Kitabı oku: ««Dies Kind soll leben»», sayfa 5
Alles geschah am hellichten Tage. Tausende von Litauern waren Augenzeugen. Litauische Geistliche, höhere Beamte, frühere Offiziere versuchten einzuschreiten. Einige Beherzte, die das Schreckliche zu verhindern suchten, büßten mit ihrem Leben. Der Blutrausch führte zu entsetzlichen Exzessen. Jüdische Mädchen wurden von den Henkern in den Busch gezerrt und geschändet, bevor sie getötet wurden. Einer dieser Mörder wurde wahnsinnig, beschrieb hinterher immer wieder, wie sein Opfer still seine Schuhe ausgezogen und nebeneinander gestellt habe, wie unschuldig und lieblich sie gewesen sei – er konnte das Bild nicht ertragen und beging Selbstmord.
Als die ersten Berichte zu uns nach Kaunas drangen, wollte man sie nicht glauben. Ich habe später viele Augenzeugen aus verschiedenen Städten gesprochen. Man hat mir noch viele Einzelheiten genau berichtet. Die Exekutionen hatten eine schauerliche Ähnlichkeit untereinander und endeten überall mit der vollständigen Vernichtung der Juden. Nur in vier Städten, Wilna, Kaunas, Schaulen und Semeliškes47, wurden Ghettos errichtet, nicht etwa um das Leben der Juden zu schonen. Nein, schon damals wurde auch [über] diesen der Stab gebrochen, aber man brauchte Arbeitskräfte, die man vor ihrer Vernichtung noch ausnutzen wollte.
Von unseren Freunden aus dem Ghetto bekamen wir auf Umwegen Briefe – Briefe des Jammers, der Sehnsucht, der Verzweiflung. Von» namenlosem Leid «schrieb Lyda. Sie hatten nichts zu essen, keine Heizung, aber das waren ihre geringsten Sorgen.
Wir schickten Päckchen durch Lydas Bruder, der in einer Brigade in der Stadt arbeitete. Durch diese und andere Brigaden waren wir in ständiger Verbindung mit den Juden im Ghetto und litten mit ihnen die entsetzlichen Verbrechen, deren unschuldige Opfer sie waren. So teuflisch, so unbeschreiblich entsetzlich war diese Folge von Untaten, daß die Sprache sich sträubt, sie festzuhalten. Sie wird vielen unglaubhaft erscheinen, und doch ist es jeden Deutschen Pflicht, sich nicht zu verschließen und die Kraft zu haben, die Schuld auf sich zu nehmen, damit sie gesühnt werde.
Der Verkehr der deutschen Stellen mit dem Ghetto vollzog sich über den von den Juden gewählten Ältestenrat.48Zu Verhandlungen ließ man den Vorsitzenden Dr. Elkes oder einen Stellvertreter in die Stadt kommen. Bei diesen Aussprachen wurden die Vertreter der Juden mit korrekter Höflichkeit behandelt. Bitten, Einwände, Fürsprachen wurden gewissenhaft angehört, und man ließ sich oft herbei, sich von Maßnahmen betreffs des Ghettos etwas abhandeln zu lassen. Sie verhielten sich menschlich zu den unmenschlichen Anordnungen, und gerade in diesem Zynismus enthüllte sich ihre teuflische Gesinnung.
Mitte September wurden circa 5000»Handwerkerausweise«49 ausgegeben, die durch das Komitee verteilt wurden. Sie wurden in erster Linie Spezialisten, Männern und Frauen, aber auch andern arbeitskräftigen Personen, darunter auch einige Ärzte, gegeben, aus denen die Arbeitsbrigaden formiert wurden. Aus den Städten der Provinz waren einzelne den Massenmorden entgangen und hatten sich in das Kaunaer Ghetto geflüchtet. Durch diese wurden die Greueltaten in allen Einzelheiten bekannt, und man erwartete täglich ein gleiches Schicksal. Die Handwerkerausweise wurden als eine gewisse Sicherung angesehen. Die Deutschen ließen durchblicken, daß man die Inhaber und ihre Familien verschonen werde. Jeder bemühte sich deshalb, eine solche Ausweiskarte zu bekommen.
