Kitabı oku: «Das Alphabet der Kindheit»
HELGE-ULRIKE HYAMS
Das Alphabet der Kindheit
Von A wie Atmen
bis Z wie Zaubern
»Es ist deine Zukunft, an die du dich erinnerst.«
Anne Michaels
Vorwort
Einleitung
A
ABC-Lernen
Adoption
Anders sein
Angst
Archetyp Kind
Atem
Autismus
B
Baum
Bindung
Blind
Brot
C
Clique
D
Däumling
Disziplin
E
Eifersucht
Einsamkeit
Eis
Ekel
Eltern
Ende der Kindheit
Engel
Erstes Mal
Essen
F
Familie
Farben
Ferien
Film
Fliegen
Fragen
Freunde
G
Gang
Garten
Geburt
Gedichte
Geheimnis
Geruch
Geschwister
Gesicht
Glück
Großeltern
H
Haare
Hände
Haus
Heimweh
Honig
Hören
I
Ich
Initiation
Insel
J
Ja und Nein
Jugend
K
Karussell
Kindermord
Kinderwunsch
Kindheitserinnerungen
Kindheitsgeschichte
Kleidung
Körper
Krankheit
Kunst
Kuscheltier
L
Lachen
Lamm
Langeweile
Lehrer
Liebe
Lob
Luftballon
Lügen
M
Magisches Denken
Märchen
Milch
Murmeln
Musik
Mutter
N
Namen
Nest
Neue Medien
O
Opfer
Osterei
P
Pippi Langstrumpf
Puppe
Q
Quälen
R
Raum
Rechts und links
Rituale
S
Sammeln
Sauberkeit
Scham
Scheidung
Schießgewehr
Schlafen und Wachen
Schmetterling
Schnee
Schokolade
Schulschwänzen
Schulweg
Sehnsucht
Selbstmord
Sexualität
Spielzeug
Sprache
Stehlen
Stille
Strafen
Struwwelpeter
T
Tanzen und sich drehen
Teddybär
Tiere
Tod
Träume
U
Ungeborene Kinder
Urvertrauen
V
Vater
Verbotenes
Vögel
W
Wachsen
Wiederfinden
Wiederholung
Wille
Wolfskinder
Wunderkind
Wünschen
Würde
X
Xenophobie
Y
Youngster
Z
Zahl
Zärtlichkeit
Zaubern
Zeit
Zwillinge
Anmerkungen
Zitatnachweise
Für Yannis Behrakis
VORWORT
»Wie kamen unsere Kinder zustand? Wie wurden sie groß?«
Giorgos Seferis
Die Struktur des Alphabets – sie steht unerschütterlich fest. Jeder Buchstabe nimmt seinen angestammten Platz ein und folgt dem vorhergehenden. Die Themen dieses Alphabets der Kindheit dagegen wählte ich frei und subjektiv. Ich bin mir sicher, dass jeder von Ihnen eine andere, ebenso eigensinnige, ebenso subjektive Auswahl treffen würde. Jeder von uns trägt sein eigenes Wörterbuch der Kindheit in sich, gespeist von seinen persönlichen Erfahrungen und Neigungen.
Eine Anleitung, wie das Alphabet der Kindheit zu lesen sei, gibt es nicht. Seine 26 Buchstaben, jeder für sich einzigartig in Wesen und Gestalt, sind unsere treuen Begleiter. Sie schaffen das Gerüst und den Rahmen, der uns Orientierung gibt beim Durchwandern der Kindheit.
Es liegt ganz an Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, ob Sie diese abschreiten von A bis Z, so wie Sie es damals als Kind in der Schule gelernt haben, oder ob Sie nach eigenem Begehren zwischen den Buchstaben herumspazieren wie in einem wilden Garten.
Alles ist möglich.
Helge-Ulrike Hyams
EINLEITUNG
»… hinter der Wissenschaft die Dinge erspüren und verehren, auf die es eigentlich ankommt und über die so schwer zu sprechen ist.«
Werner Heisenberg
Im Zentrum des Buches steht das Kind. Es befindet sich in ständigem Wandel: Es wird gezeugt1 und wächst im Mutterleib heran2, es wird geboren und durchwandert alle Phasen des Wachstums. Dabei pendelt es andauernd zwischen Rückbindung und zukunfts-gerichtetem Vorwärtspreschen.
