Kitabı oku: «Zwischen Sehnsucht und Schande», sayfa 2
Die ebenfalls mitgeschickten Akteneinträge aus dem Gemeindepostbuch Hard, ein amtliches Protokoll kommunaler Aktivitäten, bringen die Rekonstruktion der Geschichte seiner Grossmutter tatsächlich voran. Die handschriftlichen Notizen sind für den Historiker trotz früherer Schulung eine Herausforderung, aber was sie erzählen, hat Substanz. Ein erster Eintrag aus der zweiten Jahreshälfte 1909 hält fest, dass man dem Sticker Looser im Haus Nr. 365 im Auftrag des kaiserlich-königlichen Steueramts von Bregenz folgende Information hat zukommen lassen: Mitteilung an Adolf Loser dass die am 30. 7. 1909 wegen rückständiger Einkommenssteuer im Betrage von K 10.80 verpfändeten bewegl. Sachen, als 1 Wanduhr im Werte von K 12.–versteigert wurde. Aha, der Pfändungskuckuck, den der Bregenzer Jurist am Telefon ins Spiel gebracht hatte, war also tatsächlich ausgeflogen und hatte sich bei der Familie Looser eine Wanduhr, vielleicht gar eine Kuckucksuhr, geholt. Ein böser Verlust. Vielleicht ein Hochzeitsgeschenk. Oder – fast noch wahrscheinlicher – man hatte sich das nötige Geld für den Kauf mühsam vom Mund abgespart, ein schmuckes tickendes Kästchen, das zudem half, dass der Vater morgens rechtzeitig in der Fabrik erschien und keine Strafen für Verspätungen kassierte. Denn Patron Hartmann, der harte Mann im Dorf, der neben seinem Dampfsägewerk auch über die grosse Stickerei herrschte, verstand keinen Spass in solchen Dingen. Bei den Harder Socialisten jedenfalls war er bestens bekannt, als ihr Feind Nummer eins.
Anna Maria und ihre Familie schaffen es also auch im Vorarlberg nicht aus dem Steuerschlamassel heraus. Im Dezember tritt der Exekutor erneut auf den Plan, an der örtlichen Gemeindetafel lädt er zum vorweihnachtlichen Einkauf in ihr Stickerhaus ein: Bregenz k k B.H.M.Gericht A 9609 2 Versteigerungs[…] zur Anschlagung an der Gemeindetafel, laut welcher am 20. 12. 1909 um 9 Uhr vormittags im Hause No. 365 in Hard mehrere dem Adolf Loser gehörende Gegenstände versteigert werden. Wie es in Hard mit dieser angekündigten Versteigerung dann weiterging, ist im Gemeindepostbuch nicht nachzulesen. Es bleibt dem Enkel nur die Fantasie. Offenbar hat es Adolf verstanden, der amtlich angesetzten Versteigerung durch eine Schliche zu entgehen. Vielleicht ermutigt von seiner bereits wieder schwangeren Frau, die wohl wenig Lust verspürte, das ganze Dorf zum Billigeinkauf im eigenen Haus zu begrüssen. Und von ihrer kärglichen Habe das, was noch ein bisschen Wert besass – die günstig erworbene Zinkbadewanne, der Reisekorb –, unter den eigenen Augen verhökern zu lassen. Zu einem lächerlichen Spottpreis noch dazu. Es könnte durchaus sein, überlegt der Enkel, dass seine Grosseltern just in der Nacht vor der angekündigten Versteigerung ihren Hausrat samt den drei Kindern gepackt haben und zurück in die Schweiz gefahren sind. Denn nur wenige Tage später meldet die Familie ihren Zuzug in St. Gallen, und im Mai wird dort das vierte Kind geboren, ein Mädchen, es heisst Klara, wie Anna Marias Mutter mit ihrem zweiten Namen.
Schon einen Monat später registriert das Melderegister einen erneuten Umzug. Im Juni 1910 geht es nach Gossau an die Haldenstrasse. Im Archiv dort findet sich aber nichts über die nur für wenige Monate zugezogene Familie. Eine ergebnislose Recherche, was den Enkel nicht weiter erstaunt. Die Spuren seiner verarmenden Grosseltern sind andernorts zuverlässiger abgelagert als an den ständig wechselnden Wohnorten der Familie, da ist er sich gewiss. Nämlich dort, wo der Grossvater herkommt, wo er Bürgerrechte besitzt, wo man sich – so will es das Gesetz – um in Not geratene Bürger, auch solche auf Steuerflucht, zu kümmern hat: in seinem → Heimatort, im toggenburgischen Nesslau. Der Enkel, als Nachfahre ebenfalls heimatberechtigter Nesslauer, wenn auch noch nie dort gewesen, meldet sich telefonisch auf der Kanzlei und lässt sich zusichern, dass er Zugang bekommt zum gemeindeeigenen Archiv.
