, auf der Bühne müsse man ohnehin immer aussehen wie eine Kokotte. Das verlange die Wirkung auf viele. Die anständige Frau wirke zu intim.

Claude mußte das einsehen, aber Bellas entledigte er sich darum doch vermittels vieler Listen, indem er ihr falsche Rendezvous gab, sie in Konditoreien lockte, wo sie stundenlang bei Schlagsahne saß, bis Claude sie erlöste, alles bezahlte und Bella nach Hause schickte: Ute habe ein ganz dringendes Billett vom Schneider bekommen.

Und er kehrte zurück zu ihr mit irgendeiner guten Nachricht – die gemalten Monogramme auf ihren Handschuhen würden reizend – und die Arme voll Blumen. Ute war hinter der angelehnten Tür ihres Schlafzimmers, im seidenen Unterrock, der knisterte, und im Mieder, das krachte. Sie trug kein Korsett. Sie streckte ihm durch den Spalt ihren vollen, elastischen Arm entgegen. Er drückte die Hand; dann hörte er artig ihren Bewegungen zu, die er nicht sah, empfing Mitteilungen über eine Rolle und ein Kleid. Endlich kam sie, und sie fuhren ins Theater.

Sie aßen zusammen; da Ute die eigene Wirtschaft langweilte, meistens im Restaurant. Claude zog sich dafür an, Ute war in Soirée-Blusen, in »Fedoras« und »Magdas« Hüten, in Boutons und Veilchen. Die Veilchen unterm schwarzen Hutrand, auf ihrem roten Haar! Sie plauderten angeregt miteinander, sahen niemand an, genossen es, sich schick zu fühlen.

Manchmal blieben sie abends zu Hause und rauchten Zigaretten unter einem mächtigen gelben Lampenschirm. Claude hielt darauf, daß der Hintergrund für Utes Haar orangefarben sei. Sie sagten sich ihre Eindrücke und ihre Wünsche; aber Utes waren zahlreicher. Claude kannte sie alle. Er wußte, in welchen Stücken sie zu glänzen gedachte, welches Stadt- und welches Hoftheater sie zuerst erobern würde, welchen Weg sie auf ihrer ersten Gastspielreise nehmen wollte, wie reich und wie berühmt sie sein müsse, bevor sie, ganz unerwartet, sich in eine Villa zurückziehe, irgendwo an einem distinguierten Ort.

Er wußte ihre Schuh- und ihre Handschuhnummer. Und da sie ihn unbedenklich auch zu geheimeren Besorgungen verwendete, lernte er die Länge ihres Schenkels berechnen, den Umfang ihrer Büste und ihrer Wade. Er beherrschte alle Maße ihres Körpers, war eingeweiht in seine oft geübten Gesten und vertraut mit den Stoffen, die ihn einhüllten bis auf die Haut hinab, deren Schönheitsmittel ihm geläufig waren. Er kannte seine Freundin ganz. Ihre Seele, kühl und ganz aus Willen, sah ihn aus der Tiefe ihrer weiten grauen Augen frei an. Er fühlte sich selber frei, ohne Schwüle, ruhig auf sich selbst gestellt, auf sich und sie. Denn sie waren ineinander hinübergewachsen, enger, als wenn sie ein Verhältnis gehabt hätten. Ute sprach vom Sommer, als würden sie sich gar nicht trennen. Vielleicht wäre ihr dies jetzt gezwungen vorgekommen, und sie fand es natürlich, wenn er mitkam? Aber alles, was sie wollte! Als Souffleur, als Lampenputzer! Doch aus einem Rest Vorsicht fragte er lieber nicht. Um elf Uhr schüttelte er ihr die Hand und ging fort.