Ich meine, all diese Erscheinungsformen der kindlichen Metamorphose lassen sich nur ungenügend in vorgegebene theoretische Konzepte pressen. Obgleich lange Zeit als wissenschaftliche Pädagogin tätig, entferne ich mich deshalb hier bewusst vom akademischen Diskurs und fühle mich einem fließenden Denken verpflichtet3, einem Denken, das Wissenschaft und Kunst, Alltagsbeobachtungen und philosophische Erkenntnis beweglich verbindet.
»Das Leben des Individuums wiederholt das Leben der Spezies.«4 Dieser knappe Satz des englischen Psychiaters Ronald D. Laing durchzieht die Texte wie ein roter Faden. Das Kind, das da geboren wird, kommt niemals als Tabula rasa zur Welt. Es hat bereits einen weiten Weg hinter sich. In seinem individuellen Werdegang, den es nun antritt, wird es noch einmal die verschiedenen Stufen der Menschwerdung durchlaufen, welche die Gesellschaft als Kollektiv schon durchwandert hat. Es wird zunächst die Phase des Vorsprachlichen durchleben5, es wird – wie seine Spezies – den aufrechten Gang lernen und sich in Sprache und Denken einüben, als sei es der erste Mensch.6 In Wirklichkeit wiederholt es also die Etappen der Menschwerdung am eigenen Leib. Es ist angewiesen auf die Unterstützung der anderen, auf ihr Vorbild, auf ihre Sprache und ihr Mitgefühl, ohne die es nicht wirklich Mensch werden kann.
Dieses Wunder der Wiederholung der Menschheitsgeschichte im einzelnen Kind spielt sich weitgehend unbewusst ab.7 Zu tief gelagert sind die Erinnerungsspuren an jene fernen Zeitdimensionen, in denen die Menschheit sich als solche heranbildete. Nur manchmal, meist in ganz unerwarteten Momenten und gleichsam als Sternstunden der Kindheit, schimmert etwas durch von diesen Reminiszenzen der kollektiven Vergangenheit. Dann nämlich, wenn das Kind in seine Träume versinkt, wenn es mit den Gestalten der Märchen und Mythen verschmilzt und wenn seine ganz eigene Logik von der unseren entrückt zu sein scheint.
Natürlich steht das Alphabet der Kindheit theoretisch nicht im luftleeren Raum. Doch mit welcher wissenschaftlichen Methode auch immer wir die inneren Vorgänge des Kindes betrachten, mit welcher Theorie wir versuchen, sie zu vermessen, zu erklären und zu durchschauen – am Ende ist es der Satz des griechischen Philosophen Heraklit, der für uns gültig bleibt: »Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfindig machen, auch wenn du gehst und jeden Weg abwanderst, so tief ist ihr Logos.«8
Wir alle waren einmal Kinder, und so wird auch die Betrachtung der Kindheit zu einer ganz persönlichen, manchmal auch abenteuerlichen Reise. Sobald wir uns mit Kindheit beschäftigen, tauchen unsere eigenen frühen Erlebnisse auf – unmöglich, dabei neutral zu bleiben. Doch das ist gut so, denn unsere frühen Erinnerungen haben uns zu dem gemacht, was wir heute sind. Allerdings, unabhängig von unserem jetzigen Alter, ist unsere Kindheit sowohl vom Erinnern als auch vom Vergessen geprägt. Über allem Geschehen von damals schwebt ein heilsamer Schleier der frühkindlichen Amnesie (Freud). Es ist also nie die ganze Wahrheit, die wir rückblickend sehen, sondern es sind einzelne Facetten, die wir real zu erkennen glauben, mehrfach gefiltert und umgedichtet im Zuge unserer Biografie.
