Kitabı oku: «Der Sommelier», sayfa 2
Die Therapeutin Alina erzählte ihrer Patientin Michelle nichts von dem Blinden. Das war zu privat. Sie berichtete Michelle aber von ihrer Begeisterung für die Natur dort an der Grenze, von dem guten Essen, von der Freundlichkeit des Hotelpersonals, der einsamen Landschaft und der Melancholie, die einen dort überfallen konnte. Und dabei dachte sie auch an ihre eigene Beziehung …
Ihrem Mann hätte sie gern mehr erzählt. Aber sie spürte nicht sein Interesse an ihren Erlebnissen. Nur bei der Echoortung des Blinden horchte er kurz auf. Später fragte er noch, ob die Dächer dort voller Fotovoltaikanlagen wären oder es mehr Biogasanlagen gäbe. Alina war sich nur sicher: Es gab viel Wind, aber keine Windräder. Und dann philosophierte der Energiefachmann über Vor- und Nachteile der grünen Energie. Und er betonte, dass er am Wochenende sehr gut ohne seine Frau ausgekommen sei.
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Alina bekam in der Praxis Besuch von einem unscheinbaren, kleinen und blassen Menschen. Der hatte sich nicht angemeldet, sondern stand vor der Tür und fragte nach ihrem Namen. Er nannte sich Hauptkommissar Flinker und zeigte seinen Polizeiausweis. Alina bat ihn, nachdem er verneint hatte, dass etwas mit ihrem Mann oder anderen Verwandten passiert sei, sich etwas im Wartezimmer zu gedulden, die Therapiestunde sei gleich zu Ende. Aber sie konnte sich nicht mehr konzentrieren und schickte Michelle vorzeitig hinaus. Die ging noch durchs Wartezimmer auf die Toilette, grüßte den Kommissar und wunderte sich auch über dessen Blässe, über die sie aber erst auf dem Heimweg nachdachte. Alina bat den Polizisten in den Behandlungsraum und wartete gespannt auf seine Ausführungen.
„Frau Winner, wir haben diesen Zettel in der Jackentasche eines Toten gefunden.“
Dabei reichte er ihr einen Notizzettel, der in einer Klarsichtfolie steckte. Darauf stand in etwas kindlicher Schrift Alinas Adresse.
„Ja, das ist meine Adresse. Wer ist denn gestorben?“
„Das ist ja das Problem. Das wissen wir nicht. Also, wir können den Mann nicht identifizieren. Vielleicht ist es ja einer Ihrer Patienten.“ Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Vielleicht könnten Sie ihn identifizieren.“
Alina erschrak. Sie dachte an die Fernsehkrimis, an eine sterile Pathologie mit großen Kühlfächern.
„Ich zeige Ihnen einmal ein Foto“, sagte der Kommissar und legte ihr die Aufnahme eines toten Gesichts vor. Alina wandte sich ab.
„Ich weiß, das schaut nicht gut aus“, gestand ihr der Kommissar zu, „aber Sie sind derzeit unser einziger Anhaltspunkt.“
„Wie kam der denn ums Leben?“, fragte Alina, ohne auf das Bild zu sehen.
„Es war ein Unfall. Ein Verkehrsunfall.“
Nun wagte sie einen zweiten Blick. Der Mann war wohl etwas jünger als sie. Er hatte ein rundes dickliches Gesicht. Seine toten Augen schauten ins Leere. Dem Kopf schien ein Stück zu fehlen, er war auch deformiert, aber kaum blutverschmiert.
„Ich kenne den nicht. Es ist keiner meiner Patienten!“ - und schon wandte sie sich wieder ab. „Vielleicht wollte er zu mir in Therapie“, fügte sie noch an.
„Das habe ich auch schon überlegt. Aber stünde dann nicht vor allem Ihre Telefonnummer auf dem Zettel?“
Das leuchtete ihr ein. „Ich muss mir zuerst einmal etwas zum Trinken holen!“, sagte sie. „Wollen sie auch ein Wasser!“
„Ja gerne“.
Während Alina aus dem Wartezimmer zwei Gläser und eine Flasche Mineralwasser holte, schaute sich der Kommissar ein wenig im Raum um. Sehr wohnlich. Ganz anders als eine Arztpraxis. Alina machte einen guten Eindruck auf ihn. Aber sie musste den Toten doch kennen!