Er stand früh auf, machte Spaziergänge durch den Englischen Garten und durch den Frühling. Er sah zum erstenmal Sonnenaufgänge. Er schloß genaue Bekanntschaft mit drei, vier Baumgruppen. Dort, um jenen Ast hatten gestern lauter purpurne Ringe gelegen, leuchtend grün durchsprenkelt. Unter diesem Busch hatte Claude im Grase ein goldenes Armband gefunden; und es war die Sonne. Er merkte sich's. Er sammelte Seligkeiten, speicherte in seinem Gedächtnis alles Glück auf, verschwenderische Gewinste, die es für ärmere Zeiten zu sparen galt. Manchmal stand er still und sagte erstaunt:

»Ich fange an zu leben.«

Er dachte zurück.

Mit fünfzehn hatte er, ein schwächlicher, verträumter Junge, auf Sofas gelegen und weinend das Schicksal befragt, ob er je die Glieder einer Frau um seine fühlen werde. Plötzlich hatte er sich entschlossen und gleich eine ganze Menge Glieder zu fühlen bekommen, gegen bar. Mit sechzehn hatte er Ute begehrt, nur sie, mit einer Angst und in einem Geheimnis, die ihn bleich machten und ihm eine Levikokur eintrugen. Mit siebzehn hatte er sich die erste Modistin angeschafft. Mit neunzehn hatte er die Frau Kahn gehabt, eine Amerikanerin, die bei seiner Mutter verkehrte; oder vielmehr sie ihn. Nun war er zwanzig, und nun lebte er mit Ute. Jeder Schritt, den er machte, jeder Gedanke, in den er einlenkte, führte zu ihr. In ihrem Kopfe konnte kein Bild entstehen, in das nicht seine, Claudes Gestalt, getreten wäre. Mit fünfzehn, als er zweimal wöchentlich eine andere Kokotte probierte, schwamm es im Horizont immer von Brüsten und Beinen. Es war die kurze Zeit, als jedes neue Weib für Claude ein Paradies gewesen war. Für den Herrn Panier war es das noch mit vierundsechzig. Aber woher strömte der märchenhafte Frühling, in den gebadet nun Claude umherging? Aus einer, nur aus der einen. Zum erstenmal im Leben fühlte er sich fast gesund. Er sah sich an jedem Morgen im sicheren Besitz des ganzen Tages, der voll zum Zerspringen war von ihren Worten, ihrem überlegenen Lachen, ihrem gerollten R, ihren an das Haar erhobenen Händen, ihrem Schritt – voll von ihr!

Eine alte Blumenverkäuferin beim Kontrolor in Nymphenburg, die den jungen Mann seiner Begleiterin nicht gewachsen fand, sagte einmal:

»'s tut halt nix 'm Menschen so gut wie 's Mailüfterl.«

Und Claude griff sich an die Schläfen, so überwältigt war er von dieser einfachen Wahrheit.

Es träumte ihm in mehreren Nächten, sein Vater sei wieder am Leben. Er erschrak, und er erwachte unter Tränen der Wut. Nachher zuckte er die Achseln über die Grausamkeiten, die jedes große Glück verlangte. Der arme Mann mußte tot sein, damit Claude frei sein und für Ute sorgen konnte.

Sie fuhren häufig nach Nymphenburg. Am siebenten Juni war es zum erstenmal ganz heiß. Sie wanderten um fünf Uhr den schattigen Kanal entlang. Dann schöpften sie Atem, bevor sie in den ungeheuren Kreis weißer Gebäude traten, den die Sonne anfüllte. Kein menschlicher Schatten bewegte sich darin; die bäuerischen Farben der Blumenbeete schwatzten fröhlich im Licht, das Lila der Fliederbüsche flüsterte nur. An den langen hellen Wasserbecken hielten Putten aus lauter steinernen Fettklößen dicke Königskronen empor; und in den Bassins wurden die blauen und weißen Himmelsmassen blasser und die Treppen und Schnörkel des Schlosses fast sehnsüchtig.

Diese Welt von ehemals war gegen alles Fremde verwahrt. Die gekalkten, mit Schindeln bedachten Häuschen schlossen sich kahl, demütig und heiter in einem Riesenrondell aneinander, bis vor die Füße der herrschaftlichen Pavillons; und in ihrer Mitte, ganz hinten, blähte sich der zopfig aufgedonnerte Haupttrakt. Man meinte einen rotbäckigen Rokokoherrn, gesund und geziert, sich spreizen zu sehen zwischen netten Pächterstöchtern.

