Kitabı oku: «Die Normalität des Absurden», sayfa 3
Die Fahrt mit dem Panjewagen
Es war im Sommer 1945, als meine Mutter, aus Haid kommend, mit meiner damals erst fünfjährigen Schwester Gerti auf das Sitzbrett des Panjewagens eines russischen Soldaten stieg, der beide mit seinem Pferdegespann in das ca. vier Kilometer entfernte Rodisfort mitnahm und vermutlich nur hilfsbereit war. Unterwegs ließ er gesprächsweise erkennen, dass er am Nationalgetränk der Russen, Wodka, interessiert war. Als Gegenleistung bot er Schweinefleisch, welches mit unserer sehr knapp bemessenen „Lebensmittelkarte für Deutsche“ im Sommer 1945 gar nicht beziehbar war.
Wir hatten keine entsprechende Spirituose zu Hause und hochprozentige Alkoholika waren in unserem Haushalt verpönt. Meine praktisch denkende Mutter hatte aber – noch im April 1945 – bei der NSV relativ billig mehrere Flaschen Wein erstanden, denn offenbar wurden die letzten Reserven im April 1945 verkauft. Zum Feiern war den Erwachsenen unmittelbar nach Kriegsende sowieso nicht zumute, denn in der desolaten Lage und bei dem völlig ungewissen Schicksal der Männer bestand dafür kein Grund. Somit konnten wir den Wein, bevor ihn Tschechen beschlagnahmten, gut entbehren. Für fünf Flaschen Wein erhielten wir von dem freundlichen russischen oder ukrainischen Soldaten ca. fünfzehn Kilogramm frisches Schweinefleisch und fragten natürlich nicht, woher er es hatte. Mutter weckte das meiste davon ein. Bis zum Jahresende hatten wir drei genügend Fleisch, sodass ein eigentlicher Hunger gar nicht erst aufkam und sich das Tauschgeschäft für unsere kriegsbedingt entstandene Kleinfamilie als wahre Glücksquelle entpuppte. Dennoch habe ich mich dafür geschämt, dass die Mutter mit einem Angehörigen der Besatzungsmacht im offenen Wagen durch unser schönes Dorf Rodisfort fuhr, während sie sich nachts – zusammen mit anderen Frauen – im Akazienhain des Stengelbergs vor den gleichen, meist angetrunkenen Besatzern versteckte, um einer drohenden Vergewaltigung zu entgehen.
Ich konnte es damals einfach nicht fassen, dass fremde Mächte den Krieg gewonnen hatten, obwohl unsere Soldaten so tapfer gewesen waren und in meinen Kindesaugen die Wehrmacht die besten Waffen der Welt besessen hatte. Dass wir ein Jahr später über den Krieg hinaus auch unsere schöne Heimat verlieren würden, konnten wir zu dieser Zeit noch nicht ahnen. Und von den Potsdamer Beschlüssen erfuhren wir so gut wie nichts, da wir unsere Radios abgeben mussten.
Die meisten Tschechen waren sicher damals nicht daran interessiert, dass wir Sudetendeutschen von der Art und Weise unserer geplanten Vertreibung erfahren, die als „humane“ und nicht als „wilde“ Vertreibung erfolgen sollte –, eine Vertreibung, die durch nichts zu begründen ist, nachdem unsere Landsleute mehr als siebenhundert Jahre in Böhmen und Mähren in friedlicher Eintracht mit den Tschechen gelebt und durch fleißige Arbeit den Reichtum des Landes gemehrt hatten.
Unsere „Aussiedlung“
Im August oder September 1945 hatten sudetendeutsche Antifaschisten bei den tschechischen Behörden und dem aus Roßbach im Sudetenland stammenden und aus dem Exil in der Sowjetunion zurückgekehrten Freund meines Vaters Rudolf Dölling (* 1902, † 1975) erwirkt, dass sudetendeutsche Kommunisten keine weiße Armbinde mehr zu tragen brauchten, bessere Lebensmittelkarten (sogenannte Tschechkarten) erhielten und auch ihre Kinder in eine tschechische Schule schicken durften. Gleiche Bedingungen erreichten auch die Sozialdemokraten.