Am 17. September, wenige Tage nach der Verteilung der Handwerkerausweise, wurde früh um sechs Uhr das sogenannte» Kleine Ghetto «von litauischen Partisanen umzingelt und mit Maschinengewehren umstellt. Das Kleine Ghetto war der Teil jenseits der Paneriu-Straße, einer Hauptverbindungsstraße in die Provinz, auf die man im öffentlichen Verkehr nicht verzichten wollte und die man deshalb mit einem Viadukt überbrückt hatte, der die Verbindung zwischen den beiden Ghettos herstellte. Im Kleinen Ghetto wohnten ungefähr 3000 Einwohner. Dort befanden sich das Waisenhaus, das Krankenhaus und andere soziale Institutionen.
Die Partisanen gingen von Haus zu Haus, holten die Leute aus den Betten und befahlen allen, sich auf dem großen Platz zu versammeln. Man ließ vielen nicht einmal Zeit, sich anzukleiden. Nicht einer durfte zurückbleiben; Kranke wurden getragen. Auf dem Platz wurden sie von deutschen Soldaten unter Leitung von Thornbaum in Gruppen eingeteilt, und man begann sie zum IX. Fort, das circa eine halbe Stunde hinter dem Ghetto liegt, zu treiben. Einen Tag vorher hatte sich schon herumgesprochen, daß russische Kriegsgefangene auf dem Fort lange Gruben geschaufelt hatten, deren Bedeutung nach den Ereignissen in der Provinz eindeutig war. Allen war klar, daß sie von diesem Weg nicht zurückkehren würden, und diesmal bemühten sich die Henker nicht, Illusionen zu wecken. Auf dem Platz waren Filmapparate aufgestellt, die unaufhörlich arbeiteten.
Da erschien plötzlich ein Auto auf dem Platz. Es entstieg ihm ein höherer Offizier mit einem Zettel in der Hand. Nach kurzer Verhandlung mit dem Leiter der Aktion, Thornbaum, wandte sich der Offizier an die Versammelten mit den Worten:»Die Aktion ist abgeblasen. Ihr könnt der deutschen Wehrmacht danken, daß sie euch das Leben schenkt. «Das Wort» abgeblasen «ging von Mund zu Mund. Da es ein solches Wort auf jiddisch nicht gibt, verstanden es viele nicht gleich. Aber allen wurde sofort offenbar, daß es eine gewaltige Zauberkraft hatte. Die Gruppen, die sich schon auf dem Wege befanden, wurden zurückgeholt, die Filmtechniker stellten die Kurbeln ab, und alle wurden mit einem Gleichmut, als wenn es sich um einen verregneten Spaziergang handelte, beordert, nach Hause zu gehen.
Jordan versicherte nach diesem Ereignis dem Komitee, daß keine» Aktionen «mehr vorkommen würden, und die Juden waren naiv genug, es ihm zu glauben. Gerade, daß die Aktion» abgeblasen «wurde, nahmen sie für ein Zeichen, daß die deutsche Wehrmacht sich für sie eingesetzt und aus Gründen der Menschlichkeit eine prinzipielle Änderung erwirkt hatte. In Wirklichkeit wird der Grund wahrscheinlich rein praktischer Art gewesen sein: Man brauchte Arbeitskräfte und wollte der jüdischen Sklaven nicht entraten.
Der größte Teil der jüdischen Arbeitenden wurde auf dem Aerodrom beschäftigt, damals etwa 1200 Männer und 500 Frauen. Sie hatten zur Arbeitsstätte einen weiten Weg zurückzulegen. Früh war gegen halb sechs Uhr Appell. Sie mußten oft über eine Stunde in Dunkelheit und Morgenkälte stehen, ehe sich der Zug in Bewegung setzte. Der Weg ging über die Vilijabrücke durch die belebtesten Straßen der Altstadt, an den beiden Marktplätzen vorbei, über die große Njemenbrücke und dann den Berg zum Flugplatz hinauf. Jüdische Polizei, durch eine Armbinde gekennzeichnet, war für die Ordnung verantwortlich. Jede der dunklen Gestalten war auf Brust und Rücken mit einem gelben Stern gezeichnet, die im spätherbstlichen Dämmer aus den Zügen herausleuchteten.
Es war bitter, zu sehen, wie schnell sich die städtische Bevölkerung an das ergreifende Bild gewöhnte und völlig gleichgültig an den Gezeichneten vorüberging. Warum empörten sie sich nicht gegen diese hohnvolle Mißachtung jeder Menschenwürde? Warum duldeten sie nur diese Schande, diese Niedertracht? Im Gegenteil, die Deutschen hatten ganz richtig spekuliert. Auch der erbärmlichste Litauer war ein gehobener Mensch im Vergleich zu den Juden, und die deutsche Verwaltung konnte sich manche Härten gegen die Litauer erlauben, weil sie milde erschienen gegen die Grausamkeiten, die sie den Juden antat.
