Kitabı oku: «Hilferuf aus dem Folterkeller», sayfa 3

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9.

Karla Sommer hört interessiert zu, während die alte Dame mit den sorgsam frisierten grauen Haaren erzählt. Das erinnert tatsächlich an das Verschwinden Hildegard Kloeßers. Was aber hat das alles mit Lutz Seifert zu tun, gegen den hier verhandelt wird?

»Oh, das will ich Ihnen sagen«, sagt die Frau. »Meine Tochter kannte den. Sogar sehr gut. Der war mit ihrem Ex-Mann befreundet. Darum ist er dann auch Trauzeuge bei Annegrets Hochzeit gewesen. Ich hab’ ihn ja auch kennengelernt.«

Die Polizistin nickt nachdenklich. »Das ist wirklich sehr spannend.«

Und in Kurzform berichtet die alte Dame, vor dem Verschwinden Annegrets habe Seifert sich auffällig um ihre Tochter bemüht. Regelrecht hinterhergelaufen sei er ihr, habe sich eingemischt in die Auseinandersetzungen mit ihrem Lebensgefährten, habe Annegret geschrieben, dass er ihrem Thomas »eins auswischen« wolle und so weiter. Wie ein lieber guter Onkel habe er sich aufgespielt.

Später sei sie auch bei Seifert im Pelzgeschäft gewesen, um sich nach Annegret zu erkundigen. Aber da habe er sie nur vertröstet und in seiner bekannten Art vollgequatscht.

»Er hat mich sogar hier im Gericht begrüßt«, fährt die alte Dame fort »›Hallo, Frau Röhl‹, hat er mir zugerufen, als er im Flur an mir vorbeigeführt worden ist. ›Wie geht’s Annegret?‹«

Da habe sie geantwortet: »Das müssen Sie ja wohl besser wissen als ich.«

Karla Sommer schüttelt verblüfft den Kopf. Noch mehr steigert sich ihr Erstaunen, als die Frau ihr ein Foto ihrer Tochter zeigt und sagt, dass sie die Aufnahme auch schon Christa S. vorgelegt habe. »Das ist wirklich alles merkwürdig, da gebe ich Ihnen recht«, sagt die Polizistin. »Ich verspreche Ihnen, dass ich mich darum kümmere.«

Sie notiert sich Namen, Anschrift und Telefonnummer von Frau Röhl und hält gleich, als sie ins Büro zurückgekehrt ist, die Unterhaltung in einer Gesprächsnotiz fest.

Umgehend lässt sie sich auch einen Termin bei ihrem Dienststellenleiter geben, denn aus Sicht der Kriminalbeamtin besteht Handlungsbedarf. Dringender Handlungsbedarf. So manches deutet darauf hin, dass Lutz Seifert nicht nur Christa S. entführt, sondern auch mit dem Verschwinden der anderen beiden Frauen zu tun hat. Wer weiß denn, wie lange er überhaupt noch sitzen muss? Der Prozess hat sich immer mehr zu seinen Gunsten entwickelt.

Doch der Leiter der Mordkommission schüttelt nur abwehrend den Kopf, als Sommer ihm ihre Erkenntnisse und Vermutungen vorträgt und darum bittet, für die Sache freigestellt zu werden, um in Ruhe weiter zu ermitteln. »Liebe Frau Sommer, wir sind hier in der Mordkommission. Wir haben es mit Tötungsdelikten zu tun. Bei Ihnen handelt es sich um Vermisstenfälle. Das ist einfach nicht unser Bier, verstehen Sie, das ist Sache der Kollegen in der Leichen- und Vermisstenstelle.«

Die Kommissarin weist darauf hin, dass die Kollegen die beiden Fälle bereits ad acta gelegt haben, es aber eben noch viele Fragen und Ungereimtheiten gebe und manches auf Lutz Seifert hindeute. Doch der Dienststellenleiter will davon nichts wissen: »Ich glaube, Sie haben sich da in etwas verrannt, verehrte Kollegin. Konzentrieren Sie sich lieber auf Ihre Arbeit in der Mordbereitschaft. Damit müssten Sie doch eigentlich ausgelastet sein.«

Wütend und enttäuscht kehrt die Kriminalbeamtin in ihr Büro im siebten Stock des Polizeipräsidiums am Berliner Tor zurück und wendet sich notgedrungen der üblichen Routinetätigkeit zu. Aber das rätselhafte Verschwinden der beiden Frauen geistert weiter in ihrem Kopf herum. Die Erzählungen Margarete Röhls lassen ihr keine Ruhe. Sie beschließt, die alte Dame einfach mal nach Feierabend zu besuchen und sich die Vermisstenakten der beiden verschollenen Frauen außerhalb der Dienstzeit zu beschaffen. Schließlich hat sie der Siebzigjährigen ihr Wort gegeben.