Statt der Armbinde trug ich jetzt am linken Revers meiner Jacke ein rotes Nummernschild mit einer vierstelligen Zahl in Weiß. In Ermangelung tschechischer Sprachkenntnisse hatten wir jedoch zu den neuen Machthabern keinerlei Kontakt. Aus dem ehemaligen „Protektorat Böhmen und Mähren“, wie die restliche Tschechei nach dem 15.3.1939 offiziell geheißen hatte, waren gleich nach Kriegsende zwei nach dort geflüchtete Geschwister meines Vaters mit ihren Angehörigen nach Rodisfort zurückgekehrt, darunter mein Onkel Wenzel Schneider, der früher einmal Ortsvorsteher in Rodisfort gewesen war, und Tante Milly, die vor dem Krieg den Onkel Franz Lebr, einen tschechischen Gerichts- oder Justizangestellten aus Karlsbad, geheiratet hatte. 1938 hatten ihn die Nationalsozialisten einige Monate in Zwickau inhaftiert, ohne dass ich bis heute die wahren Gründe kenne. Da wir jetzt im gleichen Haus wohnten, hatten wir nach dem Krieg sicher einen gewissen Schutz vor etwaigen tschechischen Zugriffen. Sie kümmerten sich in aufopferungsvoller Weise um meine hochbetagten Großeltern und konnten immerhin verhindern, dass sie im hohen Alter unsere schöne Heimat noch verlassen mussten und aus Rodisfort vertrieben wurden.
Mutter fand Arbeit in der ehemaligen Zwirnfabrik Willy Melzer in Wickwitz, die jetzt dem tschechischen Staat gehörte. Da wir unser Fahrrad gleich nach Kriegsende abgeben mussten, legte sie täglich den weiten Weg zu Fuß zurück. Das von ihr verdiente Geld reichte zum Lebensunterhalt gerade aus, sodass wir eine eigentliche Not in dieser Zeit nicht erlebten.
Ich besuchte die sechste Klasse der tschechischen Schule, die nur einen einzigen Lehrer, Pan Koloros, hatte, der sich als ein wahrhaft guter Mensch erwies und redlich bemühte, uns wenigen deutschen Schülern die tschechische Sprache beizubringen, ohne dass er auch nur ein einziges deutsches Wort mit uns sprach oder sprechen durfte. Die Vermittlung der uns völlig fremden Sprache war ihm relativ gut gelungen. Er lehrte uns mindestens zwei Dutzend melodisch schön klingende tschechische Volkslieder, von denen ich einige noch heute in der Originalsprache beherrsche, ohne sie allerdings zu verstehen. Im Sommer 1946 beherrschten wir den Stoff der sechsten Klasse. Ein Zeugnis erhielten wir jedoch nicht. Zu den tschechischen Mitschülern, die in immer größerer Zahl in die ehemalige Rodisforter Dorfschule aufgenommen wurden, hatten wir hingegen keinerlei persönlichen Kontakt.
Irgendwann – vermutlich im Sommer 1945 – musste die gesamte gehfähige deutsche Bevölkerung in Karlsbad eine Ausstellung besuchen, in der uns anhand schrecklicher Bilder aus den Konzentrationslagern die Gräuel der Nationalsozialisten demonstriert wurden. Wer nicht in diese Ausstellung ging, sollte künftig keine Lebensmittelkarten erhalten. Da wir den Weg zu Fuß bewältigen mussten, denn Deutsche durften zu dieser Zeit einen Bus nicht benutzen, erschienen mir der Hin- und Rückweg von ca. 24 Kilometern über Haid und Dallwitz ziemlich lang.