Ute und Claude betraten jenseits des Palastes den Garten. Er war geschnitten, geordnet, mit Bildern bevölkert, durch Wasserläufe belebt. Er begrüßte sie wie ein gravitätisch lächelndes Gesicht. Die weißen Götter, sorgfältig gereiht, tanzten auf ihren Sockeln ein behutsames Menuett in die bleichgrünen und mattblauen Pastellfarben der Ferne hinein. Die Wasser empfingen freundlich jeden Reflex wie ein Kompliment. Es war unmöglich, einen der eigenen Pulsschläge zu spüren ohne Genugtuung und Güte. Claude und Ute faßten sich an den Händen.

Auf den Bänken saßen je zwei, die sich langsam auseinanderlösten, sooft jemand vorbeiging. Aber wenn Ute und Claude daherkamen, blieben sie zusammen. Claude bemerkte:

»Natürlich halten sie auch uns für ein Liebespaar.«

»Ach was«, sagte Ute, und dachte an etwas anderes.

»Glaubst du's nicht?« fragte er dringend. Es lag ihm auf einmal alles daran, daß man ihn für Utes Geliebten halte. Es mußte doch möglich sein, ihn wenigstens dafür zu halten!

»Nein?«

»Wer denkt daran«, meinte sie gleichgültig. »Das Volk, die Durchschnittsmenschen, kann sein. Wir, wir leben doch ganz woanders.«

»Menschen sind wir auch«, sagte er lächelnd. Sie stutzte.

»Das ist eigentlich wahr«, äußerte sie. »Du benimmst dich eigentlich sehr fein. Wenn ich denke –«

Sie sah ihn von der Seite an und schwieg. In einem weichen Lufthauch, der ihr Gesicht traf, unter dem Drängen eines liebeschweren Frühlings empfand sie einen Augenblick mit Erstaunen, wer da neben ihr ging. Ein Mensch, der sie liebte. Einer, der Minute für Minute sein Leben mit ihr überlud, mit Gedanken an sie, Sorgen und Opfern für sie. Es blieb ihr unbegreiflich. Sie hatten sich als halbe Kinder kennengelernt, gewiß, und sie war an ihn gewöhnt. Aber Gewohnheiten verlor man, und jeder hatte schließlich nur sich selbst. Was war Claude ihr, die in die Welt hinausfuhr und Kunst und Macht erarbeitete? Sie antwortete sich streng vernünftig: ein Fremder, nichts als ein angenehmer Fremder.

Claude, ihren prüfenden Blick auf seinem Gesicht, fühlte sich gequält, schon wieder gequält und im Blute entzündet von Sehnsucht. Nein, das Glück der vorigen Wochen war nichts gewesen als der kurze Stillstand eines langen Leidens, eines unerbittlichen, das zu etwas Schlimmem führte. Er begehrte Ute, er würde sein Leben lang nichts begehren als sie; und er hatte Angst davor.

»Nun?« fragte er mühsam. »Was sagtest du?«

»Daß du dich sehr fein benimmst«, wiederholte sie, herzlich betont. »Und daß ich dir danke.«

Sie drückte seine Hand. Aber er zog sie aus ihrer.

Sie hatten einen Seitenpfad eingeschlagen; der geregelte, vermenschlichte Garten ward ganz plötzlich zum Walde. Sie traten auf Moos, streiften an hängende Zweige, atmeten feuchten Schatten.

»Du bist wirklich ein Bruder«, sagte Ute noch, da Claude schwieg. Er antwortete, ohne zu überlegen, durch die geschlossenen Zähne hindurch:

»Aber einem Bruder, dem kann's auch einmal zuviel werden.«

»Was?«

Er wußte es selbst kaum.