10.

Die Entführung der Krankenhausangestellten stellt Lutz Seifert vor Gericht unterdessen fast wie einen Freundschaftsdienst dar. So entsteht der Eindruck, Christa S. habe ihren Lebensgefährten um ein paar Hunderttausend Mark erleichtern wollen und sich zu diesem Zweck mit dem früheren Pelzhändler verbündet. Seifert räumt ein, dass er einen schweren Fehler gemacht habe. Aber es sei eben einiges zusammengekommen in dieser Zeit – und die Sterne hätten günstig gestanden. Zumindest im Vorfeld der Entführung.

Vermeintlich offenherzig spricht der Angeklagte auch über seinen Hang zum Sadomaso-Sex. Überhaupt: »Ich bin in allen Dingen extrem. Mein Leben ist von einem übersteigerten Sexualtrieb bestimmt.«

Solche Bekundungen lassen das Gericht bei aller Skepsis nicht unbeeindruckt. An der Entführung ist zwar nicht zu rütteln, doch die Umstände stimmen die Strafkammer gnädig. Wegen erpresserischen Menschenraubs in einem »minderschweren Fall« wird Seifert darum am 25. Mai 1992 zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt. Der milde Urteilsspruch kommt nicht unerwartet. Der psychiatrische Gutachter stellt zwar fest, dass der astrologiegläubige Angeklagte den Eindruck eines gestörten Menschen mache, bescheinigt ihm aber »seelische Ausgeglichenheit« und sieht »absolut keine Gefahr für die Allgemeinheit«. Der Vorsitzende Richter folgt dieser Bewertung in seiner Urteilsbegründung:

»Bei dem depressiv und masochistisch veranlagten Angeklagten, der über eine erhebliche Umtriebigkeit verfügt, lässt sich das Merkmal der ›schweren anderen seelischen Abartigkeit‹ gemäß Paragraph 20 des Strafgesetzbuchs im Sinne eines Zusammentreffens ungünstiger Persönlichkeitsfaktoren mit situativen Merkmalen zwar nicht verneinen, jedoch ist hierdurch mangels Zerstörung oder Erschütterung des Persönlichkeitsgefüges keine strafrechtlich relevante Verminderung der Steuerungsfähigkeit eingetreten. Die Kammer hat von der Möglichkeit der doppelten Strafmilderung Gebrauch gemacht. Bei der Bejahung des minderschweren Falles und bei der Zumessung der schuldgerechten Strafe wurde berücksichtigt, dass der Angeklagte bislang sozial eingeordnet gelebt hat und erstmals im Alter von 43 Jahren straffällig geworden ist. Nachdem seine bürgerliche Existenz und sein Selbstverständnis durch die erzwungene Aufgabe der beruflichen Tätigkeit ins Wanken geraten sind, ist es ihm nicht gelungen, beruflich wieder festen Fuß zu fassen, um den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu sichern. Er hat sich vielmehr in immer stärkerem Maße seiner Astrologiegläubigkeit hingegeben, die dann Auslöser dieser schweren Straftat geworden ist. Er hat kein durchgeplantes Konzept gehabt, sondern zeitweise spontan gehandelt. Die Lösegeldforderung ist von ihm nicht mit Todesdrohungen verknüpft worden. Soweit es die Lage zuließ, hat er sein Opfer gut behandelt. Er hat ein Geständnis abgelegt, das allerdings erheblich eingeschränkt war und daher auch nur in diesem Umfang mildernd berücksichtigt werden konnte.

Der Angeklagte befindet sich das erste Mal in Haft und leidet unter dem Verlust des bürgerlichen Ansehens, von dem auch seine Familie betroffen ist.«

Das milde Strafmaß von drei Jahren begründet die Strafkammer vor allem mit dem Vorleben des Angeklagten, das bisher von keinem Gesetzesbruch getrübt werde. Strafmildernd wirkt sich auch aus, dass weiter der Verdacht im Raum steht, Christa S. habe möglicherweise gemeinsame Sache mit ihrem Entführer gemacht. Der Richter weist jedenfalls ausdrücklich darauf hin, dass die Hauptbelastungszeugin offenkundig nicht alles gesagt habe, was sie wisse. Eine Unterstellung, die der Frau zusätzlich zu ihren traumatischen Erfahrungen im Kellerverlies schwer zu schaffen macht.