Sie als Leser kennen sicher alle die Frage: »Habe ich dieses Ereignis wirklich so erlebt oder war es nur die Erzählung der anderen, die es mir heute so real erscheinen lässt?« Häufig lassen sich die einzelnen Fäden, aus denen Kindheit gewebt ist, nur schwer auseinandertrennen. Und oft flüchten wir deshalb in vereinfachende Zuweisungen: in Gut und Böse. Alte Wunden werden verklebt und manchmal wird Glück heraufbeschworen, wo doch keines war. Und umgekehrt: Manchmal wird ein kleines Unglück herausgegriffen und pauschalisiert, so dass die Kindheit von damals nur dunkel und traurig erscheint: »Das sind Jahre, die unglücklich scheinen, aber die glückliche Seite ist darin verflochten, ohne dass ich mir ganz darüber im Klaren bin«, schreibt der französische Regisseur François Truffaut.9
In Wahrheit ist Kindheit niemals ganz gut und nur selten ganz schlecht. Die eigentliche Existenz der Kinder spielt sich in Zwischentönen ab. Sie machen die Musik. Sie durchdringen die Widersprüche des kindlichen Lebens, wie des Lebens generell. Ja, ich kann Mama und Papa lieben und zugleich auch hassen. Ich kann die Schule mögen und trotzdem lieber schwänzen. Und ja, ich möchte wachsen – aber gleichzeitig doch auch ganz klein bleiben. Das ist Kinderleben und das ist der Stoff, aus dem Kindheit gestrickt ist: aus Zwischentönen und Widersprüchen. Das macht ihren Zauber aus und das ist der Inhalt des Alphabets der Kindheit.
A
»Ich bin das Alpha und das Omega,
der Erste und der Letzte,
der Anfang und das Ende.«
Offenbarung 22,13
ABC-Lernen
»Und ich bin froh, dass der alte Mann schläft, dass er nicht gesehen hat, wie rot ich geworden bin. Mir scheint, dass er nicht von dem heißen Tee eingeschlafen ist, sondern vor Kummer, dass wir so schlecht lernen. Er ist ein so stiller Mann, er möchte uns so gern das Alphabet lehren, uns so weit bringen, dass wir wenigstens eine Seite in der Bibel lesen können, wie er immer sagt.«
Bella Chagall
Viele Erwachsene, und vor allem die älteren unter ihnen, besinnen sich der Tränen, die sie beim Erlernen des ABC vergossen haben. Wie kann es sein, dass Schullehrer die Kinder damals zum Schönschreiben zwangen, jene aber später keine Spur von Schönheit erinnern? Sie erleben die fremden Buchstaben nicht selten wie feindselige Soldaten, gerade und stramm, keine Abweichung nach rechts oder links, kein Straucheln unter die Linie. Kinderkrämpfe.
Dabei ist doch das Schreibenlernen, dieser Moment, in dem das Kind erstmals in die Geheimnisse der Schrift eingeführt wird, es sein erstes A, sein erstes O malen darf, ein magischer und einzigartig kostbarer Moment. Hier macht das Kind den bedeutungsvollen Schritt, den die Menschheit als Kollektiv schon lange vor ihm vollzogen hat: den Übergang von der schriftlosen in die Schriftzeit, von einer Zeit vorher in eine nachher.
Vorher, das ist die Zeit, in der das Kind, und ursprünglich die Menschheit als Ganzes, die Dinge um sich herum ausschließlich direkt-sinnlich in sich aufnahm, wohl auch beim Namen nannte, jedoch nicht schriftlich fixierte. Dass ein Ding, ein Mensch, die Sonne, der Mond, das Wasser oder die Tiere aber zum Zeichen werden kann, zu einer in sich verdichteten Hieroglyphe, liegt für das Kind vor dem Schulbeginn noch ganz außerhalb seines Vorstellungsvermögens. Sicher hat das Kind jetzt auch noch kein wirkliches Begehren10, danach zu suchen und diese fremden Zeichen in ihrem tieferen Sinn zu verstehen.
Und dann, eines Tages, unter der Anleitung eines guten Lehrers, und auch aus einem Impuls heraus, will das Kind die Zeichen enträtseln. Es beginnt von sich aus zu begreifen, dass ein einziger Laut, zu einem Buchstaben geronnen, das Tor zu den unterschiedlichsten Wirklichkeiten eröffnen kann. Das W zu Wasser und Welle. Das K zu Karamell und Kamel. Das M zu Mama und Makkaroni. Und das P zu Papa und Puppe, Popo und Pipi, Parmesan und Pups. Diese Worteinfälle stammen sämtlich von einem siebenjährigen Mädchen, das gerade das P zu schreiben gelernt hat. Dass auch Popo, Pipi und Pups darunter sind – direkt neben Papa und Parmesan –, ist für das Kind glaubwürdig und faszinierend zugleich. Und lustig! In diesem Alter gibt es zum Glück noch keine Hierarchie der Werte – und der Worte.