„Also, wenn ich einmal mitspekulieren darf“, redete die zurückkehrende Alina weiter, „der muss meine Adresse von jemand erhalten haben. Denn offenbar wusste er nicht, wo ich wohne!“
„Klar, aber die Adresse könnten ja auch Sie ihm gegeben haben!“
Jetzt schaute Alina verblüfft – was der Kommissar sehr wohl bemerkte. Und er schwächte ab: „Deswegen müssen Sie ihn ja nicht unbedingt gut kennen. Vielleicht hat er Sie bei irgendeiner Gelegenheit einmal angesprochen.“
„Nein, in letzter Zeit habe ich niemand meine Adresse gegeben. Vielleicht irgendwann einmal vor Jahren.“ Aber vielleicht eine kurze Begegnung? Sie dachte nach. Glaubte ihr dieser Flinker womöglich nicht?
„Zeigen Sie mir noch einmal das Foto!“, bat sie ihn.
Dann schaute sie doch etwas länger. „Wie schaut der denn sonst aus? Ich meine figurmäßig.“
„Der ist dick, untersetzt“, erwiderte der Kommissar gespannt.
„Er könnte es wirklich sein!“, flüsterte Alina. Sie war sich nun fast sicher.
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Der dicke Robert war von einem Auto überfahren worden. Mitten in der Stadt. Zeugen hatten ihn schon vor dem Unfall den Straßenrand entlanglaufen sehen, als sie an ihm vorbeifuhren. Er kam ihnen verwirrt vor und sie fragten sich, ob er womöglich in suizidaler Absicht so herumsprang. Einige Schritte ging er auf dem Gehsteig, dann wieder etliche Schritte auf der Straße. Ein Passant hatte ihn angesprochen, aber statt zu antworten, lief Robert erschreckt davon. Ein Autofahrer hatte sogar die Polizei darüber informiert. Als die aber zum Nachschauen kam, lag der Robert schon tot vor einem schwarzen Toyota. Der Fahrer saß schockiert am Straßenrand. Kommissar Flinker fragte sich später, warum der nicht hat ausweichen können, so wie es die anderen Autofahrer auch geschafft hatten. Vielleicht war der Fahrer unaufmerksam gewesen oder Robert hatte sich tatsächlich unvorhersehbar vor das Auto geworfen.
Flinker hatte sich von Alina die Begegnung mit dem dicken Robert auf dem Friedhof in der Oberpfalz erzählen lassen. Sie erwähnte auch den blinden Walter Bellitzka. Der Robert musste durch das Treffen auf dem Friedhof einen handfesten Grund bekommen haben, der Psychotherapeutin nachzureisen, aber welchen? Flinker kannte sich: Solange er nicht Licht in das Dunkel gebracht hatte, konnte er diesen Unfall oder Suizid nicht zu den Akten legen.
Er genehmigte sich eine Dienstreise in die raue Oberpfalz.
Die 100-minütige Autofahrt brachte ihn in der melancholischen Grenzregion zu dem Entschluss, doch eine Nacht in dem annavigierten Hotel zu verbringen. Er ahnte, dass es länger dauern würde. Hier schien nämlich alles entschleunigt. Die Polizeikollegen stammten alle aus der Region. Sie bemühten sich aber, ihr wenig gebrauchtes Hochdeutsch hervorzukramen. Die Hotelangestellten sprachen hochdeutsch. Sie waren darauf getrimmt, auswärtige Gäste zu begrüßen. Das als Spezialität angebotene Zoiglbier schmeckte Flinker, ebenso die vorzügliche Küche des Küchenchefs, der hier eine weitere Stufe seiner Karriereleiter erklomm, bevor er woanders eine wohlhabendere Kundschaft beglückte.
Alle kannten den dicken Robert und den blinden Walter. Die Kollegen wussten viele Geschichten über den seltsamen Dicken. Der sei zwar etwas verrückt, aber im Übrigen völlig harmlos gewesen. Sie zeigten dem Kommissar den Weg zu Roberts Eltern. Über den Verbleib von Walter wussten die Kollegen nichts. Der sei vor 13 Jahren weggezogen. In der Gemeindeverwaltung könnte man ihm vielleicht weiterhelfen. Und der Walter tauche nur selten hier auf. Und ja, die beiden hätten sich sicher gekannt. Hier kenne jeder jeden. Ein paar Jahre Altersunterschied machten da nichts aus.
