Kitabı oku: «Ronny Rieken», sayfa 2
»Rolling home, rolling home,
rolling home, across the sea …«
Als er gegen halb acht nach Hause kam, war das Haus leer. Gerda war mit den beiden Kindern zu Besuch bei Verwandten im Dorf. So war er noch ein bis zwei Stunden allein. Er zog seine Arbeitsklamotten aus und duschte. Lange und ausgiebig.
Immer drückender wurde ihm bewusst, was er getan hatte. Erst als Gerda mit den Kindern zurückkehrte, wurde ihm leichter zumute. Natürlich erzählte er seiner Frau nicht, was er am Nachmittag getan hatte – er war ja bei der Arbeit gewesen. Jetzt war er nicht in der Stimmung, sie über seinen Privatstreik aufzuklären. Bereitwillig wechselte er stattdessen Jonas die Windeln und spielte mit seinem kleinen Sohn. Auch am Tag darauf kümmerte er sich um den Jungen wie ein Bilderbuchvater. Tobte mit ihm auf dem Rasen vor dem Haus herum, schob Spielzeugautos durchs Haus, nahm Jonas zum Spaß den Schnuller weg. In Gedanken aber war er oft bei dem Mädchen mit der Ponykutsche.
Seine Frau berichtete später, dass er in dieser Zeit ungewöhnlich still, ja manchmal sogar geistesabwesend gewesen sei. Doch Argwohn schöpfte sie nicht.
Als Rundfunk, Fernsehen und Zeitungen über den Fall des vermissten Mädchens berichteten, hatte Ronny Rieken die Tat schon so weit aus seinem Bewusstsein geschoben, dass ihm war, als habe er gar nichts mehr damit zu tun.
3. Ulrike wird vermisst
Wubbo und Marlene Everts waren sofort alarmiert. Eine Bekannte aus Harbern hatte aufgeregt angerufen. »Die Pferde kommen allein zurück, von Ulrike ist nichts zu sehen. Da stimmt was nicht.« Sofort nach dem Anruf war Marlene Everts zum Dortmunder Moorweg geeilt, wenig später hatte auch ihr Mann seinen Betrieb verlassen, um sich auf den Weg nach Harbern zu machen. Nach kurzer vergeblicher Suche entschlossen sich die beiden, die Polizei zu rufen.
Die herbeigerufenen Polizeibeamten bemühten sich zunächst, die Eltern zu beruhigen und von einer harmlosen Erklärung zu überzeugen. »Die ist vielleicht zum Baden gegangen«, sagte ein Polizist.
Doch für die Eltern war klar, dass Ulrike niemals ihre Pferde im Stich gelassen hätte. Niemals. Wubbo Everts hatte das Gefühl, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Die Zögerlichkeit der Polizei ärgerte ihn, reizte ihn bis zur Weißglut. Wertvolle Zeit verstrich aus seiner Sicht, bis die Polizei die Sache ernst nahm und gegen Abend eine erste Suchaktion einleitete. Eine Hundestaffel wurde angefordert, Polizeihubschrauber mit Wärmebildkameras überflogen die Gegend. Aus Sicht von Wubbo Everts jedoch nicht weiträumig genug. Überhaupt verlief die ganze Fahndung, für die am nächsten Tag noch eine Hundertschaft zugezogen wurde, nach Meinung des besorgten Vaters viel zu oberflächlich.
Zu einer wirklich großangelegten Suchaktion, die auch die Wälder der Umgebung erfasste, kam es erst zwei Tage später mit Hilfe örtlicher Vereine. Die Feuerwehr ließ die Sirenen heulen. Das ganze Dorf wurde mobilisiert. Doch von Ulrike fand sich immer noch keine Spur.
Auch sonst hatte das Verschwinden des Mädchens kaum Spuren hinterlassen. Eine Frau, die an jenem heißen Nachmittag mit dem Kinderwagen unterwegs gewesen war, hatte aus 400 Meter Entfernung ein Auto wenden sehen, konnte aber keine genaue Beschreibung geben. Die übrigen Hinweise blieben ebenso vage. Wenn die Ponys hätten sprechen können … Was geschehen war, musste ihnen einen nachhaltigen Schrecken eingejagt haben. Denn noch lange Zeit danach scheuten sie, wenn sie an den mutmaßlichen Tatort kamen, weigerten sich weiterzugehen.