Das Heranführen an die Schrift ist eigentlich ein Mysterium, und es tut dem Kind gut, wenn es die Einführung in dieses Mysterium bewusst durchleben darf. Im Judentum war traditionell Brauch, dass der Lehrer am ersten Schultag die Buchstaben mit Honig an die Tafel malte. Die Kinder gingen an die Tafel und schleckten mit ihren Fingern den Honig ab. Die Lehrer der Montessori-Schulen lassen ihre Kinder die Buchstaben aus Pappe und anderen Materialien ausschneiden und mit ihnen spielen. In den Waldorfschulen erwächst jeder Buchstabe aus einem Bild, einer Geste oder einer Geschichte heraus, er wird farbig gemalt und nimmt so lebendig Gestalt an. Auf diese Weise haben die Kinder das Gefühl, dass die Buchstaben aus ihren eigenen Händen heraus entstehen, dass sie selbst deren Schöpfer sind.
Die allermeisten Kinder, die in unseren Schulen heute schreiben lernen, erleben dieses große Mysterium nicht. Sie erleben nicht das Glück, die Dinge der Welt in Zeichen zu verzaubern – und umgekehrt die Zeichen zurückzuversetzen in Realität. Die allermeisten Kinder schlucken die Buchstaben wie Medizin, die man ihnen reicht, einen nach dem anderen, in schön ordentlicher Reihenfolge. Sie kritzeln sie auf Linien, und dabei ist es fast belanglos, ob sie ein A oder ein I, ein L oder N schreiben. Kein Buchstabe schillert für sie. Keiner spricht wirklich zu ihnen.
Hören beziehungsweise lesen wir, was der französische Schriftsteller und langjährige Lehrer Daniel Pennac aus seiner Kindheit erinnert. Ich muss erwähnen, dass Pennac als Schulkind ein cancre war, ein Krebs, wie die Franzosen ihre schlechten Schüler gnadenlos bezeichnen. Pennac hatte, als er schreiben lernen sollte, eigentlich nur eines im Sinn: weglaufen! Er berichtet in seinem Buch »Schulkummer«: »Zweifellos ist diese Lust, davonzulaufen, auch der Grund für das seltsame Schreiben, dem ich mich hingab, ehe ich schreiben konnte. Statt Buchstaben malte ich kleine Männchen, die an den Rand flohen, wo sie sich zu einer Bande zusammenschlossen. Obwohl ich mir anfangs immer Mühe gab. Ich pinselte die Buchstaben des Alphabets so gut es ging, aber nach und nach verwandelten sie sich von allein in diese kleinen davonhüpfenden und sich fröhlich anderswo tummelnden Wesen. Noch heute verwende ich diese Männchen in meinen Widmungen. Ich hänge an ihnen. Sie sind mein Band aus der Kindheit, dem ich die Treu halte.«11
Wenn man Daniel Pennac mit seinem Männchen-Malen genau anschaut – und in seinem Buch findet man sie gezeichnet –, dann entdeckt man, dass er damit den Prozess der Schreib-Zivilisation gleichsam umkehrt, rückgängig macht. Er verwandelt die Buchstaben in das, was sie ursprünglich einmal waren, nämlich lebendige Wesen, Männchen, Menschen, vielleicht auch Tiere.12 Auf jeden Fall mussten es kleine Gestalten sein, die weglaufen konnten.
Pennac spielt auf seine fantastisch-poetische Weise mit den Buchstaben. Dabei ahnen wir, dass ihm als Schriftsteller das Thema heilig ist, so wie es auch uns heilig sein sollte. Die Einführung in die Schrift ist für das kleine Kind der zentrale Moment der Initiation in die geistige Welt. Wenn das Kind erst einmal all die kleinen Strichzeichen, die kompliziert zusammengefügten Geraden und Krummen, die Häkchen und Pünktchen beherrscht, dann steht ihm alles Wissen der Welt offen. Und nicht nur das gegenwärtige Weltwissen. Das Kind kann mittels des geschriebenen Wortes auch die Vergangenheit aufschlüsseln und auf diese Weise »mit Hilfe des Aufgezeichneten am kollektiven Gedächtnis teilhaben«.13 Und es kann auch die Worte Morgen und Zukunft schreiben und damit seine Identität auf Papier, auf einer Baumrinde oder im Sand einritzen.