Nach dem Besuch bei Roberts Eltern, die ein solches Schicksal ihres ungewöhnlichen Sohnes vorausgeahnt hatten, ging Flinker auf den Friedhof. Die Eltern des verstorbenen Robert wussten nicht, warum er sich in der entfernten Stadt aufgehalten hatte, vielleicht barg der gemeinsame Treffpunkt der drei Beteiligten auf dem Friedhof einen Hinweis. Flinker fand das Familiengrab der Bellitzkas. Es waren Walters Eltern, die dort lagen. Sie waren bei einem Unfall am 11.09.2000 verstorben. Was sollte so aufregend daran sein, dass Robert entdeckt hatte, dass Frau Winner ihn beobachtete, während er dem Bellitzka am Grab zuschaute? So aufregend, dass er sich Frau Winners Adresse besorgt und ihr umgehend nachgereist war? War das etwa ein Eifersuchtsdrama? Flinker hatte bei seinen hiesigen Kollegen Andeutungen herausgehört, die auf eine Homosexualität des Opfers hinwiesen. Hatte Robert die Befürchtung, die Psychotherapeutin könnte ihm seinen blinden Liebhaber ausspannen? Vielleicht hing aber alles mit dem Unfall der Bellitzkas zusammen. Er musste sich die Akten des Unfalls besorgen, den Blinden ausfindig machen und ihn befragen.
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Walter war auf halber Strecke umgestiegen, um in seinen Wohnort weiterzureisen. Er arbeitete dort als eine Art freiberuflicher Geschmackstester für Getränke und für verschiedene industriell hergestellte Speisen. Es war nach dem Unfall ein mühsamer Weg gewesen, bis er zu dieser Tätigkeit fand. Es vergingen Monate, ja Jahre, bis er nach mehreren Kopfoperationen körperlich wieder einigermaßen hergestellt war. Und psychisch? Er gab sich immer die Schuld an dem Unfall, zumal die Polizei- und Gutachterberichte ihm diese nahelegten. Er selbst hatte keine Erinnerung an das Geschehene. Er wusste nur noch, wie er mit seinen Eltern ins Auto gestiegen und losgefahren war. Dann war er irgendwann im Krankenhaus aufgewacht. Im Dorf war er bekannt als schneller Fahrer. Das Auto sei rechts von der Fahrbahn abgekommen, er habe nach links gezogen und sei übersteuert über die Straße geschossen. Der Wagen habe sich einen kleinen Abhang hinunter mehrfach überschlagen und sei schließlich in einem Sonnenblumenfeld gelandet.
Walter hatte sich nach mehrwöchigem Koma, Klinikaufenthalten und Rehabilitationskuren nicht mehr ins Dorf getraut. Still und leise hatte er das geregelt oder regeln lassen, was nach dem Tod seiner Eltern dort noch zu regeln war, das Haus verkauft und sich in ein Blindenheim zurückgezogen. Dort war er vor Jahren wieder ausgezogen in seine jetzige behindertengerechte Mietwohnung. Nur einmal im Jahr besuchte er seinen Heimatort und ging auf das Grab seiner Eltern. Anfangs hatte er Angst, man könnte ihn kritisch auf den Unfall ansprechen, aber offenbar schützte ihn seine bemitleidenswerte Blindheit vor verbalen Attacken. Im Verlauf der Jahre gab er sich das Recht, mehr und mehr zum Leben zurückzukehren. Er erwarb sich Fähigkeiten, die ihm das Zurechtkommen erleichterten und wagte sich schließlich sogar ins Berufsleben. Keinen Zugang fand er aber zu einer engeren partnerschaftlichen Beziehung. Hier hinderte ihn schon innerlich seine Behinderung und körperliche Entstellung, die er aber mit Sonnenbrille und verdeckenden Frisuren zu verbergen wusste. Als er Glasaugen bekam und man ihm bestätigte, wie gut er damit aussehe, traute er sich wieder mehr unter die Leute.
Er war immer sehr eitel gewesen. Den Mädchen stieg er schon als 15-Jähriger nach. Ein richtiger Angeber! Wenn er in ruhigen Zeiten nach dem Unfall darüber nachdachte, kam ihm die Vermutung, dass ihm seine sexuellen Erfahrungen mit dem dicken Robert geschadet hatten, dass er kompensatorisch umso mehr hinter den Mädchen her war und seine Attraktivität von denen immer bestätigt sehen wollte.
Seine diesbezüglichen Strategien waren sehr erfolgreich, was sicher auch mit einem von der Natur geschenkten anziehenden Äußeren zu tun hatte. Wenn der Reiz des Äußeren aber nach einigen Wochen verflogen war und die Mädchen bei ihm innere Werte vermissten, wurden die jungen Frauen zu blöden Weibern, die ihn ja gar nicht verdient hatten. Dank seines Schulbesuchs im Gymnasium der Kreisstadt gab es genügend Auswahl, um das Spiel von vorne beginnen zu lassen.