Für Ulrikes Eltern begann mit dem Anruf aus Harbern ein Alptraum, der kein Ende nehmen wollte. Die quälende Ungewissheit, Angst und Fassungslosigkeit verfolgten sie Tag und Nacht. Sie nahmen Beruhigungsmittel, um überhaupt noch einen klaren Gedanken fassen zu können oder Schlaf zu finden. Unfähig, weiter seiner gewohnten Arbeit nachzugehen, durchforstete Wubbo Everts Tag für Tag auf eigene Faust Gestrüpp und Wälder der Umgebung. Da er fast nichts mehr aß, magerte er ab bis auf die Knochen. Sein Gesicht war bald eingefallen wie das eines Todkranken.
Seine Frau litt auf weniger augenfällige Art. In manchen Momenten war es Marlene Everts, als sei das alles gar nicht wahr. In Ulrikes Zimmer sah es ja auch noch Monate später genauso aus wie an diesem Tag im Juni, eine Woche vor den Sommerferien, zwölf Tage vor Ulrikes Geburtstag. Ulrikes Rucksack mit den Schulsachen stand immer noch so auf dem Sessel, als wäre sie gerade erst von der Schule nach Haus gekommen. Auf dem Tisch ungeöffnete Briefe – Post von Tierbuchverlagen. Alles hatte sich ja bei Ulrike um Tiere gedreht, um Pferde vor allem. Ein Sattel, ein Westernhalfter, Bücher und Zeitschriften über Pferde beherrschten den Raum. Pferdemotive schmückten Bettzeug und Tapeten.
Außer den Ponys Rex und Sonja stand auch noch Ulrikes Haflingerstute auf der Weide. Fürsorglich kümmerten sich jetzt die Eltern um das Pferd, ebenso wie um die 20 Wellensittiche und Prachtfinken, die Zwergkaninchen, die Fische im Aquarium, den Dackel und die Katze, die Ulrike zuvor versorgt hatte.
Nahezu ihre ganze Freizeit hatte die Realschülerin ihren Tieren gewidmet. Für Freundinnen oder Mitschüler war da kaum mehr Zeit gewesen.
Völlig undenkbar war es daher für ihre Eltern, dass sie ausgerissen sein könnte, wie manche meinten. Einfach abhauen und die Tiere im Stich lassen? Vollkommen ausgeschlossen. Außerdem war Ulrike auch eher ängstlich, als Nachkömmling und Nesthäkchen umsorgt und verwöhnt. Auch von ihren drei Geschwistern, die bereits erwachsen waren und das Haus schon verlassen hatten.
Täglich ließ Wubbo Everts sich von der Polizei auf dem Laufenden halten. Dass es mit den Ermittlungen so schleppend voranging, verbitterte ihn, bestärkte ihn in seinem Verdruss über die Polizeiarbeit. Aufgebracht hatte er sich bereits darüber beschwert, dass die Reifenspuren viel zu spät gesichert worden waren, die sich auf dem Sandweg abgezeichnet hatten. Schon bald seien darum Schaulustige darüber hinweggelatscht, klagte er. Sogar Polizeiautos seien über die Spuren gefahren, bis endlich jemand Anweisung gegeben habe, den Weg abzusperren.
Nein, Wubbo Everts war auf die Sonderkommission Kutsche, die drei Tage nach Ulrikes Verschwinden eingerichtet worden war, nicht gut zu sprechen. Fehler über Fehler sah er in der Polizeiarbeit; bemängelte die schlampige Auswertung eines schlechten Tatortfotos, kritisierte die halbherzige Suche nach seiner Tochter, zeigte sich empört, als ein Polizeibeamter ihm nahe legte, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Ulrike möglicherweise nicht mehr am Leben sei.
Um die ins Stocken geratenen Ermittlungen voranzutreiben, überzog Wubbo Everts den Leiter der Sonderkommission in Delmenhorst mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde – und nahm damit in Kauf, dass man ihn nicht mehr täglich über den Stand der Ermittlungen informierte. Aber was sollte das auch? »Nichts Neues«– auf diese stereotype Botschaft konnte er gut verzichten.
Und die Eltern verließen sich ohnehin nicht nur auf die Polizei. Sie veranlassten in- und ausländische Fernsehsender zu Berichten, schalteten eine Vermisstenanzeige mit Foto im Internet und ließen 50 000 Suchzettel drucken, auf denen Ulrike als Konfirmandin abgebildet und knapp beschrieben war: ca. 160 Zentimeter groß, blonde, glatte, nackenlange Haare, ovales Gesicht, dunkelbraune Augen. Immer höher kletterte die Summe, die sie zur Belohnung aussetzten – bis auf 50 000 Mark.