Und dennoch gab es viele, nicht nur unter der Intelligenz, die ihr Teil dazu beitrugen, den Unglücklichen ihr Los zu erleichtern. Wenn wir am späten Nachmittag an der Njemenbrücke die Heimkehrenden abpaßten, standen dort jedesmal schon einige Frauchen mit Handtaschen und lauerten wie wir, sich ängstlich umsehend, bis die Erwarteten endlich herankamen. Viele von ihnen kannten uns. Sie grüßten unauffällig. Endlich kamen auch unsere Freunde. Vor den jüdischen Posten hatten wir keine Angst, aber unter den deutschen Soldaten, die den Zug flankierten, gab es gefährliche. Die meisten allerdings duldeten diese verbotenen Beziehungen, und fast immer gelang es, schnell unsere Päckchen und Briefchen abzugeben. Zum Miteinandersprechen war niemals Zeit. Erst viel später erfuhren wir Einzelheiten über das Leben auf dem Flugplatz.
Es wurde dort in drei Schichten gearbeitet, Tag und Nacht, ohne Unterbrechung. Zwei deutsche Baufirmen waren die Unternehmer des Flughafenbaus. Die Juden wurden zu allen untergeordneten physischen Arbeiten verwendet. Sie mußten Steine tragen, den Boden planieren, Wäsche waschen, Waggons ausladen. Die Meister der Baufirmen waren harte, herzlose Leute, die die Arbeit zur Sklavenfron herabdrückten. Die Tagesleistung wurde mit 50 Pfennig entlohnt, ein Hohn bei den damals herrschenden Lebensmittelpreisen (Butter und Speck 20 bis 25 Reichsmark pro Kilo). Während der ersten Monate bekamen sie dort nichts zu essen, im Winter wurden Küchen eingerichtet. Die Produkte wurden geliefert.
In so einer Küche arbeitete auch meine Lyda und hatte so wenigstens einige Stunden täglich einen warmen Platz. Edwin war auch auf dem Flugplatz, als Sanitäter. Die» Küche «war ein Schuppen mit einem eisernen Herd. Dort waren etwa dreißig Frauen mit den Vorbereitungen der Mahlzeit beschäftigt. Das Essen wurde in großen Kesseln dreimal täglich für circa je 1500 Personen gekocht. Die Kessel standen außerhalb der Küche im Freien, mit einem Bretterdach überdeckt. Der Lehmboden um Schuppen und Kessel war vom Regen aufgeweicht. Nach Arbeitsschluß mußten alle in Brigaden geordnet den Modder durchwaten, um am Kessel in ihrem mitgebrachten Eßnapf einen Schlag Suppe zu empfangen.
Sie waren erfroren und todmüde, dennoch gab es jedesmal Krawall. Einer wollte zu wenig bekommen haben, andere waren unzufrieden, daß man ihnen nur Brühe, aber kein Fleisch und Kartoffeln eingeschöpft hätte. Die deutschen Posten, die selber müde und mißgestimmt waren, trieben zur Eile, schlugen mit dem Gewehrkolben und hetzten: Schneller, schneller! Manchmal war ihre Rauheit nur äußerlich. Oft riefen sie die Arbeitenden an die Schuppenwand, um beim Essen gegen den Wind geschützt zu sein, [oder] zum Feuer, damit sie sich erwärmten, und hatten tiefes Verständnis dafür, daß man so wenig als irgend möglich arbeitete. Die Meister der Baufirmen dagegen waren hinterher, daß möglichst viel geleistet wurde. Sie schlugen die Säumigen erbarmungslos und zwangen [sie] zu ägyptischer Fron und Knechtschaft.
Auch russische Gefangene arbeiteten auf dem Aerodrom, schweigend und schwach vor Hunger. Gelegentlich mußten Juden, die fast alle Deutsch und Russisch verstehen, Dolmetscher spielen. So arm und elend sie waren, sahen sie in den Russen die noch Bedürftigeren, und manches mitgebrachte Stück Brot ließen sie heimlich in die Hände der Gefangenen gleiten.