Er nimmt sich dann später einen freien Tag, fährt dem Zürichsee entlang nach Wattwil, steigt in die kleine Regionalbahn und trifft voller Erwartung in Nesslau, das inzwischen zu Nesslau-Krummenau fusioniert hat, ein. Eine freundliche Beamtin unterstützt ihn bei der ersten Orientierung im Archiv, zeigt ihm die Ordnung der Bestände. Seine Hoffnung auf eine schön geordnete Personenakte zu Grossvater Adolf und seiner Familie zerschlägt sich schnell. Schliesslich wurde der Mann ja auch nicht bevormundet. Nun heisst es die Jahrbücher durchforsten, in den Protokollen des Gemeinderats mit der darin integrierten Armenpflege müsste etwas zu finden sein.
Glücklicherweise gibt es im Anhang der Folianten ein Personenverzeichnis mit Seitenverweisen, das führt den forschenden Nachfahren zuverlässig durch die Hunderte von Seiten. Nachdem er sich mit der Systematik und der schwer zu entziffernden Kurrentschrift angefreundet hat, kann es losgehen. Und tatsächlich fangen die Quellen zu sprudeln an, und zwar weit kräftiger, als er es sich je erträumt hätte. Der Enkel blättert, liest, schreibt ab, Eintrag um Eintrag, jeder mit Datum und Nummer versehen, es will kein Ende nehmen. Und als er nach einem ersten Tag das Archiv verlässt, müde und zufrieden, überschlägt er im Kopf die Anzahl Tage, die es noch brauchen wird, um den Schatz zu heben. Es wird ihn einige Ferientage kosten.
Der allererste Eintrag in den Nesslauer Gemeinderatsprotokollen zur Familie Looser findet sich am 12. Juli 1910: Looser Adolf, Schifflisticker, Gossau. Nachdem Looser Adolf zur Rückzahlung aufgefordert worden ist, erklärt derselbe momentan nicht zahlen zu können. Derselbe wird aufgefordert die Schulden frs.40.– in monatlichen Raten à 10.– zurückzuzahlen, womit auch seine Rehabilitierung erfolgen werde. Um welche Schulden es hier genau geht, ob die Bütschwiler noch immer versuchen, die seit vier Jahren offenen Steuern einzufordern, ob allenfalls die Vorarlberger hinter dem Exekutionsvereitler her sind oder ob neue Schulden angefallen sind, ist unklar. Der nächste Eintrag hält fest, dass sich bereits eine neue Gläubigerin in Nesslau gemeldet hat, und zwar Adolfs Schwiegermutter, Frau Bauer, aus St. Gallen: In einem längeren Schreiben schildert die Schwiegermutter dieses der Gemeinde zur Last gefallenen Mannes dessen Verhältnisse. Dieselbe ersucht die Gemeinde, ihr an die gehabten Einbussen etwas zu vergüten. Es scheint, dass Anna Maria mit ihrer Mutter in dieser Zeit Kontakt gehabt hat, vermutlich ist sie mit ihrer Familie nach der überstürzten Abreise von Hard für ein paar Tage bei ihr untergeschlüpft. Und diese, inzwischen selber armengenössig, versucht, aus der erzwungenen Gastfreundschaft ein paar Rappen für sich selbst herauszuschlagen. Vergeblich, wie ihr postwendend mitgeteilt wird: Der Gemeinderat dagegen erklärt auf solche Sachen sich nicht einlassen zu können.