Im September 1946 erfolgte unsere Aussiedlung, wobei wir als Antifaschisten sogar unsere Möbel mitnehmen durften und zu unserer großen Überraschung den künftigen Wohnsitz zwischen der amerikanischen und sowjetischen Besatzungszone selbst wählen konnten. Da der Vater ein überzeugter Kommunist war, bevorzugten wir selbstverständlich die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands, was aber zur langfristigen Trennung von unseren in Bayern lebenden Verwandten führte und aus heutiger Sicht sicher eine falsche Entscheidung gewesen war, denn die meisten Verwandten haben wir nie mehr gesehen. So landeten wir nach einem sechswöchigen Aufenthalt in einem Flüchtlingslager in der Nähe des Ludwigsluster Bahnhofs schließlich in Dömitz an der Elbe, einer bis auf die beiden Elbbrücken unzerstörten Mecklenburger Kleinstadt. Trotz der den Mecklenburgern allgemein sicher zu Unrecht zugesprochenen Sturheit wurden wir freundlich und ohne Vorurteile aufgenommen und schlugen als Kinder schnell Wurzeln.
In der Festung Dömitz wurde uns in dem Haus, in dem 107 Jahre zuvor der berühmte niederdeutsche Dichter Fritz Reuter (*1810, † 1874) wegen angeblicher Majestätsbeleidigung zunächst zum Tode verurteilt worden war und nach Begnadigung mehrere Jahre Festungshaft verbüßte, ein Zimmer von circa zwölf Quadratmetern mit Ofen zugewiesen, das für die Mutter und uns zwei Kinder mit unseren damals geringen Bedürfnissen zunächst ausreichte. Der größte Teil der Festungsbewohner, darunter drei mit uns eingezogene Familien Eisenkolb, Grund und Kraus/Donner aus Rodisfort, stammte ebenfalls aus dem Sudetenland, und wir fühlten uns in der neuen Umgebung bald wie zu Hause. Ganz allmählich lernten wir Kinder auch etwas Plattdeutsch, denn es gab auch einige echte betagte Mecklenburger, die Hochdeutsch nur unvollkommen verstanden. Und unseren schönen egerländischen Dialekt haben wir Kinder ganz allmählich vergessen, obwohl die Eltern mit uns nicht „nach der Schrift“ sprachen. Schade!
Und dann geschah ein wahres Wunder: Der Erste, der am nächsten Morgen an unsere Wohnungstür klopfte, war unser Rudi. Er war inzwischen ca. fünf Zentimeter größer geworden und als ein stattlicher Mann von 18 Jahren aus einer englischen Dienstgruppeneinheit in Pinneberg in britischer Uniform zu unseren nach Oberbayern ausgesiedelten Verwandten geflohen. Dort hatte er bei einem Großbauern gearbeitet, unsere neue Adresse erfahren und war dann über die grüne Grenze nach Dömitz gelangt, wo er von einigen Russen sogar in militärischer Weise begrüßt worden war. Sie hatten ihn in seiner Uniform für einen Verbündeten gehalten. Wir waren überglücklich.
Leider fehlte noch unser Vater. Über den Suchdienst des Roten Kreuzes hatten wir jedoch erfahren, dass er lebte und sich in französischer Kriegsgefangenschaft im Südwesten Frankreichs in Lot-et-Garonne befand. Die Franzosen und die Briten behandelten ihre deutschen Kriegsgefangenen offenbar im Allgemeinen besser als die anderen Alliierten, so war zu hören. Somit hofften wir, dass wir bald wieder alle vereint sein würden. Doch bis dahin vergingen besonders für meine Mutter noch sehr lange achtzehn Monate, während meine Schwester Gerti (sieben Jahre) ihren Vater nicht mehr kannte und ihn daher auch nicht vermisste. Mir fehlte er schon, denn ich hatte ihn und seine interessanten Geschichten, wie den „Schinderhannes“, in allerbester Erinnerung. Als ein echtes Rodisforter Urgestein konnte er sehr gut mit jungen Menschen umgehen und war auch in seinem späteren Leben stets von Kindern umgeben. Einige meiner späteren Mitschüler mochten ihn sehr, schätzten seine Gegenwart und seine unterhaltsamen Gespräche.