»Ich denke nur an meinen Freund Gebauer, der sich erschossen hat.«

»Ach was, der war verrückt.«

»Das sagt man immer. Stell dir seine Lage vor. Als er siebzehn war, starb der Vater ohne Hinterlassenschaft. Gebauer ging von der Schule ab, er hatte die Schwester zu unterhalten, die war ein Jahr jünger; und dann war noch der Kleine da. Weil der Mangolf sein Onkel war, kam er in die Presse. Er war ja riesig geschickt, ohne irgendwas gelernt zu haben. Die auswärtigen Blätter hatten keine Ahnung, daß ihr pikantester Korrespondent achtzehn Jahre alt war. Er hat gearbeitet wie ein Besessener. Die Nerven natürlich kaputt, aber schließlich verdiente er zehntausend Mark. Er hatte mit Bruder und Schwester zusammen ein komfortables Heim. Die Schwester war eine Dame, ihr fehlte nichts. Du hast sie ja gekannt.«

»Flüchtig.«

»Sie sagte, sie müsse ihre Zukunft sichern, und ging nach Berlin ans Konservatorium. Nach drei Monaten kriegt der Bruder einen anonymen Brief; sie habe ein Verhältnis mit dem Baron Dingsda, irgendein ordinäres Tier, das so was als Beruf ausübt ... Darauf hat ihr der Gebauer ganz zart geschrieben, sich hundertmal entschuldigt, daß er das Gerücht überhaupt erwähne. Wie es denn in aller Welt nur habe entstehen können. Und nun kriegt er den unglaublichen Brief von ihr. Sie habe das mit vollem Bewußtsein getan, um aus der Abhängigkeit herauszukommen. Der glatzköpfige Dingsda reize sie natürlich gar nicht. Aber sie müsse sich Vermögen machen.«

»Das versteh ich eigentlich«, erklärte Ute.

»Das verstehst du? Na ja, daß du das sagst, und überhaupt, daß ihr so redet, das laß ich gelten, das ist wohl zeitgemäß. Aber wenn ihr's tut, siehst du, das verstehen nun wir nicht. Der Gebauer muß es wohl mißverstanden haben, er hat sich ja erschossen.«

»Bah«, machte Ute. »Der war ja verliebt in die Schwester.«

Claude blieb stehen, er wankte, wie bei einem Stoß vor die Brust.

»Was? Was sagst du?«

»Du weißt auch gar nichts. Ich hab mich damals mit Bella oft darüber aufgehalten. Die andern wußten es übrigens alle.«

»Wer, die andern?«

»Die andern Mädchen, die Freundinnen der Schwester.«

»Ja, ihr Mädel, ihr merkt das alles«, sagte Claude und ging gesenkten Kopfes weiter.

»Er hatte nicht den Mut zu seinen gewagten Gefühlen«, erklärte Ute geringschätzig.

»Wenn er sie liebte«, rief Claude wie unter einer Eingebung, »dann versteh ich ihn ja um so besser. Oh! um so tiefer versteh ich ihn dann.«

Ute schüttelte sich, voll Ungeduld.

»Hör mal, falls du je auf die Dummheit verfällst, die der Gebauer gemacht hat – von mir hast du kein Mitleid zu erwarten. Das ist doch zu dumm.«

Er machte eine Anstrengung, um ruhig zu werden.

»Du hast recht, die Geschichte war übertrieben. Solche körperlichen Verrichtungen wie das Totschießen nimmt ein Mensch von Geist nicht vor. Aber wenn ich je erfahre, daß du ein Verhältnis hast – es ist schon sicher, das wird ein böser Moment für mich.«

»Ich könnte dir sagen, daß dich das gar nichts angeht. Jeder hat doch sein Leben für sich, nicht wahr. Ich will aber ein übriges tun, und wenn mir mal was passiert, sollst du's durch mich selber wissen. Tröstet dich das?«

»Vielleicht«, sagte er, und er hatte gezögert. »Glaubst du denn, daß dir was passieren wird?«