»Das war schon sehr hart, dass dieser Richter dem Täter mehr geglaubt hat als mir.«

Zur Verbüßung seiner Haftstrafe wird der Verurteilte in den offenen Vollzug der Justizvollzugsanstalt Glasmoor in Norderstedt verlegt. Da die vorangegangene Untersuchungshaft von knapp neun Monaten auf die Strafe angerechnet wird, kann Seifert hoffen, schon nach einem Jahr wieder frei zu sein.

11.

Für Karla Sommer begann eine Zeit fieberhafter Privatermittlungen. Wenn ihre Kollegen in der »Mordbereitschaft« am Berliner Tor ihre Sachen packten und dem Feierabend im Kreise ihrer Familien entgegensahen, startete die Freizeitsportlerin noch einmal voll durch. Sie führte vor allem ausgedehnte Gespräche mit der Mutter von Annegret Bauer, die ihr weitere Einzelheiten von dem mysteriösen Verschwinden ihrer Tochter berichtete. Wie sie damals im Oktober 1988 diesen merkwürdigen Zettel für die Putzfrau gefunden und Annegrets Stofftier Mopsi noch auf dem Nachttisch gestanden hatte. Wie sie immer neue Briefe von ihrer Tochter erhielt – in diesem merkwürdigen Stil, mit den vielen Fehlern. Wie sie sich bei ihrer verzweifelten Suche auch an Seifert gewandt habe, der Annegret ja so gut kenne. »Rufen Sie mich ruhig an«, habe der in seiner launigen Art gesagt. »Ich bin ein richtiger Witwen- und Waisentröster.«

Karla Sommer besuchte Kurt Kloeßer und seine Lebensgefährtin Christa S., sammelte Briefe und Karten der verschollenen Frauen und fand immer mehr Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Vermisstenfällen:

Hildegard Kloeßer schreibt, dass sie ins Ausland reisen möchte und darum keinesfalls auf die »Gesuchtenliste« kommen will. Und Annegret Bauer betont, dass es ihr »peinlich« wäre, »im Beisein von Bekannten« an der Grenze festgenommen zu werden. Selbst die Zeichensetzungsfehler sind bei beiden Frauen identisch. Regelmäßig fehlt zum Beispiel das Komma vor dem erweiterten Infinitiv. Auffällig ist auch, dass bei beiden Frauen Handlungsabläufe völlig unmotiviert abgerissen sind. Hildegard Kloeßer etwa hatte gerade Blumen für eine Nachbarin gekauft, die während ihres Urlaubs auf Fuerteventura auf ihren Dackel aufgepasst hatte. Die Blumen waren liegengeblieben. Und Annegret Bauer hatte bei ihrem Arzt ein Rezept bestellt und nicht abgeholt.

Hatte Karla Sommer die Gespräche mit den Angehörigen beendet, hielt sie die Ergebnisse in Aktenvermerken fest – oft bis spät in der Nacht. Viel Zeit für ihren Mann blieb in diesem Sommer des Jahres 1992 nicht. Nur ihren Aerobic-Kurs leitete sie weiterhin. Zum Turnen, Schwimmen oder Volleyballspielen kam die Polizistin dagegen nur noch selten. Nicht nur die Feierabende, auch die Wochenenden waren angefüllt mit Erkundungen in Sachen Lutz Seifert.

»Das hatte was von einem Puzzlespiel. Es ging darum, die vielen Teile in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen.«

Im Zentrum der Recherchen stand die Auswertung der Vermisstenakten. Da für die Vermisstenstelle kein Handlungsbedarf mehr bestand, hielt sich deren Kooperationsbereitschaft in Grenzen. Im Falle Hildegard Kloeßers war es trotzdem nicht schwer, an die Akte zu kommen. Sie wurde wie die übrigen Vermisstenfälle in der Registratur aufbewahrt. Im Falle Annegret Bauers dagegen fand sich nichts mehr im Polizeipräsidium. Nach umständlichen Ermittlungen im Labyrinth der Hamburger Justizbehörden entdeckte Sommer die Vermisstenakte schließlich im Amtsgericht Wandsbek. Der Freund der Vermissten hatte zwischenzeitlich hier, wo das gemeinsame Haus im Grundbuch eingetragen war, eine Zivilklage eingereicht, um die 5000 Mark zurückzufordern, die er seiner Freundin geliehen hat. Denn Thomas B. war zu der Überzeugung gelangt, dass Annegret Bauer ihn wirklich verlassen hatte. Wie sonst waren die verletzenden Briefe und Karten zu erklären?