Auch Anna Maria hat sich bei den Nesslauer Behörden gemeldet, auch sie trifft mit ihrem Begehren auf taube Ohren: Für das Guthaben der Gemeinde dagegen wird Looser, trotz Gesuchs der Frau, die um längere Frist nachsucht, nur noch bis 25. September Zeit gegeben, die Sache zu ordnen. Die Uhr tickt, und schliesslich kommt vom Departement des Inneren grünes Licht für eine Betreibung: Betreibung von Looser-Boxler Gossau. 142. In Sachen der Angelegenheit Looser-Boxler in Gossau, scheint das Departement des Innern belehrt zu sein, derselbe gibt in Schreiben vom 4. Oktober der Behörde das Recht der Eintreibung zu. Später werden die Nesslauer vom Departement zwar noch einmal zurückgepfiffen, weil sie monatlich zehn statt der rechtlich zulässigen fünf Franken zurückerstattet haben wollen. Aber am grundsätzlichen Entscheid ändert sich nichts, und nichts an der Drohung, die die Gemeinde dem verschuldeten Sticker zukommen lässt. Looser-Boxler. Androhung betr. Anstaltsversorgung. Das Gemeindeamt Gossau in Sachen Adolf Looser-Boxler. Looser wird bezichtigt seine Familie ganz zu vernachlässigen, sodass die Kinder gerade zu darben müssen, während er sein Geld in die Wirtshäuser trage. Gestützt hierauf wird Looser eröffnet, dass wenn weitere derartige Klagen erfolgen, der Gemeinderat eine Anstaltsversorgung anstrengen werde.
Nesslau droht dem verschuldeten Sticker Adolf also gleich nach seiner ersten Betreibung mit einer Anstaltsversorgung. Das muss schwere Kost gewesen sein für einen wie ihn, der sich mit seiner wachsenden Kinderschar irgendwie durchzuhangeln versucht, und offenbar, wie viele andern auch, sein Elend öfters im Alkohol ertränkt. Aber Verarmung galt damals bei den Behörden schnell einmal als selbstverschuldetes Versagen, die Drohung mit Arbeitserziehung in einer Anstalt war gängige Antwort. Mit ihrer Betreibung geraten Anna Maria und ihr Mann Adolf erstmals ins Mahlwerk dieser Armutsverwaltung. Was sie damals nicht wissen können, ist, dass dies erst ein ganz harmloser Anfang davon ist.
Das Loch im Geldbeutel der sechsköpfigen Familie wird mit der Drohung nicht gestopft. Die geschuldeten Rückzahlungsraten belasten den Haushalt, und der Tröster Alkohol bezieht seinen Lohn weiterhin in harter Währung. Man kann den Zins nicht mehr bezahlen, man muss umziehen, mehrmals innert Jahresfrist. Für Anna Maria bleibt kaum Zeit für ein paar Tage im Kindbett.
Denn in den Kissen liegt ihr fünftes Kind. Ein Sohn. Noch ein Hungerleider, wie Anna Maria mit Bedauern denkt. Ihn hätte es – wäre es nach ihrem Willen gegangen – gar nicht geben sollen. Dies erfährt ihr Enkel knapp hundert Jahre später in einem herrschaftlichen Altbau in der Stadt St. Gallen, im modern ausgebauten, mit Sicherheitsbarrieren ausgestatteten Staatsarchiv. Vor sich hat er jenen Stapel von Gerichtsurteilen liegen, den der Staatsarchivar auf seine Nachfrage hin zusammengetragen hat und dessen beachtlicher Umfang den umsichtigen Beamten doch ziemlich erschreckt haben muss. Jedenfalls hat er sich beim im Lesesaal wartenden Nachfahren erst vorsichtig erkundigt, ob dieser bereits etwas wisse vom Leben seiner Grossmutter. Der Enkel antwortet mit einem zögerlichen Nein, beruhigt den besorgten Kollegen jedoch sogleich mit dem Hinweis auf seine eigene Professionalität als Historiker. Er sei sozusagen bereits gewarnt, erklärt er diesem, es gebe einige Indizien, dass da eine schwierige Geschichte in den Akten schlummere, und zudem sei er von seiner Familie so einiges gewohnt. Der Archivar nickt, ein wenig skeptisch, überlässt ihm aber den Aktenstoss. Sieben Urteile, auf grosse A3-Bogen kopiert, im Umfang von bis zu zehn Seiten.
Und nun sitzt der Enkel also im grosszügig angelegten, fast leeren Lesesaal. Es ist ein schöner Frühlingsmorgen, er wischt sich, bevor er sich an den Stapel heranwagt, die letzten Krümel des Frühstücksgipfels vom Mund und beginnt in einem der Gerichtsurteile zu lesen. Darin wird seine Grossmutter wegen versuchter Fruchtabtreibung für schuldig erklärt und mit Strafen verurteilt. Versuchte Abtreibung bedeutet, dass das Kind das Prozedere überlebt hat, überlegt der Enkel. Er überfliegt noch einmal die Daten in dem ausgebreiteten Schriftstück und beginnt zu rechnen. Er will prüfen, ob der widerspenstige Fötus als Lebendgeburt in der Kinderreihe seiner Grossmutter auch tatsächlich auftaucht. Plötzlich blitzt es in seinem Kopf. Ein kleiner, greller Schmerz. Das Kind, das damals hätte abgetrieben werden sollen, ist das einzige in der Schar, das er wirklich kennt. Es heisst Fritz. Und wurde später sein Vater.