Im Schneeballsystem verbreiteten Freunde die Suchzettel mit Hilfe von Spediteuren bis ins Ausland. Lastwagenfahrer hängten die Zettel an Autobahnraststätten aus. Marlene und Wubbo Everts schrieben sämtliche Kreis- und Stadtsparkassen Deutschlands an, um sie zum Aushängen der Aufrufe zu veranlassen.
Der Kreis der Unterstützer weitete sich. Nicht nur Freunde und Verwandte, auch Fremde meldeten sich, um ihre Hilfe anzubieten. Darunter auch etliche »Spökenkieker«, die Wege jenseits der Schulweisheiten empfahlen, Hellseher und Pendler. In ihrer Verzweiflung klammerten sich die Everts an jeden Strohhalm. Ein Pendler gab sogar den Ausschlag dafür, dass die Polizei auf das Drängen der Eltern hin ein Waldstück durchsuchte. Man durfte ja nichts unversucht lassen. Es war doch alles so unglaublich, so unfassbar, dass vielleicht auch das Unglaubliche helfen konnte. Und Wubbo Everts schöpfte Kraft daraus, wenn ihm ein Hellseher sagte, dass seine Tochter noch am Leben sei. Kraft schöpften die Eltern auch aus ihren Gebeten. Wubbo und Marlene Everts, die der Kirche bisher nicht besonders eng verbunden gewesen waren, beteten, wie nie zuvor in ihrem Leben.
Denn bei allen Bemühungen kroch immer wieder die lähmende Angst in ihnen hoch, dass eines Tages der Anruf kommen könnte, der all ihre Hoffnungen zunichte machte. Doch sie kämpften dagegen an, weigerten sich, das Unabänderliche tatenlos auf sich zukommen zu lassen. Sie waren der Überzeugung, es Ulrike schuldig zu sein, alles Menschenmögliche tun zu müssen, um zu verhindern, dass die Polizei eines Tages die Aktendeckel über dem ungeklärten Vermisstenfall zuklappte. Undenkbar, unerträglich, sich das auszumalen! Die Vorstellung, dass ihr Kind womöglich von Menschenhändlern verschleppt und irgendwo erniedrigenden Sexualpraktiken ausgesetzt sein könnte – hilflos, verängstigt und allein –, brachte Marlene und Wubbo Everts fast um den Verstand. Die nervliche Daueranspannung machte sie reizbar und stellte auch die Ehe auf schwere Belastungsproben. Nichts war seit dem 11. Juni mehr wie zuvor.
4. Erinnerungen an den Vater
Keine 15 Kilometer von Jeddeloh II entfernt, spielte ein Mann mit seiner elektrischen Eisenbahn, der Marlene und Wubbo Everts hätte sagen können, was mit ihrer Tochter geschehen war. Doch der Mann hatte sich entschlossen, nicht mehr daran zu denken. Und es war ihm gelungen, die Erinnerung an jenen Junitag von sich abzustreifen wie Spinnengewebe, das einem am Kopf hängen bleibt, wenn man an einem Herbstmorgen durch den Wald spaziert. Er hatte ja auch seine Frau und seine beiden kleinen Kinder, die ihn beschäftigten. Und schon bald ging er wieder einer halbwegs geregelten Arbeit nach. Wenn es dennoch in ihm zu rumoren begann, dann zog er sich in seine Dachstube zurück, schaltete seine Stereo-Anlage ein und tauchte ab in seine Musik – in Lieder von Ronny oder auch in moderne Pop-Hits. Er ließ dabei seine elektrische Eisenbahn kreisen oder polierte seine Feuerzeugsammlung.
Dass möglichst nichts von dem, was einen tief im Herzen bewegt, nach außen dringen darf, hatte er schon als Kind gelernt. Dass es notwendig sein konnte, Mauern um sich zu errichten oder anderen Menschen etwas vorzuspielen.
Am 12. Februar 1968 war Ronny Rieken in einem Dorf am Jadebusen zur Welt gekommen. Er wurde auf den gleichen Namen getauft wie sein Bruder Ronny, der zwei Jahre zuvor unter ungeklärten Umständen gestorben war. Seine ersten drei Lebensjahre verbrachte Ronny II mit seinen beiden älteren Schwestern und seiner Mutter in dem Jader Ortsteil Jaderkreuzmoor, einer Siedlung von einem halben Dutzend Häusern. Später, nachdem auch Ronnys zwei Jahre jüngere Schwester Manuela geboren war, zog die Familie ein Dorf weiter nach Südbollenhagen und lebte hier in einem allein stehenden Haus am Rande von Birken- und Kiefernwäldchen.