»Du fragst kindisch!«

»Allerdings.«

»Wie kann man so was wissen. Mich zu verlieben, ich hab's dir schon gesagt, dazu fühle ich mich nicht veranlagt ... Nein, ziemlich sicher, niemals«, setzte sie hinzu, ganz sachlich, nachdem sie in sich hineingeblickt hatte. »Übrigens schreib ich dir. Und dann sehen wir uns ja wieder.«

So sprach sie zum erstenmal. Claude war auf einmal ganz überschauert von der Angst vor der Trennung. Bisher hatte er sie nur vorausgewußt; jetzt erst glaubte er an sie, an das Unfaßbare, wie wenn das Herannahen des Sterbeaktes ihn endlich an den Tod hätte glauben lassen. Er fragte, halb von Sinnen:

»Nun mußt du wohl bald Nachricht kriegen?«

»Meinetwegen«, sagte sie entschlossen. »Ich bin mit allem fertig. Drei Kisten mit Kostümen hab ich schon weggeschickt.«

»Hoffen wir, daß uns noch ein paar Tage bleiben«, sagte er und lachte. »Das Wetter ist grad so schön; wir sollten noch nach Schleißheim hinaus.«

»Danke«, erwiderte sie, »was denkst du denn, ich muß doch jeden Augenblick bereit sein. Und dann, dieses Herumbummeln in der Frühlingsluft ist überhaupt nichts. Es macht bloß schlaff und faul, und dann kommt man immer auf solche dummen Gespräche wie eben. Gearbeitet hab ich schon seit acht Tagen nicht mehr richtig. Was tu ich eigentlich? Meine Anschaffungen sind fertig, die Koffer sind gepackt. Warum bin ich eigentlich den ganzen Tag mit dir und tue gar nichts. Oh, jetzt wird sofort nach Haus gefahren und gearbeitet.«

»Na los«, sagte Claude.

Sie gingen eben über eine kleine hölzerne Brücke. Den laubigen Kanal entlang, durch das schwarze Grün einer Schattenbahn, und grün eingesponnen schwamm ein einsamer Schwan. Claude sah ihm nach, er deuchte ihm steil, kalt, nur auf seine Linie bedacht. Dann betrachtete er Ute.

Sie erreichten den Garten und durchmaßen ihn ohne umzuschauen, mit beschleunigtem Schritt, als seien sie hier nicht mehr am Platze. Claude sah in widerstandsloser Trauer alles zurückbleiben: diese Frühlingswochen mit ihrem verhalten dahingerauschten Glück, ihren unterirdischen Zärtlichkeiten; den Schluß machte der Gang durch diesen Garten, heute nach der Ankunft, Hand in Hand. Gleich würden sie das Gatter wieder durchschritten haben und draußen sein, für immer heraus aus alledem.

»Das Gute habe ich gehabt. Das war das Gute, das ich haben konnte.«

VI.
Vorschriftsmäßig

Zu Hause lag ein Telegramm von Utes Direktor; in der Nacht mußte sie reisen.

Sie war auf einmal in Erregung, lief in Hut und Jackett ziemlich planlos zwischen den großen Koffern umher, schlug Kursbücher auf, suchte nach überflüssigen Dingen, stellte kopflose und angstvolle Fragen. Sie war sich klar über alle ihre Lebensziele und über die Mittel, sie zu erreichen; aber sie war noch niemals allein auf der Eisenbahn gefahren.

Claude zeigte sich guten Muts, brachte sie sogar zum Lachen. Am Bahnhof, während man ihr Gepäck einschrieb, sagte er ihr, wie schick ihr Reisekostüm sei. Und das wiederkehrende Bewußtsein, gut angezogen zu sein, gab Ute ihr Selbstvertrauen zurück.