Auch die Vermisstenakte ließ diese Frage offen. Doch Karla Sommer stieß zumindest auf Ansatzpunkte für neue Ermittlungen. Von weiteren Karten der Vermissten war die Rede, noch mehr Bestellungen und Geldabbuchungen – Monate nach dem Verschwinden Annegret Bauers – wurden aufgelistet, vor allem aber war der Akte der Vermerk eines Kollegen aus dem Polizeipräsidium angefügt. »Hiermit möchte ich darauf hinweisen, dass Annegret Bauer meines Wissens ihren Lebensbereich in Hamburg aus freien Stücken verlassen hat«, hieß es in dem Vermerk. »Sie hat sich entschieden, mit einem neuen Partner zusammenzuleben. Es ist darum meines Erachtens nicht Aufgabe der Polizei, nach ihr zu fahnden.«

Als vermeintliches Beweisstück war ein Brief in der Handschrift Annegret Bauers angefügt – wie die übrigen Briefe dieser Art überschrieben mit der Personalausweisnummer der Vermissten.

Eingeleitet war das Schreiben mit einer allgemein an die Polizei gerichteten Mitteilung im Amtsdeutsch:

»Betr.: Vermisstenanzeige

Ich möchte hiermit klarstellen, dass ich, Annegret Bauer nicht vermisst bin.«

Wie kann man klarstellen, dass man nicht vermisst ist? Das klang so schief, als sei die Schreiberin der deutschen Sprache nicht mächtig, fast absurd. Es folgte ein in privatem Ton gehaltener Brief an den Kriminalbeamten, der offenkundig mit der Vermissten persönlich bekannt war.

»Lieber Uwe,

ich habe von dem ganzen Ausmaß, den meine Mutter angerichtet hat, gehört. Mein Bruder wurde von mir gebeten, auf unsere Mutter aufzupassen, aber er kann sie wohl auch nicht bremsen. Seit dem Tode meines Vaters bin ich ihr ein und alles.

Da ich meine Entscheidung allein treffen möchte, ohne Familienrat, und ohne das wenn und aber. Deshalb der plötzliche Abbruch. Kannst du mir helfen?? (Bitte)

Wenn du es nicht kannst, wäre es das Ende meiner neuen Beziehung. Bitte versetze dich in meine Lage, wie peinlich und entwürdigend es wäre, an der Grenze neben meinem neuen Bekannten festgenommen zu werden …«

Karla Sommer hatte bereits aus den Gesprächen mit Annegret Bauers Mutter und Ex-Mann Jochen B. von dem Kriminalbeamten erfahren, der Lutz Seifert aus dem Schwimmverein kannte und auch mit der Vermissten befreundet war. Der Kollege hatte den beiden demnach den dringenden, »gut gemeinten« Rat gegeben, sich damit abzufinden, dass Annegret freiwillig gegangen sei. Die Polizei könne da gar nichts machen, habe der Kriminalbeamte gesagt, ohne selbst für Vermisstensachen zuständig zu sein. Dabei habe er sich nicht nur auf Annegrets Brief berufen, sondern auch auf ein persönliches Gespräch mit Seifert, der ihn in sein Haus in Hamburg-Rahlstedt eingeladen habe. Seifert hatte dem Freund offenkundig von einem Treffen mit Annegret berichtet und ihm eingeschärft, dass diese nichts weiter wünsche als ihre Ruhe – fernab ihrer Familie und ihres Partners.

Damit war der Fall für den Kriminalbeamten buchstäblich erledigt gewesen, wie es scheint. Was die Angehörigen zu sagen hatten, interessierte den Mann offenkundig nicht. Die berichteten, der Polizist habe sie nicht angehört, sondern nur »abgebürstet«.