3 Strafe statt Hilfe
Als die sieben Richter des Bezirksgerichts Gossau am 20. Juni 1911 zu ihrer ordentlichen Sitzung zusammenkommen, um in der Strafsache gegen Looser Anna Maria geb. Boxler, Hausfrau, Landaustrasse 18, Straubenzell pto. Versuch der Fruchtabtreibung Recht zu sprechen, ist die Angeklagte mit ihrem fünften Kind im siebten Monat schwanger. Die Herren sind nach Lesung der bezirksamtlichen Strafleitung und des Dekrets der Anklagekammer und nach Anhörung der Verteidigung & Prüfung der Akten gut informiert. Sie wissen, dass nach achtjähriger Ehe das eheliche Leben der Beklagten mit ihrem Manne im Ganzen ein Glückliches war, sie wissen um die Existenz der vier Kinder im Alter von einem, drei, sechs und sieben Jahren und dass die Familie stets mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Sie wissen aber noch sehr viel mehr. Zum Beispiel, dass Anna Maria am 6. November vorigen Jahres anlässlich des Umzugs der Familie Looser von der Haldenstrasse nach Mettendorf die Periode sehr stark hatte und dass diese danach ausfiel. Dass sie später an die Möglichkeit einer Schwangerschaft dachte, dass sie ein Inserat im «Stadtanzeiger» las, welches das Mittel «Sorgenlos» gegen das Ausbleiben bestimmter Vorgänge anpries und sie sich vornahm, damit einen Versuch zu machen. Dass sie dann an die erwähnte Adresse schrieb und per Nachnahme ein Schächtelchen bekam, das ein hellbraunes Pulver, ähnlich dem Brustpulver enthielt. Und weiter, dass sie dann während 2–3 Tagen das Pulver eingenommen hat, was aber keine Wirkung zeigte. Die Herren wissen auch vom Prospekt mit den Empfehlungen, der dem Pulver beilag, und vom Begleitbrief, der dazu aufrief, bei fehlender Wirkung dem Absender davon zu berichten. Anna Maria tat dies und reklamierte, worauf sie in der Woche vor Neujahr 1911 ein ziemlich umfangreiches Paket unter Nachnahme von fr. 6.– erhielt. Darin fand sie eine ziemlich grosse Flasche mit einer Flüssigkeit. Dies sind die vordergründigen Tatbestände, wie sie im Gerichtsurteil festgehalten sind. Anna Maria Boxler wusste natürlich, dass → Abtreibung verboten war und mit kräftigen Geld- und Zuchthausstrafen geahndet wurde. Was damals aber für fast alle Frauen galt, galt auch für sie. Sie hatte gar keine andere Wahl, Geburtenkontrolle hiess zwangsläufig abtreiben. Wohl gab es bereits erste, aus Tierdärmen gefertigte Kondome, doch die waren zu teuer und wurden den Frauen von den Gynäkologen auch gar nicht abgegeben. Sich den Männern zu verweigern, war auch keine Lösung und verstiess zudem gegen die eheliche Pflicht. So blieb ihnen für den akuten Notfall nur der nicht ungefährliche Selbstversuch mit zweifelhaften Mittelchen. Oder dann der heimliche Gang zu den Engelmachern, in den ungeschützten Raum dubioser Hinterzimmer mit nur zu oft ebenso dubiosen Helfern, ein Weg voller Risiken, manchmal gar lebensgefährlich und allemal aufwendig und teuer, seelisch genauso wie monetär. Ein illegaler Abbruch kostete die Schwangere zwei bis vier Wochenlöhne, und wurde sie ertappt, drohten Geldstrafen und Gefängnis. Anna Maria hatte mit ihrer Bestellung des Mittelchens «Sorgenlos» auf eine billige und gesundheitlich nicht allzu riskante Art gesetzt, als sie sich entschied, ihre fünfte Mutterschaft zu verhindern. Sie hatte dabei doppeltes Pech. Das Mittel wirkte nicht, und zu ihrem Unglück hat sie auch noch jemand denunziert.