Zog die Nachtschicht im trüben Morgendämmer den Berg herunter nach Hause, war die neue Schicht schon da, übernahm die Spaten, Schippen und Körbe und setzte das verhaßte Werk widerwillig und mühsam fort. Wie lange? fragten sie sich täglich. Täglich schwirrten neue Gerüchte. Auf den Forts gräbt man wieder Gruben. Nachts schießen die Posten sinnlos in die Luft, um die Eingeschreckten noch mehr einzuschrecken. Es werden neue Zählungen, Einteilungen gemacht. Verhandlungen mit dem Ältestenrat, über deren Ergebnis die verschiedensten Auslegungen kursieren. Die Soldaten beruhigten die Flugplatzarbeiter: Wenn ihre Arbeit auch schwerer als die der andern sei, so gewähre sie doch auch die größte Sicherheit. Vor drei bis vier Jahren sei der Flughafen nicht beendet, so lange brauche man die Arbeiter.
Es blieb den Ghettobewohnern nicht lange Zeit, sich von der» abgeblasenen «Aktion zu beruhigen. In der Nacht zum 26. September wurden sie durch besonders häufig abgegebene Schüsse auf neue Mordtaten vorbereitet. Morgens von vier Uhr ab wiederholten sich die Szenen des 17. September. Deutsche Polizei, SA-Männer und litauische Partisanen drangen in die Häuser eines Quartals50 des Ghettos ein und jagten die Schlafenden heraus auf einen Platz, wieder mit Kindern, Alten, Kranken. Maschinengewehre mit Bemannung waren auf den Dächern der umliegenden Häuser aufgestellt. Die Inhaber eines Handwerkerausweises wurden mit ihren Familien nach Hause entlassen. Die andern ordnete man in Trupps und führte sie unter schwerer Bewachung aus dem Ghetto heraus nach dem IX. Fort. Die nicht gehen konnten, wurden in Lastautos verladen. Man sagte ihnen, daß sie in ein anderes Ghetto gebracht würden.
Dort [im IX. Fort] vollzog sich dieselbe entsetzliche Prozedur wie an den Juden der Provinzstädte. Etwa 3000 wurden mit Maschinengewehren erschossen und verscharrt.51 Ihre Kleider, die sie vorher ablegen mußten, wurden in Lastautos in die Desinfektionsanstalt gebracht. Die Ghettobewohner, die sich ansehen mußten, wie man ihre Brüder abführte, ohne daß es eine Möglichkeit gab, sich zur Wehr zu setzen, zu fliehen, einander zu helfen, waren in panikartiger Verzweiflung. Jordan, der die Aktion geleitet hatte, versprach ihnen, daß dies die letzte gewesen sei und keine Exekutionen mehr vorkommen würden. Man klammerte sich an seine Worte, ohne ihnen zu trauen.
Am 2. Oktober erschien Jordan mit seiner Karawane wieder beim Komitee. Sie besichtigten die sozialen Einrichtungen, die im Kleinen Ghetto waren, insbesondere das Krankenhaus. Sie ordneten an, neben dem Krankenhaus Gruben zu graben.
In der Nacht zum 4. Oktober wurden wieder besonders viele Schreckschüsse abgegeben, die die Ghettobewohner auf neues Unheil vorbereiteten. Als die Aerodrombrigaden, die im Kleinen Ghetto wohnten, von der Nachtschicht heimkehren wollten, fanden sie den Viadukt, der die beiden Ghettos miteinander verband, gesperrt. Ein Maschinengewehr drohte nach der Richtung zum Kleinen Ghetto, das von allen Seiten von Militär umzingelt wurde. Die Menschen wurden aus den Häusern geholt, versammelt, eingeteilt, die Arbeitskräftigen ausgesucht, alle übrigen zum IX. Fort getrieben. Darunter das gesamte Waisenhaus, circa 150 Kinder, mit allen Lehrern und anderem Personal. Allen war klar, welche Absichten man mit ihnen hatte. Die Kinder schrien und weigerten sich zu gehen. Auch Erwachsene versuchten, auf dem Weg zu ihrer Richtstätte zu entlaufen. Sie wurden mit Kolben und Gummiknüppeln geschlagen. Einige brachen tot zusammen.