Für beide Elternteile war es bereits die zweite Ehe. Ronnys Mutter Margot Rieken, Jahrgang 1933, hatte ihre beiden Töchter aus ihrer ersten Ehe mit in die neu gegründete Familie gebracht. Auch Ronnys Vater, der Maurer Wilhelm Hyacinthus (»Willi«) Rieken, hatte bereits mehrere Kinder mit seiner ersten Frau. Aber die waren bei ihrer Mutter geblieben; Ronny hatte sie nie kennen gelernt.
Als Ronny zur Welt kam, saß sein Vater hinter Gittern. Wegen Notzucht mit einem Kind, einem zehnjährigen Mädchen, war Willi Rieken am 21. Dezember 1967 vom Landgericht Oldenburg zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Er hatte das Mädchen in ein Auto gelockt, geschlagen, gewürgt und vergewaltigt. Nachdem Wilhelm Rieken Zweidrittel seiner Strafe in der Justizvollzugsanstalt Celle I verbüßt hatte, wurde er im November 1970 vorzeitig entlassen und kehrte zu seiner Familie zurück. So sah er erstmals seinen mittlerweile zweieinhalb Jahre alten Sohn Ronny.
Zwiespältige Gefühle verbinden Ronny Rieken mit seinem Vater, der im Jahre 1995 verstorben ist.
Wenn er gesoffen hatte, war er ein Scheusal, aber wenn er nüchtern war, konnte er auch sehr lieb sein. Dann sind wir manchmal abends weggefahren, haben im Auto zusammengesessen und Spaß gehabt. Manchmal hat er uns auch was mitgebracht: Schokolade, Bonbons und so. Aber dann, meistens wenn er besoffen war, konnte er auch wieder sehr brutal sein. Dann war er der brutalste Mensch, den man sich vorstellen kann.. Dann hat er mich wegen jedem Scheiß gehauen, meistens mit der flachen Hand ins Gesicht. Da hat er so richtig ausgeholt und voll zugeschlagen. Und manchmal hat er mir auch an den Ohren gezogen. Das war überhaupt das Schlimmste.
Vieles ist verblasst, die schönen Dinge sind besser haften geblieben als die weniger schönen. Doch ziemlich genau erinnern kann sich Rieken an einen Sommertag des Jahres 1973, er war damals fünf Jahre alt. Grün und blau geschlagen habe seine Mutter ihn wieder einmal, weil er die Milch verschüttet hatte, die er gelegentlich vom Bauern in der Nachbarschaft holen musste, erzählt er viele Jahre später.
Zum Trost für die Prügel habe ihm sein Vater Bonbons geschenkt. »Komm, wir hauen einfach ab«, habe sein »Alter« gesagt. »Abmarsch.« Und dann sei er mit seinem Vater in die Kneipe ins Nachbardorf gezogen.
Das war das Größte für mich.
Schon die Fahrt dorthin war für ihn ein Riesenspaß. Sein Vater nahm ihn auf den Schoß und überließ ihm das Steuer. Und Ronny liebte Autos. Die Schrottwagen, die üblicherweise im Garten standen, waren seine bevorzugten Spielplätze. Und wie andere Jungen Steine sammelten, sammelte er Autoschlüssel. Wie einen Schatz bewahrte er die Schlüssel in einem Schuhkarton auf.
An diesem Tag aber kehrt der kleine Ronny mit seinem Vater im »Jabben« ein, der Kneipe in Bollenhagen. Er bekommt manche Groschen zugesteckt, so dass er sich am Kaugummi-Automaten bedienen kann und so viele belegte Brote essen und Limonade trinken darf, bis er zu platzen meint. Wie ein kleiner Prinz wird er verwöhnt, jeder gibt ihm etwas aus.
Sein Vater spielt derweil mit seinen Trinkkumpanen Skat. Erst am Abend, als der Alkoholpegel wieder einmal bedenklich angestiegen ist, macht sich sein Vater mit ihm auf den Heimweg. Immerhin verfügt Wilhelm Hyazinthus Rieken noch über so viel Einsichtsvermögen, dass er sein Auto stehen lässt und die anderthalb Kilometer mit seinem Sohn zu Fuß geht – quer über die Weiden.