Adoption
»Ein Kind zu adoptieren ist – ich kann es bezeugen – eine gefühlsmäßig reiche Erfahrung, die an Intensität der Erfahrung biologischer Elternschaft durchaus gleicht.«
Olivier Poivre d’Arvor
Es gibt sie nicht: die Adoption. Adoption hat viele Gesichter. Eigentlich bräuchten wir mindestens drei Begriffe, um die extrem unterschiedlichen Wirklichkeiten und Wahrnehmungsweisen ein und desselben Vorgangs zu begreifen. Da ist die Geschichte der Frau, die ihr Kind – unter welchen Umständen auch immer – abgibt. Da ist die Geschichte des Elternpaares oder der Einzelperson14, das sich sehnlichst ein Kind wünscht. Und schließlich ist da das Kind selbst, Objekt des Begehrens und zugleich des Verlassenwerdens. Drei eigene Realitäten, drei zutiefst unterschiedliche Geschichten. Und sofort wird auch spürbar, dass wir damit nur die Hauptakteure erfassen. Um jeden dieser drei ranken sich wieder andere Personen (Partner, Eltern und andere Familienangehörige) oder Institutionen (Sozialämter, Kirchen, Adoptionsvermittler) sowie unendlich viele Möglichkeiten, Sehnsüchte, womöglich auch Abgründe.
Betrachten wir deshalb diese Geschichten einzeln, rücken wir je einen der Akteure ins Licht.
Erstens: Da erscheint das Gesicht der meist jungen Frau, die ungewollt ein Kind empfängt, austrägt, zur Welt bringt und zur Adoption abgibt. Kaum ist dieser Satz ausgesprochen, so schaltet sich Widerspruch ein: Was heißt ungewollt? Welcher Wille war da am Wirken? War es der Eigenwille der Frau, ihr Begehren, ihr Sehnen und ihre körperliche Bereitschaft, schwanger zu werden? War es ihr eigener Wille, das Kind abzugeben? Oder war es vielleicht ein fremder Wille? Etwa der der Eltern, die die Schande von der Tochter abwenden wollten? Oder der Widerspruch des Partners, der sich durch diese Schwangerschaft gestört fühlte? Oder der einer wohlmeinenden Lehrerin, die dem jungen Mädchen riet, erst einmal ordentlich die Schule zu absolvieren? (»Später kannst du noch viele Kinder kriegen!«) Oder war es die Dorfgemeinschaft oder die Kirche, die, zumindest in der Vergangenheit, außereheliche Schwangerschaften als Vergehen ahndete und die Frau häufig drängte, die sündige Tat durch eine Adoption ungeschehen zu machen?15 Im Nachhinein ist es extrem schwer, den authentischen Willen einer Frau zu ergründen, die das Kind zur Adoption freigibt. Häufig ist die junge Frau innerlich extrem zerrissen, hat also Schwierigkeiten, ihren wirklichen Willen zu erkennen und zu benennen.
Manche Frauen, die ihr Kind abgeben, tun dies mit einem hohen Maß an Konsequenz. Vielleicht wollten sie ursprünglich abtreiben, ließen jedoch Termine verstreichen und sehen nun die Lösung in der Freigabe des Kindes zur Adoption. Andere dagegen haben sich eindeutig entschieden, das ungewünschte Kind nicht abtreiben, sondern leben zu lassen, aber sie fühlen sich nicht in der Lage, es anzunehmen und aufzuziehen. Sie glauben, dass das Kind in einer Adoptivfamilie besser aufgehoben ist und gute Entwicklungschancen erhält. Deshalb planen sie gezielt die Adoption und lassen sich selten in ihrem Entschluss irritieren.