Schulisch lavierte er sich durch zwischen einem bei seinen Anlagen durchaus möglichen Streber und einem Schulversager, der er auch nicht sein wollte. So galt er immer als begabter Schüler, der, statt seine Möglichkeiten zu nutzen, faul, manchmal frech daherkam, aber immer die Lacher auf seiner Seite hatte.
Zum achtzehnten Geburtstag schenkte ihm sein Vater ein Auto, um ihm die umständliche Busfahrt zur Schule zu ersparen. Der Vater tat das auch aus Eigennutz, weil der Sohn den Anspruch hatte, von einem Elternteil abgeholt zu werden, wenn sein Stundenplan nicht den Fahrzeiten des Busses entsprach. Nun, jetzt konnte er selbst fahren. Was er leidenschaftlich gerne tat und was seinen Kredit bei den anderen noch erhöhte, wenn er sie mitnahm auf rasante Fahrten durch die oberpfälzischen Wälder. Nicht geplant war, dass der verzogene Bengel, statt nach dem Abi zu studieren, lieber eine Lehre und Anstellung als Autoverkäufer in Angriff nahm …
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Robert war schon immer einer, der den anderen gerne zusah, sie beobachtete und auf diesem Wege teilnahm an einem Leben, zu dem er selber keinen Zugang fand. Als Kind imitierte er das Verhalten anderer Kinder, ohne dessen Sinn zu verstehen. Und meist fehlte ihm das letzte Quäntchen Intelligenz, das ihn damit erfolgreich gemacht hätte. So war er oft ein Dummerchen, über das man lachte. Seine einfachen Eltern hatten viel Arbeit und vernachlässigten den Sohn. Seine Lernbehinderung taten sie ab mit dem Hinweis, dass auch schon der Vater so gewesen sei und aus dem auch etwas geworden wäre. Überfordert waren sie mit den aggressiven und sexuellen Verhaltensweisen ihres Sohnes. Unschuldige Doktorspiele in der Vorschulzeit bestraften sie mit Schlägen, Quälereien an Fröschen oder Mäusen quittierten sie mit Lachen. Dass der Sohn seine Sexualneugier mit Spannereien befriedigen musste, von denen das Aufbohren von Löchern in Umkleidekabinen des Naturbadeweihers noch das Harmloseste war, bekamen sie nicht mit.
Roberts Beobachtenwollen war gepaart mit dem ständigen Gefühl des Beobachtetwerdens. Das trat natürlich dann besonders in den Vordergrund, wenn er vermeintlich oder tatsächlich Verbotenes im Sinn hatte. Oft fühlte er sich regelrecht verfolgt. Manchmal war er sich sicher, dass die anderen von ihm Dinge wussten, die er verbergen wollte.
Die fremde Frau auf dem Friedhof ist sicher von Walter beauftragt worden, mich zu beobachten. Sie hat dem ja anschließend gleich Bericht erstattet. Wer ist diese Frau? Was weiß die über mich? Hat ihr der Walter auch von den Sex-Sachen erzählt? Sicher weiß die auch von dem Unfall!
Es war für den Hotelangestellten Robert nicht schwierig, sich heimlich die Adresse zu besorgen. Im Hotel hatte er zudem erfahren, dass Alina Winner eine Psychologin war, eine Tiefenpsychologin sogar.
Die kennt sich aus. Hatte der Thorsten damals doch recht gehabt! Irgendwann, so hatte der Thorsten gesagt, wird man mir auf die Schliche kommen. Dass ich schuld am Unfall bin.
Robert hatte Thorsten damals von seinen Gedanken erzählt, die er vor dem Unfall hatte und die nach seiner festen Überzeugung den Unfall herbeigeführt hatten: Er wünsche es dem Walter, dass der einmal mit dem Auto verunglücke. Dem Angeber, der alle Jungs und Mädchen haben kann. Noch am Unfalltag hat er ihm diesen Denkzettel gewünscht. Aber dass die Eltern dabei sterben, nein, das wollte er doch nicht!
Und dann kam der erste Jahrestag des Unfalls. Und am selben Tag stürzten in Amerika die Türme ein! Das ist ein Zeichen! Buße tun, sonst passiert noch mehr! Aufpassen, dass man nicht erwischt wird! Immer der 11.! Die 11 ist meine Schicksalszahl. Nur nicht nachlassen!