Das hätte an sich ganz nett sein können. Aber je näher wir unserm Haus gekommen sind, desto mehr Schiss habe ich gekriegt. Meine Mutter hat bei solchen Gelegenheiten immer ’n mächtiges Theater veranstaltet …
Die Befürchtungen sollten sich erfüllen: Zur Begrüßung habe sich ein gewaltiges Donnerwetter über ihn und seinen Vater entladen, erinnert sich Ronny Rieken. Dabei habe er noch Glück gehabt. Denn seine Mutter habe schnell von ihm abgelassen, weil sie in eine handgreifliche Auseinandersetzung mit ihrem Mann geraten sei. Für ihn sei es nichts Ungewöhnliches gewesen, Zeuge einer solchen Szene zu werden, sagt Rieken.
Das kam öfter vor, dass sich die beiden geprügelt haben. Meistens haben sie sich in die Haare gekriegt, wenn sie beide gesoffen hatten. Vor allem nach Familienfeiern und so ging es immer hoch her.
Wenn sein Vater nachts betrunken von der Arbeit nach Hause gekommen sei, habe auch er, der kleine Ronny, zittern müssen. Einmal, sagt er, habe sein Papa sich zu ihm ins Bett gelegt und ihm mit Gewalt sein erigiertes Glied in den Mund gesteckt.
Das war dann nicht mehr so schön. Furchtbar war das, wahnsinnig weh getan hat das.
Noch viele Jahre später erinnert sich Rieken daran, wie er einmal in seiner blutigen Schlafanzughose zum Frühstück gekommen sei. Auch seine Mutter habe sehen können, was geschehen war. Doch sie habe sich dafür entschieden, den Mantel des Schweigens über den Vorfall zu breiten – getreu ihrem Motto: »Was in der Familie passiert, bleibt auch in der Familie.«
Oft habe sich harmlos angelassen, was grausam enden sollte. Viel Spaß habe er zum Beispiel gehabt, wenn sein Vater mit ihm in der Scheune auf den Heuballen saß und Steinewerfen mit ihm spielte, berichtet Rieken. Die Kunst habe darin bestanden, den Stein in einen zwei, drei Meter entfernten tellergroßen Kreis zu zielen. Wer den Kreis verfehlte, habe tun müssen, was der andere verlangte. Was dann aber sein Vater verlangt habe, sei kein Kinderspiel mehr gewesen. »Bisschen dran nuckeln ist gar nicht schlimm.« Mit Sprüchen dieser Art habe ihm sein Vater immer zugeredet, wenn er sich vor dem geforderten Schwanzlutschen ekelte. Dabei habe ihn »der Alte« auch unter Druck gesetzt, indem er seine Rolle als Beschützer ins Spiel brachte. So in dem Stil: »Wenn du das jetzt nicht machst, dann kann ich dir auch nicht mehr helfen, wenn Mama dich hauen will.«
Oft, sehr oft habe er mit seinem Vater gespielt, sagt Ronny Rieken. Gut erinnere er sich vor allem an das Frage-und-Antwort-Spiel, bei dem man grundsätzlich mit »Nein« antworten musste. Auch hierbei habe der Verlierer tun müssen, was der andere von ihm verlangte – und nicht selten habe er, Ronny, verloren.
Das war schon schlimm. Aber ich hab gedacht, das geht irgendwann auch wieder vorbei, und dann ist es wieder meine kleine heile Welt.
Willi Rieken verging sich auch an seinen beiden Stieftöchtern Jutta und Ulla. Auch dies konnte seiner Frau nicht verborgen geblieben sein. Immer wieder muss Ronny Rieken zum Beispiel an diesen Sonntagmorgen denken. Seine Mutter sei gerade beim Essenkochen gewesen, erzählt er. Plötzlich sei lautes Weinen aus Ullas Schlafzimmer gedrungen. Kurz zuvor war sein Vater vom Frühschoppen zurückgekehrt, um sich gleich zielstrebig zum Bett der Elfjährigen zu schleichen. Als er Ullas Weinen gehört habe, sei er seinem Vater gefolgt, erzählt Rieken. Durch einen Türspalt habe er dann diese furchtbare Szene beobachtet.
Ulla hat gestrampelt und geweint. Mein Vater hatte sich auf sie geworfen und scheinbar versucht, in sie einzudringen. Aber meine Mutter hat so getan, als wenn sie nichts davon mitkriegt. Die hat einfach nur die Schlafzimmertür zugemacht, und das war’s dann. Ich selber habe mir auch gedacht, dass ich lieber nichts sage, bevor ich wieder ran muss bei ihm.