Aber das ist doch eher eine Minderheit. Die große Mehrheit der Frauen, die ihre Kinder zur Adoption freigibt, handelt aus dem Gefühl einer seelischen Überforderung heraus. Sie fühlen sich übermäßig beansprucht durch die Schwangerschaft und allein gelassen von Partnern, Eltern, Geschwistern und Freunden. Nicht zu unterschätzen ist auch die Zahl derer, die schon ein oder zwei Kinder haben und plötzlich spüren, dass die Kraft für ein weiteres Kind nicht mehr ausreicht. Die Geburt des Kindes und die damit verbundenen Ängste überwältigen manche Frauen, und sie sind außerstande, die mütterliche Rolle zu übernehmen.
Alle Frauen, die ein Kind zur Welt bringen, brauchen im Moment der Geburt selbst Bemutterung, das heißt liebevolle, umfassende Versorgung und Zusprache. Einfühlsame Partner, die Mütter der Gebärenden, Freundinnen und vor allem Hebammen wissen dies und bauen im Idealfall um die schwangere und gebärende Frau eine Art Schutzwall. Bei der jungen Frau aber, die ihr Kind zur Adoption freigibt, fehlt dieser Schutzwall meistens ganz. Sie ist nur selten umgeben von liebenden und aufbauenden Personen, sondern – wenn überhaupt – von professionellen Helfern, die sie bei den notwendigen juristischen Schritten begleiten.
Nach der erfolgten Adoption fühlt die Frau, selbst dann, wenn sie ihre Emotionen beiseite schiebt, meist eine Leere, die man sich in ihrer Intensität nur schwer vorstellen kann. Wir lassen uns leicht täuschen: Auch wenn die biologische Mutter ihre Entscheidung aus vermeintlichen Vernunftgründen fällt, so durchlebt die Seele die Trennungsqual doch unvermindert stark. Tiermütter klagen oft tagelang nach ihren Jungen, die man ihnen wegnimmt. Menschenmütter schreien selten laut, doch ihr Schmerz ist nicht minder groß.
Seit Sigmund Freud wissen wir, dass die Menschen in unserer Gesellschaft gut lernen, zu verdrängen. Aber er verweist uns gleichzeitig darauf, dass diese Verdrängung ihren Preis fordert und dass sie auf Dauer meistens nicht trägt.16 Ich kenne eine Frau, die als fünfzehnjähriges Mädchen ein Kind aus einer Verbindung mit einem Oxford-Studenten aus Indien zur Adoption gegeben hatte. Lebenslang reiste sie später nach Indien, in der unbewussten Hoffnung, dem Kind eines Tages womöglich dort zu begegnen. Und der Film Philomena (2013) zeigt eine andere Frau, die fünfzig Jahre nach der Geburt ihres unehelichen Sohnes geschwiegen hat und plötzlich verzweifelt nach ihm zu suchen beginnt. So lange hat die Verdrängung ihr Werk getan – dann aber glaubt die Frau nicht weiterleben zu können, ohne ihren Sohn gefunden zu haben.17 »Der Mensch vergisst niemals wirklich. Alle kleinen Einzelheiten leben versteckt irgendwo in den Erinnerungen unseres Geistes«18, schreibt der Koreaner Jung in seinem berührenden Comic über seine eigene Adoption, und in seinen Bildern bezeugt er, dass diese nicht nur im Geist, sondern auch im Körper selbst bewahrt und erinnert werden.
Zweitens: Die Geschichte der Adoptiveltern – so gut wie immer ist dies eine lange Geschichte. Meistens verstreichen Jahre mit vergeblichem Warten auf das eigene (biologische) Kind.19 Oftmals hat das Paar bereits mehrere Fertilitätsuntersuchungen und auch -behandlungen über sich ergehen lassen, bis es sich zur Adoption entscheidet, bisweilen wohl auch durchringt, aus der Einsicht, dass der eigene Kinderwunsch nicht realisierbar ist. Manchmal war es eine qualvolle Wartezeit. Oder, diese Variante existiert heute in zunehmendem Maße, homosexuelle Partner, Männer oder Frauen, ersehnen ein gemeinsames Kind und entscheiden sich für die Adoption.