Dann musste Robert doch einmal nachgelassen haben: Am 11.03.11 überrollte ein Tsunami die Küsten Japans mit schrecklichen Folgen! Das befeuerte seine psychotischen Qualen. Nur nicht nachlassen!
Robert musste der Psychologin nachfahren. Als er am nächsten Tag vor dem Haus von Frau Winner stand, kam eine junge hübsche Frau aus dem Praxiseingang heraus.
Die kenn ich doch. Das ist doch … Das ist doch Michelle! Und wer ist der Mann, der sich da versteckt und die Michelle beobachtet? Wer ist das? Den kenn ich doch auch. Der Thorsten? Wirklich wahr, der Thorsten! Michelle und Thorsten hängen also auch noch mit drin! Um Himmels Willen, was soll ich nur tun? War denn alles umsonst? Schnell weg hier! 11 Schritte auf dem Gehsteig. 11 Schritte auf der Straße. 11 Schritte auf dem Gehsteig. 11 Schritte auf der Straße. Schnell weg! Nur nicht nachlassen! Schnell weg!
Pläne, die missglücken
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Nach dem Gespräch mit Walter wusste Kommissar Flinker nur wenig mehr. Das, was er im Dorf so über den Blinden gehört hatte, hatte sich bestätigt: Walter war offenbar immer hinter den Frauen hergewesen. Dass er eine homosexuelle Beziehung zu Robert hatte, schien unwahrscheinlich, auch wenn Robert solche Tendenzen nachgesagt wurden – denn schließlich hatte der nie eine Freundin …! Walter erzählte Flinker von den Sonnenblumen, die immer, wenn er dorthin kam, auf dem Grab lagen. Er wusste nicht, ob die nur zum Jahrestag dort lagen oder auch unter dem Jahr dort hingelegt wurden. Von wem sie stammten? Von Robert? Nein, den komischen Kauz habe er nie bemerkt. Warum sollte Robert etwas mit dem Unfall vor 13 Jahren zu tun gehabt haben? Und warum sollte er die Frau Winner verfolgen? Nein, er selbst wisse nicht, wo Frau Winner wohne. Er habe von der auch nichts über Roberts Anwesenheit im Friedhof erfahren. Davon habe die nichts erzählt. Nicht einmal, dass sie auch dort gewesen sei. Frau Winner habe er erst bei der Anreise kennengelernt. Am Wochenende habe er mit ihr eine kurze Wanderung gemacht. Auf der Heimfahrt seien sie noch eine gewisse Strecke miteinander im Zug gesessen. Und er könne sich nicht vorstellen, dass sich Robert und die Frau Winner gekannt haben könnten.
Alle Angaben über den Kontakt zur Psychotherapeutin entsprachen dem, was der Kommissar schon bei ihr erfragt hatte.
Es würde wohl ein Rätsel bleiben, warum der Robert der Therapeutin nachgereist war und hier überfahren wurde.
Dann meldete sich Alina telefonisch bei Flinker.
„Herr Flinker, mir ging die ganze Geschichte immer wieder durch den Kopf. Und da ist mir plötzlich etwas aufgefallen. Ich weiß nicht, ob es einen Zusammenhang gibt, aber …“
„Na, erzählen Sie schon!“, unterbrach Flinker neugierig.
„Ich vergaß, Ihnen zu sagen, warum ich gerade dort in der Oberpfalz war. Ich bekam eine spezielle Empfehlung von einer meiner Patientinnen für das Hotel zur Glashütte.“
„Ach, die kannte das?“
„Nein, noch besser, die hat dort in dem Hotel schon einmal gearbeitet!“
„Ja …, und …, dann könnte sie also den Toten gekannt haben!“, schlussfolgerte Flinker.
„Das weiß ich nicht, die war ja nur für ein paar Monate dort. Aber, und das wollte ich Ihnen sagen, diese Patientin war genau an dem Tag bei mir zur Behandlung, an dem der Verstorbene seinen Unfall hatte.“
„Und da könnte er also auch diese Frau gesehen haben,
meinen Sie?“
„Wäre doch möglich. Und noch etwas muss ich ergänzen. Diese Patientin hat einen Verlobten, der auch in dem Hotel dort schon einmal gearbeitet hat.“
„Das wird ja immer interessanter!“, wurde der Kommissar nun immer neugieriger. „Hat denn der den Toten gekannt?“, wollte er wissen.