Karla Sommer war empört über den »Freundschaftsdienst« des Kollegen – und sie erinnerte sich, dass auch im Falle Hildegard Kloeßers ein Brief der Vermissten bei der Polizei eingegangen war. Mit fast gleichlautendem Inhalt. Es gab weitere Übereinstimmungen: Beide Frauen hatten zum Beispiel bei der Flucht aus ihrem bisherigen Leben keine Unterwäsche mitgenommen, dafür aber etliche Haushaltsgegenstände. Beide hatten an ihre Angehörigen Briefe und Karten in fehlerhaftem Deutsch geschrieben. Und vor allem: Beide kannten Seifert!

Ausgehend von den Vermisstenakten befragte Karla Sommer weitere Personen aus dem Umfeld der Verschollenen: den Lebensgefährten Annegret Bauers, Arbeitskollegen, ihren Bruder, Familienangehörige und Freundinnen Hildegard Kloeßers. Immer unwahrscheinlicher erschien es ihr nach den Vernehmungen, dass die fast gleichlautenden Botschaften wirklich von den Frauen stammten. Aber es war mit Sicherheit ihre Handschrift. Auch die Schriftsachverständigen im Landeskriminalamt (LKA) bestätigten dies. Rechtschreibung, Satzbau und Stil dagegen passten nicht zu den verschollenen Frauen.

Für die Textanalyse empfahlen die LKA-Experten den renommierten Sprachwissenchaftler Theo Bungarten von der Universität Hamburg. So schickte die Kriminalbeamtin die Briefe und Karten dem Germanistikprofessor. Doch die Auswertung zog sich hin.

Unterdessen ging die Doppelbelastung weiter, und die drei Kollegen in der Mordbereitschaft ermutigten Karla Sommer nicht gerade bei ihren Privatermittlungen. Die Hauptkommissarin spürte, dass ihr Alleingang auf Ablehnung stieß. Als sie trotzdem einmal den Versuch unternahm, den Kollegen die brisante Gemengelage zu erläutern, entgegnete einer mit mildem Lächeln: »Du solltest dich da nicht so reinsteigern, Karla. Das wird sich alles schon noch auflösen.«

Karla Sommer entging nicht, dass hinter ihrem Rücken auch weniger freundliche Bemerkungen ausgetauscht wurden. Prägend für das Klima war, dass der Chef der Mordkommission den Alleingang seiner widerspenstigen Mitarbeiterin bekanntermaßen missbilligte.

Der atmosphärische Gegenwind erhöhte den Stress der Doppelbelastung zusätzlich. Da geschah es nicht selten, dass Karla Sommer überreizt in ihr Reihenhaus in Volksdorf zurückkehrte und die Ereignisse des Tages ihr den Schlaf raubten.

»Diese Zeit war für mich und meinen Mann nicht leicht. Das war ja schon sehr anstrengend, immer von den Kollegen angemacht zu werden. Andererseits hat mich meine Arbeit aber auch erfüllt. Dieses Puzzle, das damit verbundene logische Denken – das war schon ein Traumjob für mich. Und das Besondere in diesem Fall war ja, dass es einen Tatverdächtigen gab, einen Mann, dem ich die Tat nachweisen musste. Auch das hat mich motiviert. Ich war mir einfach zu hundertzwanzig Prozent sicher, dass ich richtig lag – mochten die Kollegen noch so lästern.«

Schließlich wurde ein junger Kollege in die »Mordbereitschaft« versetzt, der nicht lästerte, sondern Interesse zeigte: Andreas Lohmeyer, der 1981 im Alter von zwanzig Jahren in den Polizeidienst eingetreten war, nach einigen Jahren in Uniform mit Streifenwagen- und Hafenstraßen-Einsätzen die Fachhochschule besucht, erste Erfahrungen bei der Kripo gesammelt und ein halbes Jahr lang in Schwerin bei der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit mitgewirkt hatte. Und Lohmeyer fing sofort Feuer:

»Ich fand den Fall total faszinierend, ich habe die Akten regelrecht verschlungen. Mein kriminalistisches Gespür sagte mir: Da stimmt was nicht.«

Auch Lohmeyer musste erfahren, dass die »Altgedienten« in der Abteilung die nebulösen Fälle mit aller Macht abwehrten: unbedeutende Fälle für die nicht sehr hoch im Kurs stehende Vermisstenstelle eben. Nichts für echte Mordprofis! Gleichwohl unterstützte Lohmeyer die Kollegin.