Er hatte ihr Blumen und Bücher in den Wagen gelegt; sie fand sich vorläufig in Sicherheit und atmete auf. Den Fuß auf der Treppe, sagte Claude:

»Wenn ich nun einfach einstiege und mitführe. Famos, was?«

»Ohne alles?«

»In Berlin kauf ich mir ein paar Hemden, den Rest laß ich mir nachkommen. Schließlich darf ich doch die Sommerfrische dort im Walde, wo du Komödie spielst, grad so gut genießen wie die Bürger aus Ritzebüttel oder Ülzen.«

Sie verzog befremdet den Mund.

»Du weißt ja, ich will mich dir erst zeigen, wenn ich was Ordentliches kann.«

»Archibald war schon sehr zufrieden zuletzt.«

»Das ist ganz was anderes. Auf der Bühne, im Ensemble ...«

»Also gegen Ende der Saison, wie? Du schreibst mir, wenn ich kommen soll?«

»Und überhaupt, diese Schmiere ist ja für mich nur eine Schule, da zeig ich mich bloß den Leuten aus Ülzen, die's nicht weitersagen.«

»Erlaube, ich stell mir das riesig amüsant vor, du in großer Toilette mit dem ersten Liebhaber, der mir und mich verwechselt, und mit der Direktorsgattin, die sich einen Ballmantel aus einer Tischdecke gemacht hat.«

Aber Ute ward ungeduldig.

»Genug, diese Saison wird mich kein Mensch zu sehen kriegen. Bloß den Direktor vom Merseburger Stadttheater, der in der Nähe kurt, den schickt Archibald mir wegen Engagement.«

»Na also«, sagte er hoffnungslos.

»Was willst du denn, das war ja längst abgemacht, daß du mich bis zum Herbst in Ruhe läßt.«

Sie sahen aneinander vorbei, unzufrieden. Sie warteten auf den Schaffner, der dort, ganz vorn, die Türen zuschlug. Er kam näher. Claude dachte fieberhaft, dies könnten unmöglich ihre Abschiedsworte gewesen sein; aber er fand nichts mehr zu sagen, unter den tausend Worten, von denen die Welt voll war, keines, das in dieser äußersten Minute hätte gesprochen werden können.

Im Augenblick des Einsteigens wandte Ute sich plötzlich um, von nervöser Bewegung ergriffen.

»Ich danke dir«, stammelte sie.

Unversehens warf sie die Arme um seinen Hals und küßte ihn grad auf den Mund. Er hielt still, er war sehr bleich und wagte sich nicht zu regen, als sie schon verschwunden war. Sein Taschentuch flatterte nur ganz leise, während ihres noch außerhalb der Halle, in der Nacht, einen großen Flug beschrieb.

Er kehrte in ihre Wohnung zurück. Sie hatte es ihm nicht aufgetragen. Ihre Möbel, ihr Porzellan, das war ihr mal gleichgültig. Es lag alles umher, als sollte sie morgen wiederkommen. Er sagte der Köchin, sie könne bis Ende des Monats dableiben und die Zimmer in Ordnung halten. Er meinte, so würden sie etwas von dem gewohnten Leben bewahren, von ihrem Leben.

Ihr Schlafzimmer war aufgeräumt, das Bett für die Nacht aufgedeckt, glatt und kalt. Er spürte plötzlich den Schauer der tiefen Nacht, in die sie nun hineinfuhr, immer tiefer, wie in einen Tunnel. Jenseits lag ihr neuer Tag, voll vielleicht von Erlebnissen, Enttäuschungen oder Jubel; aber Claude kannte ihn nicht. Das Gefühl, nicht mehr zu leben, ausgestrichen zu sein, drückte ihn auf einmal so hart auf die Schultern, daß er sich setzen mußte.

Vor dem Stehspiegel auf dem Teppich begegnete er einem glitzernden Gegenstand. Er hob eine Hutnadel auf. Ute hatte sie, er erinnerte sich, in der Ratlosigkeit der Abreise viele Male in den Händen herumgedreht, sie schließlich mit einer andern vertauscht und weggeworfen. Claude begegnete ihr da wie einem Kameraden. Der metallene Kopf, den Utes Hände erwärmt hatten, nun war er kalt. Claude riß die Knöpfe seiner Weste und seines Hemdes auf, er drückte die Nadel gegen sein Herz. Solange ihre Kälte ihn durchdrang, kam er sich beglückt vor. Als er sie nicht mehr fühlte, war's ihm, als sei alles aus.