„Ja vielleicht. Keine Ahnung. Aber der war viel länger dort beschäftigt! Der könnte den schon gekannt haben.“
„Vielleicht sollten wir, statt zu rätseln, einfach nachfragen“, überlegte Flinker.
„Moment einmal!“, bremste Alina, „da gibt es ein Problem mit meiner Schweigepflicht. Vermutlich hätte ich Ihnen schon das alles nicht sagen dürfen!“
„Dann sollten Sie das mit Ihren Patienten schnell klären. Die werden doch wohl einverstanden sein. Mich interessieren doch nicht deren Krankheiten.“
Später kam dem Kommissar noch der naheliegende Gedanke, dass auch der blinde Bellitzka denen bekannt sein könnte. Er rief noch einmal zurück.
„Frau Winner, wissen Sie, wann die beiden Patienten dort in der Oberpfalz gearbeitet haben?“
„Da kann ich gleich nachschauen. Moment ... Übrigens Patient bei mir ist nur die Frau, nicht der Verlobte ... Hier hab ich`s: Die Frau hat ein Praktikum dort gemacht ... im Jahr 2000. Und der Verlobte hat auch bis Herbst 2000 dort als eine Art Hausmeister gearbeitet. Dann sind beide kurz nacheinander hierher gezogen und haben im Hotel des Vaters meiner Patientin, also im Hotel Polder, bis dato gearbeitet.“
„Frau Winner, das ist eine ganz wichtige Information! Im Jahr 2000 ist nämlich dort etwas Einschneidendes passiert. Vielleicht hängt ja alles irgendwie zusammen! Schauen Sie, dass Sie Ihre Patientin schnell dazu bringen, dass sie sich meinen Fragen stellt. Und sagen Sie ihr gleich, dass ich auch den Verlobten dazu befragen werde. Aber – und das ist sehr wichtig – erzählen Sie denen nur, dass es um ein Ereignis im Zusammenhang mit Hotelgästen geht, also erzählen Sie nichts zum Unfall! Die sollen sich nicht absprechen oder allzu intensiv darauf vorbereiten können.“
„Da werden bei der Hotelierstochter und dem Rezeptionschef natürlich die Signallampen angehen!“, vermutete Alina.
„Naja, beruhigen Sie die. Sagen Sie, dass das nichts mit dem Hotel selber zu tun hat, also nicht imageschädigend ist.“
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Es war nicht das letzte Telefonat, das die Therapeutin und der Kommissar führten. Alina stieß bei ihrer Patientin Michelle auf große Bereitschaft, sich als Psychotherapiepatientin zu outen, sogar im Rahmen einer Gruppenbefragung. Denn das war die neue Idee des Kommissars: Um sich nicht Fotos von jedem besorgen zu müssen und nicht ständig jeden zu fragen, ob er diesen und jenen kennt, wollte Flinker im Stile Agatha Christies alle zusammenholen und in der Gruppe vor den anderen befragen. Der Kommissar lud also in Alinas großen Praxisraum den Unfallfahrer und den blinden Walter ein, Alina sagte ihrer Patientin Michelle Bescheid. Die wiederum sprach ihren Verlobten an, der furchtbar erschrak. Zuerst wollte er sich weigern, an dem Gespräch teilzunehmen, schließlich wurde ihm klar, dass er mit Michelle vorher reden musste.
„Warum um Himmels Willen, hast du mir das nicht erzählt?“, reagierte Michelle verständnislos.