»Wir haben uns gegenseitig motiviert, Karla und ich.«

Mit vereinten Kräften unternahmen die beiden daraufhin den Versuch, beim Raubdezernat, das auch für Entführungen zuständig war, ganz offiziell Nachermittlungen zu beantragen. Doch die Kollegen erteilten ihnen eine Abfuhr: Alles schon durch, lautete die Antwort. Der Entführungsfall sei längst abgeschlossen. Was diese Christa S. da erzähle, sei doch nur wirres Zeug.

Die Kollegen in der Mordermittlung fühlten sich bestätigt: Haben wir’s nicht gesagt?! Lohmeyer, der heute den Rang eines Kriminaldirektors im Hamburger Landeskriminalamt bekleidet, im Rückblick:

»Wir haben von keiner Seite Rückenwind verspürt. Immer nur Gegenwind.«

Dennoch setzte Karla Sommer – unterstützt durch ihren Kollegen – ihre eigenmächtigen Ermittlungen fort.

»Die Angehörigen der Vermissten hatten einfach ein Recht darauf, endlich zu erfahren, was mit den Frauen wirklich geschehen war. Diese Ungewissheit war für sie unerträglich. Immer, wenn zum Beispiel die Mutter von Annegret Bauer einen weißen Golf gesehen hat, hat sie gedacht, dass ihre Tochter darin sitzen könnte. Das ist auf die Dauer doch total zermürbend.«

Ein weiteres Puzzleteil brachte Bewegung in die Ermittlungen. Hans-Uwe V., der frühere Dekorateur Kloeßers, rief bei Karla Sommer an. Der Mann hatte von Kloeßer erfahren, dass die Hauptkommissarin auf eigene Faust gegen Seifert ermittelte. Dadurch hatte sich der Dekorateur an ein Gespräch mit Seifert erinnert, für den er auch schon Schaufenster gestaltet hatte. Als Hans-Uwe V. dem früheren Auftraggeber erzählte, dass er Kloeßer bei der Suche nach seiner vermissten Frau nach Teneriffa begleiten werde, habe Seifert nach den Erinnerungen des Dekorateurs erwidert: »Da könnt ihr lange suchen. Damit verplempert ihr bloß eure Zeit. Die findet ihr nie.«

»Warum bist Du Dir denn so sicher?«, habe er nachgefragt. Daraufhin habe Seifert nur die Achseln gezuckt und still in sich hinein gelächelt. Ein anderes Mal habe der Pelzhändler ihm anvertraut: »Ich habe da eine Frau kennengelernt, die braucht Schläge.«

Karla Sommer beschränkte ihre Recherchen nicht auf Hamburg. Sie bezog auch die Ferienhaussiedlung in Basedow bei Lauenburg mit ein, wo Seifert bekanntlich seit Jahren ein Wochenendhaus besaß. Sie ging von Haus zu Haus mit den Fotos der Verschollenen und fragte, ob jemand die vermissten Frauen gesehen habe. Die Befragten schüttelten bedauernd den Kopf, erinnerten sich aber plötzlich auch an Seiferts düstere Seiten. Einerseits kannte man ihn als Stimmungskanone und Sprücheklopfer, als hilfsbereiten, patenten Nachbarn und guten Vater, andererseits ließ er aber auch durchblicken, dass er auf Quälen und Fesselspiele stehe. »Da haben wir uns schon ein bisschen erschrocken.«

Als ihre Materialsammlung auf fast 400 Seiten angewachsen war, entschloss sich Karla Sommer Ende August 1992 die Staatsanwaltschaft einzuschalten, um einen Durchsuchungsbeschluss zu erwirken. Mochte der Dienstvorgesetzte sagen, was er wollte.

Gleich zwei Staatsanwälte saßen ihr gegenüber. Der ältere der beiden runzelte skeptisch die Stirn, doch der jüngere zeigte sich offen und nahm den prall gefüllten Aktenordner dankend entgegen. Beeindruckt von der Lektüre beantragte der Staatsanwalt schon zwei Tage später beim Landgericht den gewünschten Durchsuchungsbeschluss. Mit Erfolg.

Endlich erfuhr die Kriminalbeamtin von höherer Stelle ausdrückliche Anerkennung. »Das ist ja wirklich eine interessante Sache«, teilte ihr der zuständige Richter mit. »Da halten Sie mich mal auf dem Laufenden.«

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