Gegen Mittag wurde das Krankenhaus mit Brennstoff begossen und von allen Seiten in Brand gesteckt. Als das Personal versuchte, die Kranken zu retten – man trug sie in Bahren auf den Hof – , wurden sie daran verhindert. Die Flammen griffen schnell um sich. Das ganze Haus verbrannte mit allen Kranken. Zwei Schwestern und ein Arzt (Dr. Davidovich) wurden bei dem Versuch, Kranke zu retten, auf dem Hof erschossen. Alle Insassen der Infektionsabteilung, 45 Kranke, verbrannten bei lebendigem Leibe. Das Kommando führte SA-Sturmbannführer52 Thornbaum. Der Stadtkommissar Cramer erschien zu dem grausigen Schauspiel und sagte, die Verbrennung des Krankenhauses sei eine» hygienische Vorsichtsmaßnahme«, um die Ausbreitung von Lepra zu verhüten. In Wirklichkeit gab es dort keinen Leprakranken. Die Infektionskranken hatten Scharlach, Typhus, Tbc, Diphtherie. Mit dem Krankenhaus verbrannten wertvolle medizinische Apparate, ein X-Strahlenapparat, zehn Elektrokardiographen.
Die Menschen sahen vom Großen Ghetto, was auf der andern Seite der Paneriu-Straße geschah. Sie versuchten, den Zugang über den Viadukt zu erzwingen. Die Posten schlugen sie zurück und drohten, man würde jeden, der sich nicht ruhig verhielt, mit zum IX. Fort bringen. Vom Großen Ghetto konnte man sehen, wie sich der traurige Zug der zum Tode verurteilten ca. 2000 Menschen den Berg heraufbewegte, flankiert von deutschen und litauischen Posten, die sie mit Schlägen vorwärtstrieben. Viele, die vom Flugplatz gekommen waren, wußten ihre Eltern, Frauen und Kinder darunter. Die Henker höhnten über ihre Verzweiflung.
Diejenigen vom Kleinen Ghetto, die man vorläufig aufgespart hatte, um sie noch zur Fronarbeit auszubeuten, mußten nun das Kleine Ghetto verlassen. Sie durften nichts mitnehmen. Die Häuser jenseits der Paneriu-Straße standen leer. Partisanen und deutsche Soldaten plünderten nach Herzenslust. Auch Zivilbevölkerung kroch durch den Drahtzaun und räuberte. Nach zwei Tagen erlaubte man den früheren Bewohnern, sich aus ihren alten Wohnungen zu holen, wieviel ihre Hände tragen konnten. Unter ihnen waren unsere Freunde. Edwin hatte als Sanitäter den Brand des Krankenhauses miterlebt. Lyda schleppte aus der unterdessen ausgeräuberten Wohnung noch einiges mit auf die andere Seite. Sie zogen zu ihrem Bruder.
Als die Juden klagten, man habe ihnen doch versprochen, daß keine Exekutionen mehr vorkommen würden, erwiderte Jordan, diesmal sei es eine» Sondermaßnahme «gewesen, aber das sei nun wirklich die letzte, und die Überlebenden hätten nichts mehr zu fürchten, vorausgesetzt, daß sie sich gut verhielten. Wieder klammerten sich die Unglücklichen, die keine andere Möglichkeit einer Rettung sahen, an dieses verlogene Versprechen.
Die feinen deutschen Herren erfanden bald genug einen neuen Vorwand für ihre teuflischen Verbrechen. In der Nähe des Tores ertönte eines Tages ein Schuß. Es wurde behauptet, daß ein junger Mann ein Attentat auf den Chef der Ghettowache Koslowski beabsichtigt hätte. Das Quartal wurde abgesperrt und etwa 1000 Menschen als des Mordanschlags oder der Beihilfe verdächtig festgenommen und zum IX. Fort abgeführt.53
Die Ghettoleute erwarteten mit jedem neuen Tag den Tod. Der Herbst war gekommen. Es wurde kalt und regnete viel. Am 26. Oktober wurde der Ältestenrat von Jordan zu einer Besprechung aufgesucht. Nach langen Verhandlungen gab der Ältestenrat durch ausgehängte Zettel bekannt, daß sich am 28. Oktober, sechs Uhr früh alle Einwohner ohne Ausnahme auf dem großen Platz einzufinden hätten. Für warme Kleidung und Nahrung für den ganzen Tag sei zu sorgen. Es handele sich, so wurde wieder ausdrücklich versichert, um eine friedliche Maßnahme, und zu Aufregung sei kein Grund vorhanden. Man munkelte, daß man die Arbeitsunfähigen in das» Kleine Ghetto«, das seit dem Krankenhausbrand und der Evakuation leer stand, umsiedeln würde. Sie würden dort geringere Lebensmittelkarten als die Arbeitenden bekommen.