Rudi fand eine Arbeit als Zivilangestellter bei den sowjetischen Truppen in Dömitz und sorgte mit seinen neuen Mecklenburger Freunden dafür, dass wir genügend zu essen hatten. Zeitweise schmuggelte er Alkolat, ein stark alkoholhaltiges Getränk, auf den Schwarzmarkt nach Hamburg und brachte uns von dort gelbes Maisbrot mit, welches krümelig war und leicht zerfiel, aber sehr gut schmeckte. 1947 oder 1948 wurde in Dömitz jedoch der Torwart Klatt als erster illegaler Grenzgänger von den Russen auf der Elbe erschossen, sodass der Schmuggel am Grenzfluss zur englischen Zone sehr gefährlich wurde und allmählich unterblieb.
Die Familie 1945-1949
Im April 1945 kam Vater nach einem erneuten Genesungsurlaub nach abgeklungener Furunkulose am Rücken an die Westfront und wurde in Weiden von den Amerikanern gefangen genommen. In der Nähe von Bad Kreuznach wurde er auf den Rheinwiesen interniert, einem damals berüchtigten Kriegsgefangenenlager, erhielt von den US-Truppen fast nichts zu essen und wog schließlich nur noch 42 kg. Sein übliches Gewicht hatte 75 kg betragen. Viele seiner Kameraden waren an Typhus, Ruhr und extremer Unterernährung erkrankt und starben. Zum Glück wurde er bald von den Franzosen übernommen, kam zu einem südfranzösischen Weinbauern und erholte sich prächtig. Offenbar war er dort sehr beliebt, denn im Jahre 1948, kurz nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft, bekamen wir Formulare für eine Einreise und Umsiedlung nach Frankreich übersandt. Sein Patron schätzte ihn sehr und wollte unsere ganze Familie nach Frankreich holen, sodass wir dem Hunger in der Sowjetischen Besatzungszone hätten entkommen können. Wir wollten aber nicht in ein fremdes Land, denn die erst kurz zurückliegende Fremdherrschaft in der Nachkriegs-Tschechoslowakei hatten wir nicht in allerbester Erinnerung behalten und uns in Dömitz schon ganz gut eingelebt.
Mutter war im Krieg fast regelmäßig in die Rodisforter Kirche gegangen und hatte ihren auch in Dömitz fortgesetzten Kirchgang erst beendet, als Vater im April 1948 aus Frankreich nach Dömitz entlassen worden war. Dort trat er sofort der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) bei, der die Mutter bereits seit Ende 1946 angehört hatte, und glaubte an eine sehr gute Zukunft aller arbeitenden Menschen in der Sowjetischen Besatzungszone, aus der am 7. Oktober 1949 nach vorheriger Gründung der Bundesrepublik der zweite deutsche Nachkriegsstaat, die DDR, entstand, in der es künftig keinerlei Ausbeutung durch Kapitalisten und Großgrundbesitzer mehr geben sollte. Er hoffte, dass dieser neue Staat als sinnvolle deutsche Nachkriegsalternative eine positive Ausstrahlung auch auf die Werktätigen in der Bundesrepublik haben würde und sich die dortigen Arbeiter aufgrund der Vorbildwirkung der neuen Republik eines Tages ebenfalls für einen ähnlichen Weg frei entscheiden würden, sodass in Zukunft ein neues, blühendes und besseres Gesamtdeutschland entstehen könnte.