Erst als Willi Rieken wegen der Vergewaltigung eines anderen Mädchens angeklagt wurde, trat der häusliche Missbrauch zutage. Ronnys Onkel und Tante bezeugten vor Gericht, dass der Angeklagte auch seine beiden Stieftöchter missbrauchte. Der Missbrauch des Sohnes indessen blieb unerwähnt.
Ronny war noch keine sieben Jahre alt, als sein Vater verhaftet wurde. Von der Festnahme selbst bekam er allerdings nichts mit. »Der ist auswärts arbeiten«, erklärte seine Mutter ihm. »Der bleibt für längere Zeit weg.«
Vater Rieken blieb für mehrere Jahre weg. Er kehrte nie wieder zu seiner Familie zurück. Um der Peinlichkeit des Skandals zu entfliehen, verließ seine Frau gleich nach der Festnahme mit ihren vier Kindern – inzwischen war auch Ronnys jüngste Schwester Manuela geboren – Hals über Kopf das Dorf am Jadebusen und zog nach Oldenburg. Die Familie quartierte sich zunächst im Haus von Schwester und Schwager ein, später in eine eigene kleine Wohnung in der Stadtmitte.
Einige Monate nach der Festnahme sollte es noch einmal zu einer kurzen Begegnung zwischen Vater und Sohn kommen. Um Möbel und andere Einrichtungsgegenstände abzuholen, war Margot Rieken mit Ronny zum früheren Haus der Familie gefahren. Um eine ordnungsgemäße Aufteilung des Hausstandes sicherzustellen, war es auch ihrem inhaftierten Mann gestattet worden, für diesen Lokaltermin das Gefängnis in Begleitung von Polizeibeamten zu verlassen. Er sei froh und traurig zugleich gewesen, seinen Vater wiederzusehen, sagt Ronny Rieken. Er habe von seinem »Erzeuger« einen alten Autoschlüssel geschenkt bekommen, verbunden jedoch mit einer Drohung: »Erzähl bloß keinem, was wir beide früher so zusammen gemacht haben. Sonst passiert dir was.«
Zum Abschied habe ihn sein Vater dann aber noch einmal auf den Arm genommen und ihm übers Haar gestreichelt. »Irgendwann sehen wir uns wieder, Junge. Und dann kommst du ganz zu mir«, habe sein Vater zu ihm gesagt.
Das waren seine letzten Worte. Die habe ich nie vergessen.
Trotz allem vermisste Ronny seinen Vater. Nun sei ja niemand mehr da gewesen, der sich schützend vor ihn gestellt habe, sagt er. Wenn seine Mutter ihn zum Beispiel wieder einmal geschlagen habe – mit dem Kleiderbügel, mit Gürteln oder der Hundeleine, was ihr gerade so in die Hände gekommen sei. Einmal habe sie ihn so lange mit einem Holzschuh auf den Kopf gehauen, bis das Blut gespritzt sei.
Gleichzeitig sei er von seiner Mutter aber auch mit Geschenken überhäuft und verwöhnt worden, erzählt er. Dennoch habe er sich immer nach seinem Vater gesehnt – umso mehr, je länger er von ihm getrennt gewesen sei.
Ronnys Mutter setzte alles daran, den Kontakt zwischen Vater und Sohn zu unterbinden. Nun war ja für alle Welt offenbar geworden, was ihr Mann gemacht hatte. Und das Mindeste, was sie jetzt noch tun konnte, um den Schaden zu begrenzen, war, ihren Sohn, vor dem schlechten Einfluss zu bewahren – zu verhindern, dass Ronny dem Vorbild des Vaters folgte. Mit aller Macht und Härte. Die Katholikin selbst besuchte ihren Mann anfangs noch in der Justizvollzugsanstalt Celle, schrieb Briefe und erhielt Briefe. Doch der Kontakt erlahmte, als sie die alte Bekanntschaft mit Heini auffrischte, einem alleinstehenden Bauern, von dem die Familie einst das Haus in Südbollenhagen gemietet hatte. Schon damals war der Bauer gelegentlich heimlich »zu Besuch« gekommen. Nun in Oldenburg bestand zur Heimlichkeit keine Veranlassung mehr. Und Onkel Heini, wie ihn die Kinder zu nennen hatten, stellte sich immer häufiger ein.
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