Der Kinderwunsch entspringt eben nicht, wie manche behaupten, einem narzisstischen Impuls, im Kind ein Stück eigenes Ich zu schaffen. Das wäre psychologisch zu kurz gegriffen. Vielmehr ist es das Begehren, dass der Fluss des Lebens mit mir nicht abbricht, dass er weiterfließe, fleischlich-lebendig. Der Wunsch nach Kindern entspringt der Bejahung des Lebens, der Akzeptanz des Zyklus von Sterben und Werden, so wie Goethe es formulierte: »Und so lang du das nicht hast, dieses: Stirb und werde! Bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde.«20 Die meisten Menschen fühlen das – bewusst oder unbewusst. Sie spüren den Impuls, dass das Leben weitergehen soll durch sie. Sie wollen Kinder, und zwar Männer und Frauen gleichermaßen.21 Viele Adoptiveltern, die keine Kinder bekommen können, wählen zur Befriedigung dieses Begehrens ein fremdes Kind. Mit der Kraft ihres Willens und ihrer Liebe nehmen sie ein ihnen unbekanntes Wesen an Kindes statt an, geben ihm Namen, Nahrung, Haus und Zukunft. Das erfordert Mut und eine tragfähige Motivation und Durchhaltekraft. Ganz so wie jedes Elterndasein.
Und schließlich – drittens – ist da das Adoptivkind selbst. Die allermeisten Kinder haben das Glück, in eine liebende Familie aufgenommen zu werden, die schon lange sehnsüchtig auf sie gewartet hat. Auf jeden Fall gelangen sie in Familien, die amtlich geprüft und für gut befunden wurden, die Kinder aufzunehmen. Sie haben das Glück, eine Familie zu bekommen, Wohnung, Nahrung und Wachstumschancen. Ganz besonders trifft dies für Kinder aus dem Ausland zu – inzwischen die große Mehrheit der Adoptivkinder –, wo sie oftmals wenig gute bis gar keine Entwicklungschancen haben.
So war es bei Anna, dem jungen Mädchen aus Rumänien. Die Adoptiveltern, ein kinderloses Arztehepaar aus England, holten sie und ihre zwei Brüder aus einem jener unvorstellbar lieblosen Kinderheime des Rumäniens der Neunzigerjahre. Anna war damals fast zwei Jahre alt, sie konnte noch nicht laufen, weil sie bis dahin meist an Gurten angekettet im Kinderbett gehalten wurde. Heute ist Anna eine junge Frau, auffallend zugewandt, fröhlich und selbstbewusst. Und dennoch erzählt die Adoptivmutter, dass die Tochter bisweilen in kaum zügelbare Zornattacken verfällt, so als wolle sie alles, ihre Vergangenheit und ihre jetzige Wirklichkeit, zerstören. So als wäre das Leben in England und in dieser liebevollen Familie das falsche Leben. So als sei sie selbst falsch.
Jedes Adoptivkind drängt irgendwann einmal danach, Auskunft über seine biologischen Eltern zu bekommen. Das Kind möchte wissen, wer es zur Welt gebracht hat, wer es gezeugt hat, und vor allem will es erfahren, warum die eigene Mutter es weggegeben hat. Wenn diese Frage nicht beantwortet wird, gibt es sich die Erklärung selbst: »Sie hat mich abgelehnt. Sie wollte mich nicht. Sie hat mich nicht geliebt.«
Das sind die im Adoptivkind kreisenden Gedanken. Es spricht sie selten aus. Wie Anna sind die meisten Adoptivkinder voller Dankbarkeit. Sie wissen sehr wohl, was sie den Adoptiveltern verdanken. Dennoch nagen diese Fragen in ihnen. Sie tragen das Trauma in sich, von ihrer eigenen Mutter für immer weggeschickt, ausgesetzt worden zu sein. Wie bei so vielen anderen Lebenskränkungen, die jeder von uns in sich trägt, gibt es Wege, damit zu leben und eine Balance herzustellen. Gegenüber dem Schmerz als Schattenseite der Adoption wiegt die andere Waagschale, in welcher das Glück, der Lebenswille und die Hingabe vereint sind. Und Letzteres wiegt, wenn man das Bild der Waage ernst nimmt, spürbar schwerer. Wie sagt der Koreaner Jung, der als Fünfjähriger zwischen Mülleimern aufgegriffen und zur Adoption nach Europa verschickt wurde? »Schließlich haben sie mir doch die Hauptsache gegeben: eine Familie.«22