Es herrschte nach dem verlorenen Krieg auch im Osten eine allgemeine Aufbruchstimmung. Schließlich glaubten wir wie viele andere auch an eine, wenn auch zunächst imaginäre, bessere Zukunft, für die es sich zu lernen und arbeiten lohnte. Vater vermutete, dass er viele seiner Ideale in dem neuen Staat verwirklichen könnte. Er freute sich darüber, dass mein Bruder Rudi an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät Rostock, die damals noch „Vorstudienanstalt“ hieß, das Abitur erwarb und sich auf ein Studium an einer Hochschule oder Universität vorbereiten konnte, ein unentgeltliches, nicht rückzahlungspflichtiges monatliches Stipendium erhielt und gute Leistungen erzielte. Auch ich konnte in Dömitz ab 1949 die örtliche Oberschule besuchen und bekam als Arbeiterkind sogar eine finanzielle monatliche Beihilfe in Höhe von 35 bis 45 Mark, die ich durch Einnahmen beim wöchentlich zweimaligen Aufstellen von Kegeln der Kegelbahn des Köhn´schen Gesellschaftshauses regelmäßig aufstockte und selbstverständlich in voller Höhe zu Hause abgab. Meine Schwester Gerti musste sich an Vater, an den sie sich überhaupt nicht erinnern konnte, erst wieder gewöhnen. Auch sie wies in der Grundschule gute Leistungen auf, durfte aber nach Vaters Rückkehr am katholischen Religionsunterricht nicht mehr teilnehmen. Religion war für ihn, wie es vermutlich Karl Marx einst formuliert hatte, nichts anderes als „Opium für das Volk“. An ein Weiterleben nach dem Tode glaubte er nicht. Wenn es einen echten, guten Gott gäbe, wie hätte er dann die Schrecken und unsagbaren Verbrechen des letzten Krieges zulassen können?
Ich las in der Oberschule ein Buch des sowjetischen Wissenschaftlers A. I. Oparin über „Die Entstehung des Lebens auf der Erde“ und hatte zu dieser Zeit ernsthafte Zweifel an der Schöpfungsgeschichte des Menschen aus dem 1. Buch Mose des Alten Testaments. Dennoch konnte ich mich trotz einiger Bedenken niemals entschließen, aus der katholischen Kirche auszutreten. Vater war mir gegenüber tolerant und verlangte auch niemals einen entsprechenden Schritt.
Bald erkannte er, dass es auch in dem neuen Staat Ungerechtigkeiten gab und sich nicht alles so entwickelte, wie er es ursprünglich gerne gewollt hatte. Doch im Vergleich mit der BRD schnitt die DDR nach seiner Ansicht deutlich besser ab, wenn wir auch im Osten durch hohe Reparationsleistungen an die Sowjetunion gegenüber dem Westen Deutschlands ökonomisch arg benachteiligt waren, sodass viele Menschen den neuen Staat bald in Richtung Westen verließen. Er sah ein, dass wir als ein deutscher Teilstaat zu einer Wiedergutmachung besonders gegen Polen und die Sowjetunion verpflichtet waren, hatte er doch die schweren Schäden, welche die Wehrmacht besonders der polnischen und russischen Bevölkerung zugefügt hatte, im Krieg selbst erlebt.
Mir missfiel sehr, dass aus Dömitz und Umgebung zahlreiche völlig unbescholtene Familien im Rahmen der Aktion „Ungeziefer“1 aus dem Sperrgebiet der Zonengrenze nach Zentralmecklenburg ausgewiesen wurden, wie die Familie meines Freundes Peter Nimptsch. Ich meinte, dass man so nicht mit der eigenen Bevölkerung umspringen kann, und entwickelte meine ersten Bedenken, die sich später bis zu einem ausgeprägten Misstrauen gegenüber den neuen SED-Machthabern steigerten, die jegliche Kritik brutal unterdrückten und stets nach dem Prinzip handelten: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ Damit waren auch für mich bestimmte Schwierigkeiten in meinem künftigen Leben vorauszusehen.