Jetzt, als Angeklagte vor den Herren Richtern stehend, gilt es, Strategien zu entwickeln, um aus dem Schlamassel möglichst glimpflich davonzukommen. Sie versucht es mit angeblicher Unwissenheit. Die Beklagte behauptete anfänglich im Untersuche, sie habe das 1. Mittel zu sich genommen, um den Wiedereintritt der Periode zu bewirken, indem sie noch nicht an die Möglichkeit einer Schwangerschaft gedacht habe. Sie habe viel unter Periodenstörungen zu leiden. Diese Ausrede verfängt nicht beim hohen Gericht. Vermutlich kennen die Herren die Argumente der in dieser Sache angeklagten Frauen nur zu gut, schliesslich gibt es ständig solche Verfahren. Es muss für die Juristen ein Leichtes gewesen sein, die wohl oft hilflosen Ausreden der meist ungebildeten Frauen, die zudem ohne rechtlichen Beistand vor ihnen standen, zu zerpflücken und als Notlüge zu entlarven.
Erschwerend im Falle der Anna Maria kommt hinzu, dass es Zeuginnen gibt. Zwei davon werden im Untersuchungsbericht erwähnt. Die eine, Frau Schmitter, hat zu Protokoll gegeben, dass Anna Maria ihr im März von dem Mittelchen und seiner positiven Wirkung erzählt und behauptet habe, sie sei nun von ihrer Schwangerschaft befreit. Und die zweite, ihre ehemalige Vermieterin, Frau Federer-Krucker, hat bei den Herren ebenfalls deponiert, dass ihre Mieterin ihr erzählt habe, sie sei in andern Umständen, wolle kein Kind mehr & werde es nun probieren, ob bei Anwendung des Pulvers die Frucht von ihr gehe. Wie die beiden Zeuginnen den Weg zu den Richtern gefunden haben, ob sie freiwillig oder unter Druck – und, wenn ja, von wem – gegen ihre Geschlechtsgenossin ausgesagt haben, weiss man nicht. Fest steht nur, dass Anna Maria verraten wurde, denn wie sonst wäre es bei der inzwischen Hochschwangeren zur Anklage gekommen, da der Abbruch ja offensichtlich nicht geklappt hat? Ihre frühere Hauswirtin kommt als Denunziantin weniger infrage. Sie scheint keine Gegnerin der Abtreibung gewesen zu sein, denn sie hat den hohen Richtern freimütig erzählt, dass sie selbst auch schon genug Kinder habe und dass sie deshalb ihre Mieterin, die ihr vom Mittel angeboten habe, gefragt habe, ob das Pulver auch gut zu nehmen sei, was die Beklagte verneint habe.
Zurück zu den Strategien der Angeklagten, die versucht, die Herren Richter zur Milde zu bewegen. Die zweite Karte, die sie ausspielt, ist ebenso wenig erfolgreich. Anna Maria gibt nun zwar zu, dass sie bei Bestellung des Mittels an Schwangerschaft gedacht habe, schränkt aber ein, sie habe […] gemeint, wenn diese allfällig infolge des Mittels abgehe, so begehe sie mit der Anwendung desselben kein Verbrechen, da ja noch kein lebendes Wesen in Frage stehe. Aber Unwissenheit schützt vor Strafe nicht, das gilt heute und galt damals, wie der Richtspruch bestätigt: Der Umstand, dass die Beklagte an ein Verbrechen nicht gedacht haben will, ist ebenfalls irrelevant, indem nach ART. 27. S.G.B. Nichtkenntnis des Gesetzes bezw. der Strafbarkeit der Handlungsweise keine Entschuldigung für die letztere bildet. Einzig in einem Punkt gelingt es der Angeklagten, die Richter von ihrer Unschuld zu überzeugen. Sie bestreitet, auch noch den Inhalt der zweiten Lieferung, die erwähnte Flasche mit Flüssigkeit, ausprobiert zu haben, sondern behauptet, sie habe sie sofort in den Abort geleert. Das klingt nicht unbedingt überzeugend. Schliesslich möchte Anna Maria ja abtreiben, hat deshalb in Zürich reklamiert und den Preis von sechs Franken für die neue Lieferung bezahlt. Das ist kein Pappenstiel für eine junge Textilarbeiterin, sondern das sind drei volle Taglöhne. Was sich also eher unglaubwürdig anhört, wird von den Richtern, vermutlich mangels Gegenbeweisen, akzeptiert: Anhaltspunkte dafür, dass diese Angabe unrichtig wäre, liegen nicht vor. Auch Anna Marias unversehrter Ruf spielt, wie die Urteilsbegründung noch zeigen wird, eine Rolle, dass man ihr so bereitwillig glaubt. Aber natürlich macht es den ersten Versuch, den mit dem Pülverchen, nicht ungeschehen, der Strafbestand bleibt, und der Richtspruch der Herren ist eindeutig: Die Beklagte ist des Fruchtabtreibungsversuches schuldig erklärt & wird mit fr. 100.