Er hatte geglaubt, er würde täglich in ihre Wohnung pilgern; aber er blieb wochenlang weg. Er war zu keinen Sentimentalitäten mehr versucht, sondern zu Gereiztheiten. In seinem sozialistischen Verein, wo sogar die Privatdozenten ihn mit Rücksicht auf seine künftige geschäftliche Machtstellung immer achtungsvoll behandelt hatten, schlug er einen anmaßenden Ton an und wollte die Herren, die studiert hatten, eines andern belehren. Er ließ sich zum Redner in einer Bauarbeiterversammlung bestimmen und erschien in seinem elegantesten Frack. Der Vorsitzende sagte ihm:

»Wenn Sie hier reden wollen, rate ich Ihnen, ziehen Sie einen fleckigen an, der wo ein paar Falten wirft.«

»Dann lassen Sie den Kellner reden«, erwiderte Claude.

Er wurde dann so ausfallend, daß der Polizeibeamte erstaunt sein Bierglas hinstellte. Auch versicherte er, er werde jetzt überall halbe Stadtteile verschleudern und auf die Preise von Grund und Boden dermaßen drücken, daß der Kapitalist verkrachen und der Arbeiter seine Wohnung sehr bald umsonst haben werde. Dies dünkte einigen nicht sehr klar, wurde aber gern gehört. Es kam selbst in die Neuesten Nachrichten.

In dem gut bürgerlichen Klub, wo er mit Matthacker, Graf Kreuth und mit Künstlern zusammenkam, wiederholte er seine Drohungen. Er sprach sogar von einer allerhöchsten Person als von einem Individuum. Die Künstler freuten sich, Matthacker erklärte: »Ich kauf Ihnen Ihren Leichnam ab«; aber ein Student aus Breslau, der ein goldenes Armband trug, bemerkte durch die Nase:

»Se sind ja 'n janz dummer Junge sind Se ja.«

Claude starrte ihn an.

»Ja, Sie mein' ich«, sagte der Student.

Wie war das möglich. Claude fühlte: ›Wenn ein anderer so ähnlich handelt, ist er ein dummer Junge. Aber ich, Claude Marehn – das ist eine Sache für sich.‹ Plötzlich schnellte seine Hand auf die weiße, breite Wange des Studenten. Als man die Herren getrennt hatte, begriff Claude erst vollends, was ihm zugestoßen war, und geriet vor Wut ins Zittern. Er wollte nochmals losstürzen, man mußte ihn ernsthaft fragen, ob er gar keinen Komment habe.

Am nächsten Morgen um fünf war er draußen in Planegg. Er hatte geschlafen und war mit dem Bewußtsein erwacht, vor ihm liege ein kaltes, wütendes Vergnügen und vielleicht das Ende vieler Unlust. Die Zeugen des andern hatten ihm den ersten Schuß erschlichen. Claude schritt stramm vor, mit einer Hier-bin-ich-Miene, die den Zuschauern ein stummes »Donnerwetter!« abnötigte. Der Student traf nicht, darauf schoß Claude ihn durch reinen Zufall irgendwo in die Hose, pfiff durch die Zähne und ging seiner Wege.

Wie er vor seiner Haustür aus dem Wagen stieg, kam die noch leere Straße der Briefträger herauf. Claude ging ihm entgegen, er erinnerte sich plötzlich an etwas, das der Mann vielleicht brachte. Da war's: der Brief von Ute.

Claude begab sich, und sein Gang war nicht mehr fest, in ihre Wohnung. ›Gut‹, dachte er, ›daß ich ihn noch lesen kann.‹ Und der Gedanke an den Tod, dem er entgangen war, machte ihn nachträglich kalt vor Angst.