1 Die Aktion „Ungeziefer“ war die erste Zwangsaussiedlung von Personen, die im fünf Kilometer breiten Sperrgebiet an der Westgrenze der DDR lebten. Aus Dömitz wurden Anfang Juni 1952 offenbar 37 „unsichere Elemente“ in den Kreis Güstrow deportiert. In der gesamten DDR wurden lt. Bennewitz und Potratz (Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze) 8.369 Personen gegen ihren Willen in das Innere der Republik umgesiedelt.
Schulzeit in Dömitz
1946 wurde ich in die Dömitzer Einheitsschule aufgenommen. Meine Mutter konnte nicht erreichen, dass ich in die siebente Klasse kam, denn die tschechische Schule in Radošov, wie Rodisfort nach dem Kriegsende hieß, hatte den wenigen deutschen Schülern mit antifaschistischer Herkunft keine Zeugnisse ausgestellt. Somit konnte ich keinen gültigen Beleg für den Besuch der sechsten Klasse vorweisen.
Vom Inhalt her war der Unterricht in der Nachkriegstschechei keinesfalls schlechter als in Dömitz. Da die Dömitzer Lehrer den Unterricht in einer fremden Sprache dem Deutschen als nicht gleichwertig erachteten, musste ich die sechste Klasse – jetzt in der Roggenfelder Straße – ein zweites Mal besuchen, nun in meiner Muttersprache, ohne dass ich zuvor sitzengeblieben war.
Die Mitschüler und die Klassenlehrerin, Frau Griem, nahmen mich freundlich auf, ich fühlte mich sofort wie zu Hause. Der überwiegende Teil der Schüler war ebenfalls aus der Heimat vertrieben worden und stammte entweder aus Pommern, Ost- oder Westpreußen oder auch aus dem Wartheland. Aus dem Sudetenland war ich zunächst allein. Wir hatten jetzt neben Englisch auch Russisch, ein Fach, das damals unter den meisten Schülern nicht sonderlich beliebt war. Arbeiterkinder wurden gegenüber Kindern mit bürgerlicher Herkunft weder bevorzugt noch benachteiligt.
Das Schulklima kann als durchaus harmonisch bezeichnet werden. Meine neuen Freunde wurden neben dem Schlesier Peter Nimptsch die Mecklenburger Orchi Schulz, ein Kaufmannssohn, und Fritz Henning, der ebenfalls eine kleinbürgerliche Herkunft aufwies und sehr belesen war. Mit ihnen hatten wir 1947 eines Nachts mit Ölfarbe das Wort „Hunger“ an die Mauer rechts neben einem Milchgeschäft in der Nähe der Apotheke geschrieben, welches nicht übertüncht wurde und noch lange erkennbar war. Beide Freunde waren fast täglich in meinem Elternhaus zu Gast, in dem allerdings oft die tägliche Diskussion von meinem Vater auf die aktuelle Tagespolitik gelenkt wurde. Auch mit den Mitschülerinnen Miken Stolle, Dödi Götting und Lotti Saß verstand ich mich gut. Wir wirkten nach Unterrichtsschluss in einer vom Dömitzer Werner Timm gegründeten Laienspielgruppe mit und wurden mit dem zeitkritischen Stück „Die Dachluke“ sogar als Kreis- und Landesmeister und schließlich 1949 als Ostzonenmeister anlässlich des III. Parlaments der FDJ in Leipzig ausgezeichnet. Werner Timm setzte es durch, dass wir einmal in Zinnowitz an der Ostsee einen kostenlosen prächtigen Ferienaufenthalt verbringen konnten, wodurch unser Zusammengehörigkeitsgefühl erheblich gestärkt wurde. So war die Grundschule in einer von Enthusiasmus und Harmonie geprägten Zeit 1949 für mich in Dömitz zu Ende gegangen. Im Februar 1949 war ich freiwillig der FDJ beigetreten, die damals noch eine überparteiliche Organisation zu sein schien und Ähnlichkeiten mit dem sowjetischen Komsomol nicht erkennen ließ.