– gestraft. Immerhin wird der Hochschwangeren statt der sonst üblichen Strafe mit Arbeitshaus oder Zuchthaus ein bedingter Straferlass zugebilligt. Gründe dafür sind einerseits ihrer akuten Notlage, da sie als Mutter von 4 Kindern in bedrängten ökonomischen Verhältnissen lebt, ferner der geringe Grad von Böswilligkeit, der Mangel einer Schädigung, der Mangel an Vorstrafen, sowie der Umstand, dass die Beklagte ihre Versuchshandlung freiwillig auf das erstmals zugesandte Mittel beschränkt hat. Und noch ein weiterer Grund wird ihr zugutegehalten und zur Strafmilderung angeführt, und zwar ihre angebliche Passivität in der ganzen Sache, dass nämlich die Beklagte durch eine, leider straffreie Anpreisung in der Presse & weniger aus eigener Initiative zur Anwendung des kritischen Mittels gekommen ist. Dass Anna Maria vor allem das Opfer geschickter Werbung sein soll, deutet der Enkel, wie er seine Grossmutter inzwischen kennengelernt hat, vor allem als paternalistische Überheblichkeit. Oder aber Anna Maria hat gezielt das von der Presse verführte Opfer gemimt, um mit geringerer Strafe wegzukommen.
Wie auch immer, Anna Maria Boxler kommt mit einer bedingten Verurteilung und Verfahrenskosten von 63.40 Franken davon. Wie sie als Ehefrau eines verschuldeten Mannes diese Kosten abzahlen soll, kümmert die St. Galler Richter nicht weiter. Vielleicht hat man den Betrag wegen Zahlungsunfähigkeit direkt bei den Nesslauern eingefordert, oder Anna Maria und Adolf haben tatsächlich bezahlt, mehr als drei Wochenlöhne des Schifflistickers, und sich andernorts noch etwas mehr verschuldet.
Jedenfalls geht es nur wenige Monate, da flattert schon die nächste Vorladung ins Haus. Diesmal gilt die Einladung Adolf, dem Oberhaupt der Familie, er wird wegen leichtsinnigem Schuldenmachen auf die Anklagebank geholt.
Das Gerichtsurteil vom 29. Dezember 1911 liest sich in den ersten Passagen wie der Einstieg in eine literarische Dorfnovelle. Da wird beschrieben, wie der Lebensmittelhändler Ernst Traber dem Looser Adolf auf Kredit Ware ausgab, wie dieser zwischendurch mit einer Abschlagszahlung die Schuld verminderte, wie durch Einkäufe seiner Frau die Schuld wieder anstieg, wie Frau Looser um vierzehn Tage Aufschub bat, da sie zinsen müsse, wie sie dann am fraglichen Tag eines ihrer Kinder vorschickte (wahrscheinlich ihre Älteste, die siebenjährige Marie) und für weitere sieben Franken Ware holen liess und auf einem dem Mädchen anvertrauten Zettel versprach, dass sie noch am nämlichen Tag vorbeikommen werde, um die ganze Schuld abzuzahlen. Wie sie dies dann aber nicht getan habe, worauf der Kläger in ihre Wohnung gegangen sei und Frau Looser ihm schliesslich gestand, sie könne nichts bezahlen, ihr Mann habe schon während einigen Tagen nichts verdient, sie habe kein Geld. Und wie schliesslich auf diesem Weg eine Schuld von 103.85 Franken zusammengekommen sei, für die Adolf Looser nun verklagt werde. Der Kläger erklärt weiter, er habe ihm eine so grosse Summe kreditiert, weil er bei drei Arbeitgebern Erkundigungen eingezogen habe und beruhigt worden sei, er werde sein Geld schon erhalten.
Die Novelle ist längst ein agitatorisches Lehrstück geworden, denkt der Enkel beim Weiterlesen, so, wie man sie in sozialistischen Kampfblättern jener Zeit, etwa im «Textilarbeiter» oder in der «Vorkämpferin», lesen konnte, die mit solchen Mustergeschichten die Verelendung proletarischer Familien anprangerten. Auch bei Loosers reichten die Löhne nirgends hin, deshalb liess man bei den Händlern anschreiben, jonglierte zwischen all den Gläubigern hin und her, schickte eines der Kinder vor, um noch einmal ein Brot und etwas Milch auf Kredit zu erbitten.