Ein großes Aufgebot von Wachtposten füllte die Straßen, sorgte dafür, daß keiner zu Hause blieb. Ein paar Kranke, die man doch fand, erschossen die Posten an Ort und Stelle. Pünktlich um sechs Uhr waren alle Häuser und Straßen leer. Etwa 28000 Menschen waren auf dem kahlen Gelände versammelt. Die jüdische Ghettopolizei, durch Armbinden kenntlich, sorgte für Ordnung.
Es wurden einzelne Kolonnen gebildet, die sich eine neben der andern, mit der Front nach Nordwesten aufstellen mußten. In der ersten Kolonne standen die Mitglieder des Ältestenrates, jeder mit seiner Familie. In der zweiten die Polizei, dann die Angestellten der Administration und schließlich alle Brigaden, nach ihren Arbeitsplätzen geordnet, alle mit ihren Familien. So warteten sie fröstelnd am trüben, kalten Morgen zwei Stunden, bis gegen acht Uhr die deutsche Kommission anrückte. Jordan, der Beauftragte für jüdische Angelegenheiten der Zivilverwaltung, Thornbaum, Stütz, Rauca, Vertreter der Gestapo, mehrere andere Deutsche, ein litauischer Fliegeroffizier. Sie pflanzten sich vor den Kolonnen auf und ließen eine Kolonne nach der andern langsam vorbeiziehen.
Aus den beiden ersten wurden nur wenige ausgesucht und nach rechts befördert. Die übrigen ließ man nach links gehen. Aber schon aus den nächsten wurden mehr herausgepickt. Anfangs verstand keiner den Sinn dieser Teilung in Schafe und Böcke. Aber allmählich trat das Prinzip klar hervor: nach links kamen die Kräftigen, Arbeitsfähigen, gut Gekleideten, nach rechts die Alten, Kranken, Armen, besonders auch die mit ausgeprägt jüdischer Physiognomie.
Am eifrigsten war Rauca. Er überprüfte jede Kolonne mit scharfem Blick, trennte besonders gern große Familien, ließ sein Kommando unermüdlich erschallen. Zwischendurch biß er in sein Butterbrot, rief seinen Hund, der nach fallengelassenen Frühstücksbroten der Juden schnappte. Diese Arbeit der Teilung versetzte ihn in behagliche Stimmung. Auch den anderen Herren bereitete sie größtes Vergnügen. Die Juden begriffen, daß»rechts «etwas Böses bedeutete. Einige benutzten einen unbeobachteten Augenblick, um schon vor der Prüfung nach den» Linken«überzulaufen. Andere protestierten, wenn man sie nach rechts verurteilen wollte, zeigten ihre Handwerkerausweise oder nahmen die Protektion der jüdischen Polizeibeamten, die einen gewissen Einfluß hatten, in Anspruch.
Gerüchte schwirrten. Die Kommission beruhigte wie immer: man brauche einen Teil für auswärtige Arbeit, Straßenbau. Es klang nicht überzeugend, denn die Ausgewählten taugten offenbar nicht zu schwerer Arbeit. Bei den nach links» Geretteten «umarmten sich Verwandte und Freunde. Man jammerte und weinte, wenn ein Teil der Familie abgetrennt wurde. So verging der ganze Tag. Allmählich bekam auch die Kommission ihre düstere Tätigkeit satt. Zuletzt wurden ganze Kolonnen geschlossen nach der einen oder der andern Seite geschickt.»Ihr werdet mir noch dankbar sein, daß ich euch von diesem Mistzeug befreie«, tröstete Rauca die Linken.
Die Rechten wurden streng bewacht über den Viadukt ins Kleine Ghetto geführt. In der Nacht gelang es trotzdem noch manchen, überzulaufen. Auch die Wache ließ sich bestechen.»Lauft blonde Mädels!«verhalfen deutsche Wachtposten, die erstaunt waren, nicht Stürmertypen54, sondern sehr liebliche Erscheinungen zu treffen, einigen nach der anderen Seite.