Drinnen war es kühl und roch eingeschlossen und nach Staub. Die Köchin war nicht vorhanden. Er öffnete die Läden, die Sonne des Junimorgens stürzte sich jubelnd auf die Dinge, auf Utes Dinge!

Und sie schrieb jubelnd. Sie habe nicht früher berichten wollen: jetzt, seit der Magda, sei ihr Triumph entschieden. Sie habe alle Herren für sich und alle Damen gegen sich, außer einem jungen Mädchen in Weiß, das nicht bekurt werde; das sei heimlich zu ihr gekommen mit Tränen der Begeisterung und habe um ihre Freundschaft gebeten. Eine Verlobung sei ihretwegen zurückgegangen. Ein alter Herr sei von seiner Frau nach Hause geschickt. Diese Kleinstädter seien überhaupt aus dem Häuschen, man merke, wie lange sie gefastet hätten. Was sie gewöhnlich aber auch vorgesetzt kriegten! Die Kolleginnen seien alle zu haben und zum Teil für fünf Mark. Natürlich stürben sie vor Neid und Haß. Ah! sie fühle sich leben. Nächsten Dienstag komme nun ihr Benefiz ...

Sie fühlte sich leben! Einen Schrei davon sandte sie ihm – und fast hätte er ihn nicht mehr gehört. Was hatte er denn getrieben, seit sie fort war? Sich wie ein dummer Junge aufgeführt und von einem, der's ihm gesagt hatte, sich beinahe totschießen lassen. Und mit diesen Nichtigkeiten, gemischt aus Eitelkeit und Verachtung, sollte er alle seine Tage vergeuden? Und schließlich würde es dann sein Leben gewesen sein? Weil sie es nicht wollte, sein Leben? Weil er es ihr nicht darbringen durfte?

Er weinte, mit den Lippen auf ihrer Namensunterschrift, und seine Tränen gruben Lachen in den Staub der Tischplatte.

Am Nachmittag besuchte ihn von Eisenmann. Er wolle Claude darauf aufmerksam machen, sagte er, daß er sich durchaus nicht vorschriftsmäßig benehme. Seiner Mutter mache man doch wenigstens eine Aufwartung, bevor man sich schieße.

»War sie betrübt?« fragte Claude, ohne nachzudenken.

»Betrübt ist nicht das Wort«, sagte von Eisenmann. »Unangenehm berührt.«

»Ja so.«

»Überhaupt, was Sie tun und lassen ist nicht so belanglos, wie Sie zu glauben scheinen. Wenn die Baracke noch zusammenhalten soll, dann muß bei uns jeder einzelne von der ›vaterlandslosen Rotte‹ überzeugt sein wie von der Seligkeit, jeder einzelne. Das ist Vorschrift!« behauptete von Eisenmann, aufgereckt im eng geschlossenen Gehrock und den Zeigefinger gegen den Boden gerichtet.

»Erstens schädigen Sie durch solche Reden Ihr eigenes Geschäft.«

»Ist das so schlimm?« fragte Claude, freundlich lächelnd.

»Den Gaunern Geld hinzuwerfen!« schrie von Eisenmann, am ganzen Leibe zitternd. »Das soll nicht schlimm sein?«

Er mußte sich erst erholen.

»Den Panier, den alten Marder, brauchen Sie zum Stehlen wahrhaftig nicht aufzufordern. Der verkauft schon ohnedies Ihre Terrains für 'n Schwefelholz und läßt sich von den Käufern Provision zahlen.«

»Oh, oh«, machte Claude. »Wie können Sie von dem alten Mann so schlecht reden.«

»Oller Lomp!« rief von Eisenmann.

»Ich will ihn mal fragen.«

»Immer bloß mit Lompen und Gaunern zu tun zu haben! Für 'n anständigen Menschen ist es gar nicht auszuhalten!«

Von Eisenmann schnaubte, sein hängender Schnurrbart stieg auf und nieder.

Plötzlich kehrte er zu Claude zurück.

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