Insofern war es eine ganz alltägliche Geschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit der die Richter in Gossau sich zu beschäftigen hatten. Und es mag sein, dass sie manchmal ein bisschen zweifelten an der Gerechtigkeit, der sie dabei das Wort zu reden hatten. Menschen zu bestrafen, nur weil sie versuchen, ihre Kinder durchzubringen, wirft ja auch Sinnfragen auf. Doch die geltende Moral, auf Kanzeln und in Schulzimmern verkündet, stellte sich zuverlässig auf ihre Seite. Wer fleissig war und bescheiden, da war man sich einig, hatte nichts zu befürchten. Diesmal übernimmt der Kläger, es ist der Händler Traber, die Rolle des Predigers, der den Mahnfinger hebt und feststellt, dass Loosers über ihre Verhältnisse gelebt, denn soviel Waren wie sie geholt, brauche keine Familie, oft seien 2 Bieberfladen an einem Tag geholt worden, wie auch auffallend viel Chocolade.
Nicht etwa strukturell bedingte Not führt also zur Verschuldung, sondern Gier und Verschwendungssucht. Mit diesem Schachzug wird die Angelegenheit zum Privatproblem zweier Leute, gerät der Prozess zum Ehestreit vor richterlichem Publikum. Ehemann Adolf stimmt denn auch dem Kläger Traber bereitwillig zu: Es sei richtig, dass in geradezu leichtsinniger Weise viel zu viel gebraucht worden sei, hält er fest. Und reicht dann die Anwürfe an seine Frau und ein bisschen an den Kläger weiter: Traber sei insofern mitschuldig, dass er zu viel gegeben und kreditiert habe. Traber hätte einmal Halt gebieten und dem Beklagten rechtzeitig Mitteilung machen können. […] Wenn seine Frau und seine Schwiegermutter auf seine Rechnung Waren geholt, so könne er nichts dafür. Wenn er untertags von Hause abwesend sei, so mache man dort was man wolle. Für sich habe er nichts. Er gebe seinen ganzen Verdienst in die Familie. Ob Adolf hier aus taktischen Gründen seine Frau bezichtigt, um sich so aus der Anklage herauszuwinden, oder ob sich hinter den Anwürfen tatsächlich Ehekonflikte verstecken, ist nicht zu beurteilen.
Das Urteil hält dann fest, dass Anna Maria zwar zugibt, bei Traber manches bezogen zu haben, was nicht gerade notwendig gewesen sei, dann aber rechtfertigt sie sich, dass sie oft die ganze Woche kein Fleisch habe kaufen können. […] In kritischer Zeit sei sie schwanger gewesen und habe nicht alles essen können, weshalb sie mit Chocolade und derlei Sachen nachgeholfen habe. Und schliesslich deponiert auch sie noch ihren Packen Vorwürfe an die Adresse ihres Mannes, der seinen redlichen Teil mitgeholfen durch seinen Geldverbrauch, der eben auch hätte eingeschränkt werden können. […] Dass der Mann nicht haushälterisch sei, beweise die Tatsache, dass er am Sonntag, den 24. September allein frs. 10.– verbraucht habe. Wenn der Mann Geld im Haus habe, so brauche er es eben auch. Und schliesslich geht sie in ihrem Unmut noch einen Schritt weiter, hält fest, dass die Ursache der Zahlungsunvermögenheit auch auf den Umstand zurückzuführen sei, dass der Mann zu wenig Ausdauer zeige und zu seinen Anstellungen zu wenig Sorge trage. Deshalb könne sie eine Anschuldigung wegen leichtsinnigem Schuldenmachen nicht an sich kommen lassen, sie habe ihre Sache so gut gemacht, als sie es gekonnt, sie habe auch mit Nachsticken viel Geld verdient. Der Streit ist in vollem Gang. Das Paar verliert an Glaubwürdigkeit, und die Richter sehen sich in ihrer Rechtsprechung bestätigt.