Am nächsten Morgen führte man alle aus dem Kleinen Ghetto nach dem IX. Fort. Russische Gefangene hatten einige Zeit vorher Gruben gegraben, die sich vom Herbstregen mit Wasser halb angefüllt hatten. Man entriß den Müttern ihre Kinder und warf sie vor ihren Augen in die Gruben. Die Frauen folgten nach. Man erschoß sie mit Maschinengewehren. Sie fielen über die Kinder. Zuletzt die Männer. Wieder war für Hygiene gesorgt. Bevor die Gruben zugeschüttet wurden, bestreute man die Leichen reichlich mit calcium chloratum.
So wurden an einem Tage 10000 unschuldige Menschen teuflisch niedergemetzelt. Mit ihnen viele andere Gefangene [und] alle Juden, die sich damals im Gefängnis befanden, darunter war auch mein eigenes Kind, meine Marie.55
Die Nachricht von dieser Untat drang bald in die Stadt. Versuche der Geistlichkeit und Intelligenz, bei den deutschen Stellen vorstellig zu werden, scheiterten. Jedem Vermittler legte man» kommunistische «Absichten unter und drohte mit Bestrafung. Durch Soldaten und Partisanen, die beordert waren, bei dem grauenhaften Werk zu helfen, wurden alle Einzelheiten auch im Ghetto bekannt. Das Entsetzen, die Verzweiflung war grenzenlos, und wenn die Mörder ihnen wieder versicherten, daß es nun ganz gewiß die letzte» Aktion «gewesen sei und den Übriggebliebenen nichts geschehen werde, so gab es viele, die sich nicht mehr beruhigen ließen. Damals begannen manche, ihre Flucht aus dem Ghetto vorzubereiten.
Es gab in Kauen56 nicht wenig Menschen, die in tiefer Empörung über die Verbrechen waren. Aber nur wenige waren bereit, einen der Unglücklichen aufzunehmen und zu retten. Die Gestapo hatte es verstanden, die Bevölkerung einzuschüchtern. Ein Dorf mit vorwiegend russischen Bauern, bei denen sich Juden versteckt hielten, wurde niedergebrannt, die Bauern mit Familien teils erschossen, teils zur Zwangsarbeit verschickt. Man verhaftete Leute, die in die Brigaden gingen, hängte ihnen Schilder mit der ehrenvollen Aufschrift» Judenknecht «um und führte sie durch die Straßen. Wenn man einen Juden in der Stadt fand, wurde er zusammen mit dem, der ihn versteckt hielt, erschossen.
Trotz alledem gab es Unerschrockene, die es darauf ankommen ließen. Bei Frau Dr. Kutorga, der Augenärztin, der Mutter von Viktor, lebte eine Jüdin wochenlang in der Küche, bis es mit Hilfe ihres deutschen Mannes und eines Eisenbahnbeamten, der Patient der Ärztin war, gelang, sie mit falschen Papieren nach Berlin zu expedieren, wo sie unerkannt als Deutsche weiterlebte. Frau Dr. Kutorga hielt die Beziehungen zu ihren jüdischen Kollegen ununterbrochen aufrecht. Sie trug fast täglich Lebensmittel, die ihr bäuerliche Patienten vom Lande brachten, in die Brigaden, bewahrte ihnen Wertgegenstände und half ihnen, sie zu verkaufen. Jedes Wort, das sie mit ihren Patienten, mit Bekannten sprach, war Aufklärung, gegen die Verbrecher gerichtet. Reine Menschlichkeit war jede ihrer Taten und [jedes] ihrer Worte.
Das konnte nicht lange unverborgen bleiben. Mißgünstige Hausgenossen verklagten sie. Nachts gab es Haussuchungen, man beorderte sie zu Verhören auf die Polizei. Da sie sehr gut deutsch sprach und sie die Rolle der zu Unrecht Angeschuldigten glaubhaft spielte, ließ man sie wieder frei, nachdem sie schriftlich erklären mußte, daß sie sich künftig von jeder antideutschen Aktivität, vor allem von jeder Beziehung zu den Juden fernhalten würde. Sie unterschrieb und pflegte ihre verbotenen Beziehungen unerschrocken weiter. Wenn ich zu ihr kam, hörten wir zusammen die ausländischen Sender. Damals ging die deutsche Wehrmacht noch im Sturmschritt vorwärts. Aber wir ließen uns den Glauben nicht nehmen, daß es ein Ende haben würde mit diesen Siegen, diesen unermüdlichen Verbrechen an anderen Völkern, der Überheblichkeit, Grausamkeit, Bestialität.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.