„Das musste ich zuerst mit mir selber ausmachen. Du kennst mich doch!“
„Dann war das also ein Hotelgast. Der arme Kerl!“
„Ich konnte nichts dafür. Der lief einfach ins Auto rein!“
„Aber warum will uns die Polizei dann noch einmal gemeinsam sprechen?“, überlegte Michelle. „Und lädt auch noch andere dazu ein, die den gekannt haben?“
Dem Verlobten wurde immer heißer. „Weißt du, wer da alles dabei ist?“
„Nein, nur dass andere auch da sind.“
„Vielleicht sind es doch nur wir“, sinnierte er, „denn der Kommissar wusste ja nicht, dass der Unfallfahrer gleichzeitig dein Verlobter ist. Sonst hätte ich ja nicht eine extra Vorladung von ihm erhalten.“
„Und du hast den Toten nicht erkannt? Wenn er doch vom Hotel war. Weißt du wenigstens seinen Namen?“
„Nein, ich weiß nicht, wer das war. Ich war natürlich nach dem Unfall total geschockt. Und so lange hingeschaut habe ich auch nicht.“
„Also müssen wir uns überraschen lassen, was der Kommissar von uns will!“
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Walter wurde vom Taxifahrer bis an die Tür geleitetet. Trotz der äußeren Umstände hatten sich Alina und Walter auf das Wiedersehen sehr gefreut. Sie begrüßten sich mit einer herzlichen Umarmung, für den zuschauenden Kommissar ungewöhnlich herzlich. Flinker spürte, dass er solche Herzlichkeit in seinem Leben nicht nur entbehrt, sondern auch vermisst. Für ihn war selbst der Händedruck schon eine intime Geste: Er griff die Rechte des größeren blinden Mannes mit beiden Händen und bot sich sogar an, ihn zu seinem Platz zu geleiten. Kaum angekommen, klingelte es wieder und die beiden anderen kamen. Flinker wunderte sich, dass der Unfallfahrer Thorsten Blank zeitgleich mit der Patientin Michelle Polder eintraf.
„Wo haben Sie Ihren Verlobten gelassen?“, fragte er bei Michelle nach, die zu seinem Erstaunen ihn darüber aufklärte, dass der Unfallfahrer ihr Verlobter wäre. Doch das sollte nicht die größte Überraschung sein.
Im Praxisraum trafen sie auf Walter. Er stand auf, stellte sich vor und erläuterte sofort: „Ich bin blind. Lassen Sie sich bitte nicht von meiner Sonnenbrille irritieren!“
Michelle reagierte sofort. Sie hatte Walter an der Stimme erkannt. Mit ihrer linken Hand verschloss sie ihren Mund. Ihre erschrockenen Augen ließ sie über Walters Gesicht gleiten. Unter seinen herabgekämmten Haaren erkannte sie seine Delle in der Stirn. Sie brachte kein Wort heraus.
Ihr Verlobter erbleichte. Er stammelte: „Sie sind …, du bist … der Walter?“
Walter, der am Klang der wenigen Worte sofort sein Gegenüber erkannte, zuerst nur emotional, irgendwie als Bedrohung und mit Abneigung, dann aber auch kognitiv mit vielfältigen Erinnerungen und einem klaren Bild vor dem inneren Auge, fiel in seinen Sessel zurück. „Der Thorsten …“, stammelte er.
Alina und Flinker waren baff. Dass die sich kannten, gut, aber die Emotionalität ihrer Wiederbegegnung war überdeutlich spürbar.
Michelle musste sich setzen. Sie begann zu weinen. Wie im Zeitraffer wurde sie konfrontiert mit den Erinnerungen an ihre erste große Liebe, der traurigen Trennung und nun der Erscheinung eines entstellten Mannes.
Walter wandte sich irritiert in Richtung der Weinenden.
Alina fasste sich und half ihm: „Walter, da ist noch Michelle.“
„Michelle?“ Es war nur ein kurzes Nachdenken, dann wusste Walter, wer das sein musste. Die junge hübsche Praktikantin im Hotel, in die er sich, wie in so viele, verschaut hatte, die dann verschwunden war und der er nach dem Unfall nicht mehr nachtrauern durfte. „Thorsten. Michelle. Wie kommt ihr denn hierher?“
Michelle konnte nichts sagen. Nun sprang Flinker ein.
„Ich denke, wir sollten uns alle hinsetzen und durchschnaufen.“
Nun nahmen auch Thorsten, Alina und der Kommissar Platz.
„Ich will gerne versuchen, das alles einmal zu ordnen!“, sprach Flinker weiter. „Es geht um den Unfall vor einigen Tagen, bei dem Thorsten Blank …“ und dabei wandte er sich in dessen Richtung „… einen Mann überfahren hat …“
„Was, du hast den Robert überfahren!“, warf Walter dazwischen.
„Wie, welchen Robert?“, fragte nun Michelle, die sich wieder gefangen hatte.
„Den dicken Robert. Vielleicht erinnerst du dich an den. Der ist doch auch dir damals nachgestiegen, oder?“, erläuterte Walter.
„Also kein Hotelgast bei uns?“, wunderte sich Michelle, die sich immer noch nicht auskannte.
„Nein, damals in der Oberpfalz. Alle nannten ihn den dicken Robert. Weißt du denn nicht mehr …“
Nun schien Michelle sich dunkel zu erinnern. „Und der ist dir vors Auto gelaufen?“; fragte sie in Richtung ihres Verlobten Thorsten.