Verlobungsanzug zur Jugendweihe
Die Motive meiner Teilnahme an der Jugendweihe waren weder edel noch hehr – Grund war der Wunsch nach einem Anzug für meinen Bruder, der sich verloben wollte. Außer zwei englischen Uniformen aus der Zeit seiner Kriegsgefangenschaft besaß er keinerlei dafür brauchbare Oberbekleidung.
Zur Konfirmation erhielt damals jeder Teilnehmer in Dömitz einen Bezugsschein für einen Anzug. Für mich als katholisches Flüchtlingskind kam so eine Unterstützung nicht infrage, da für das gleiche Alter eine analoge katholische Feier nicht anstand und meine Mutter trotz intensiver Bemühungen keinen entsprechenden Bezugsschein für mich erhalten konnte.
Folglich beschloss der Familienrat, dass ich mich an der im März stattfindenden Jugendweihe mit kurzer Hose zu beteiligen hätte, damit die Stadtoberen an meiner frostigen Reaktion erkennen sollten, dass ich ebenfalls dringend einen Anzug benötigte. Die Rechnung ging auf, denn meine Mutter erhielt nach meiner Teilnahme prompt die Berechtigung für den Bezug eines Anzuges. Mein Bruder konnte sich einen neuen Zellwollanzug kaufen und ich hatte meine Schuldigkeit getan. Als Gegenleistung erhielt ich seine beiden warmen britischen Militäruniformen aus reiner englischer Wolle, die mir bis in die neunte Klasse wertvolle Dienste leisteten. Damit hatte sich die Jugendweihe für unsere Familie als wertvolle Bereicherung erwiesen.
Wie verlief die Jugendweihe 1948? Wir waren fünf männliche Teilnehmer unter vermutlich 130 Gleichaltrigen aus Dömitz und der näheren Umgebung. Eine Vorbereitung auf diese Feierstunde gab es nicht. Die anderen Beteiligten aus den nahe gelegenen Dörfern waren mir unbekannt. In der Schule wurde über das Ereignis nicht gesprochen. Es gab einen kleinen Dömitzer Chor und einen Festredner, der eine gute und völlig unpolitische atheistische Rede hielt, in der die künftige und offenbar bald erwartete Einheit Deutschlands viel Raum erhielt, das Wort „Sozialismus“ aber nicht vorkam. Die Organisation lag in den Händen der Ortsgruppe der Dömitzer SED, die vom Genossen Konrad Meier geleitet wurde. Jeder Teilnehmer erhielt ein Buch und einen Spruch, der für das künftige Leben von Bedeutung sein sollte. Mein Buchtitel lautete: „1933-1945. Wie konnte es geschehen?“ Auf dem Titelbild befand sich eine mitteleuropäische Landkarte mit Deutschland im Zentrum. Markierungen zeigten es in den Grenzen von 1937.
Der Autor war Max Fechner (1897-1973), ein bekannter sozialdemokratischer Politiker, der als späterer SED-Funktionär von Oktober 1949 bis Juli 1953 der erste Justizminister der DDR war. Er verteidigte nach dem 17. Juni 1953 im „Neuen Deutschland“ das Streikrecht der Arbeiter und wurde als „Feind des Staates und der Partei“ verhaftet und zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Drei Jahre später wurde er rehabilitiert, bekam aber keine vergleichbare Funktion mehr.
Mein Spruch lautete: „Die Zeit braucht Deine Hände, halte Dich nicht fern.“ Dabei handelte es sich um ein Zitat des Berliner Arbeiterdichters Walter Dehmel (1903-1960). Nach der Feier, die ca. 90 Minuten dauerte, war die Festlichkeit zu Ende.