Liest man weiter im Urteil, wird deutlich, dass Anna Maria mit ihren Anwürfen vermutlich eher zurückhaltend war. Ihre Mutter aber, ebenfalls als Zeugin befragt, nimmt kein Blatt vor den Mund, ihrem Ärger über diesen Schwiegersohn Luft zu verschaffen: Der Beklagte wird auch von seiner Schwiegermutter als dem Trunke & dem Spiel ergeben bezeichnet und sie wünscht, dass derselbe bevogtet werde. Er lebe nur für die Vereine und gehe ganze Nächte dem Vergnügen nach, er sei ein sehr gleichgültiger Mensch. Wenn er sich mehr der Familie widmen würde, so wäre vieles anders, er sei ein liederlicher Tropf. Aus der Heimatgemeinde Nesslau kommen ähnliche Klagen, was nicht unbedingt erstaunt, denn bekanntlich hat Schwiegermutter Bauer auch dort bereits ihren Unmut deponiert. Mit Schreiben vom 23. Februar 1911 macht sie demselben Vorwürfe über seinen liederlichen Lebenswandel, dass er in Vereinen und Gesellschaften alle Anlässe mitmache und ihm das Wirtshaus mehr Heimstätte geworden sei als die Wohnung, während er der Gemeinde noch Unterstützungen schulde und die Kinder Mangel am Notwendigsten leiden müssen.
Was es mit Adolfs → Trunksucht auf sich hat, lässt sich nicht wirklich klären. Das Wirtshaus war damals für alle proletarischen Männer so etwas wie eine zweite Wohnstube. Eine Rettung aus der Enge ihrer mit Betten vollgestellten Wohnräume, mit lärmenden oder schlafenden oder einnässenden Kindern und erschöpften Frauen, die sich abrackerten mit Kochen und Flicken und abends dann noch für ein paar Stunden in den Stoffen und Bordüren ihrer Heimarbeit versanken. Das Wirtshaus als Fluchtort war männliches Vorrecht, der Alkohol als Trosttrank selbstverständliche Zugabe.
Was den Enkel aufmerken lässt, ist der Vorwurf mit den Vereinen und Gesellschaften. Nur zu gerne hätte er herausgefunden, wo genau sein Grossvater mitgemacht hatte und ob er vielleicht gar politisch unterwegs war. Jedenfalls waren damals unruhige Zeiten in der Schweiz. Die Verelendung der Arbeiter ging, trotz Hochkonjunktur vor dem Ersten Weltkrieg, ungebrochen weiter, man begann sich zunehmend zu wehren. Der Gewerkschaftsbund war bereits vor der Jahrhundertwende gegründet worden, der Fabrikstickerverband ebenfalls, und auch die Schweizer Sozialdemokratie, seit 1888 neue Kraft im Parteiengefüge, bekam Zulauf. Es gab Unruhen und Streiks, die Regierung setzte die Armee ein, Patrons entliessen Gewerkschafter und schrieben in die Lehrlingsverträge gewerkschaftliche Beitrittsverbote. Vielleicht, so malt der Enkel sich aus, während er ein Buch zur Geschichte der Arbeiterbewegung liest, hat Adolf ja zu jenen zwanzig Prozent der Schifflisticker gehört, die sich im Verband organisierten, oder hat beim grossen Streik in Arbon in der Stickerei Heine mitgemacht. Oder, auch das ist denkbar, vielleicht war er damals in Tablat mit dabei, 1905, als die Sticker sich in der «Traube» versammelten, um mit sozialdemokratischer Hilfe Massnahmen gegen die immer ärgeren Missstände in der Stickerei zu debattieren. Der Enkel hat just zu dieser Versammlung einen Bericht gefunden und liest fasziniert, wie man damals die Löhne drückte bei den Nachstickerinnen, indem man italienische Arbeiterinnen holte, junge, oft minderjährige Frauen, die man in Stickerheime sperrte und zu miesesten Löhnen schuften liess. An der besagten Versammlung wurde dazu von Arbeiterführer Hermann Greulich persönlich eine Geschichte rapportiert. Dieser erzählte von drei halbwüchsigen Töchtern aus Ponte Tresa, die von katholischen Priestern mit Aussicht auf guten Verdienst in ein St. Galler Mädchenheim für Nachstickerinnen gelockt worden seien. Dann sei den Mädchen jeder Fehler mit hohen Strafabzügen quittiert worden, sodass sie unterm Strich fast nichts mehr verdient hätten, und zudem habe man ihnen auch noch das Recht auf Kündigung abgesprochen, da sie sich vorgängig für zwei Jahre fest verpflichtet hätten. Und um das Fass übervoll zu machen, so ereifert sich der aus Zürich angereiste Greulich, seien die jungen Mädchen von den Ordensschwestern im Heim auch noch regelrecht religiös drangsaliert worden.