„Ich habe den nicht erkannt!“, antwortete der.
„Also, darf ich jetzt weiter erzählen?“, mischte sich nun wieder der Kommissar ein. „Dieser Robert wurde also hier ganz in der Nähe überfahren und wir wissen nicht, was ihn hier in unsere Stadt geführt hat. Er hatte die Adresse von Frau Winner bei sich und ist der nachgereist. Frau Winner und er hatten sich auf dem Friedhof dort an der tschechischen Grenze gesehen, als zeitgleich der Herr Bellitzka…“ und dabei schaute er Walter an „… dort am Grab seiner Eltern war. Warum der Robert Frau Winner nachgereist ist, wissen wir nicht.“ Flinker schaute sich um. Vielleicht ließ sich aus den Gesichtern etwas ablesen. Oder vielleicht wollte jemand Stellung nehmen.
„Aber …“, wagte sich Alina nun vor, „… das ist doch ein unglaublicher Zufall, dass er hier von jemand überfahren wird, der ihn von früher gekannt hat!“
„Und seltsam ist auch …“, führte Flinker fort, bevor Thorsten empört reagieren konnte, „… dass dieser Unfall womöglich in Verbindung steht zu dem Unfall vor 13 Jahren, bei dem der Herr Bellitzka mit seinen Eltern verunglückt ist.“
„Was? Du hattest einen Unfall?“, unterbrach die erstaunte Michelle. „Ach deshalb …“, spielte Michelle auf die Behinderung an. Es war ihr da noch nicht bewusst, dass Walter deshalb sich auch nicht mehr bei ihr gemeldet haben könnte.
Im weiteren Gesprächsverlauf wurde zwar noch vermutet, Robert könnte vor seinem Tod auch Michelle gesehen haben, was aber nicht zur Erhellung des Geschehens beitrug. In Michelle entstand aber ein großes Misstrauen gegenüber ihrem Verlobten. Es war aber nicht annähernd so groß, wie das Misstrauen bei Alina und dem Kommissar …
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Dass der Kommissar angekündigt hatte, in Einzelvernehmungen die Beziehungen zwischen den beteiligten Personen genauer recherchieren zu wollen, beunruhigte Thorsten sehr. Es war sichtbar geworden, dass zwischen Walter und ihm ein belastetes Verhältnis bestand. Thorsten wollte mit Walter sprechen.
Nachdem Rezeptionsleiter Thorsten Blank den Meldezettel Walter Bellitzkas ausgefüllt hatte, gab er Walter eine Einweisung in sein Zimmer. Walter hatte auf eine Unterbringung im Erdgeschoss bestanden, weil er Treppen und Liftfahrten mit Hilfestellung vermeiden wollte. Alina hatte sich hinzugesellt, so dass Thorsten bald wieder abzog. Die Juniorchefin Michelle blieb im Hintergrund. Sie war sich ihrer Gefühle noch so unsicher, dass sie dem Kontakt zu den beiden Männern aus dem Weg gehen wollte.
Alina war besorgt. „Glauben Sie, dass es gut ist, hier zu übernachten?“
Walter nickte bedenklich. „Mir ist auch nicht ganz wohl. Aber jetzt einen Rückzieher machen …“
„Nun, zumindest ist das eine komplizierte Situation: Übernachten im Hotel der ehemaligen Geliebten, die mit einem Ihnen nicht gerade wohlgesonnenen früheren Bekannten verlobt ist, der hier das Regiment führt.“
„Ach, die Liebesgeschichten sind doch Schnee von gestern. Beunruhigt hat mich, dass Thorsten den Robert überfahren hat und die komische Bemerkung des Kommissars, dass mein Unfall mit dem jetzigen Geschehen zusammenhängen könnte.“
„Das kann doch nur heißen…“, überlegte Alina, „dass der Robert und der Thorsten etwas mit Ihrem Unfall zu tun gehabt haben. Gibt es dafür denn irgendwelche Anhaltspunkte?“
„Also, dass dort am Grab Sonnenblumen lagen, hatte mich schon immer irritiert. Wer auch immer die hinlegt, tut es wegen des Unfalls. Die Anspielung auf das Sonnenblumenfeld, in das ich hineingerast bin, ist ja offensichtlich. Bisher dachte ich, da will mir jemand jedes Jahr ein furchtbar schlechtes Gewissen machen. Aber natürlich könnte auch der, der sie hinlegt, ein schlechtes Gewissen haben.“
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