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VOLK UND WIDERSTAND

KEINE STUNDE NULL

Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg. Als die Waffen endlich schwiegen, waren mehr als 60 Millionen Menschen tot. Und Hitlers Deutsche? Viele wollten nichts sehen und nichts wissen – auch in den folgenden Jahrzehnten nicht.

Spätsommer 1945. Aus einem Volk von Jublern war ein Volk von Stummen geworden. Aber empfanden die Deutschen, die Opfer und Täter zugleich waren und so viel Leid über andere Völker gebracht hatten, so etwas wie Scham? Oder fühlten sie sich nur auf der Verliererseite, als »Selbst-Betrogene« von der eigenen Regierung? Konnten sie begreifen, was geschehen war, was sie mitgemacht und zugelassen hatten? Was waren sie: Täter, Mit-Läufer, Weg-Seher? Die Stunde Null sollte auch die Stunde der notwendigen »Säuberung« der Deutschen werden. In Potsdam trafen sich dazu die drei Regierungschefs der Siegermächte und unterschrieben ein Dekret, in dem es hieß:

»Alle Mitglieder der nationalsozialistischen Partei, welche mehr als nominell an ihrer Tätigkeit teilgenommen haben, … sind aus den öffentlichen und halböffentlichen Ämtern zu entfernen. Diese Personen müssen durch Personen ersetzt werden, welche nach ihren politischen und moralischen Eigenschaften fähig erscheinen, an der Entwicklung wahrhaft demokratischer Einrichtungen in Deutschland mitzuwirken.«

Ein Volk stand vor einer politischen und moralischen Reinigungsprozedur durch die Siegermächte. Und das, was die Siegermächte »Entnazifizierung« nannten, war als Vorbedingung für eine kollektive Rehabilitierung der Deutschen konzipiert. Mit dem Dekret sollte die Säuberung ehemaliger NSDAP-Mitglieder auch in geordnetere Bahnen gelenkt werden, denn schon hatte in den einzelnen Besatzungszonen auf höchst unterschiedliche Weise die Verfolgung und Erfassung früherer Nazis begonnen. Lokale »antifaschistische Komitees« verhinderten, dass ehemalige NS-Funktionäre untertauchten, gelegentlich kam es sogar zu Racheakten. Daran aber hatte der »Alliierte Kontrollrat« keinerlei Interesse. Die Entnazifizierung sollte einheitlich und allein in der Zuständigkeit des Kontrollrats durchgeführt werden. Anfang 1946 wurde eine weitere Direktive erlassen, in der genau definiert und kategorisiert war, welche Personen aus welchen Ämtern und Stellungen entfernt werden sollten. Eine zusätzliche Verordnung im Oktober 1946 legte gemeinsame Richtlinien für ganz Deutschland zur Bestrafung von Kriegsverbrechern sowie von Nationalsozialisten fest, die das NS-Regime gefördert und unterstützt hatten.

Ein schwieriges Unterfangen. Wer war Täter, wer nur ein Mitläufer? Hatte nicht jeder eine Ausrede, eine Erklärung? Damit die »Potsdamer Grundsätze« auch in die Praxis umgesetzt werden konnten, einigte man sich zunächst auf fünf Gruppen zur »Heranziehung von Sühnemaßnahmen«: Hauptschuldige – Belastete (Aktivisten, Militaristen und Nutznießer) – Minderbelastete – Mitläufer – und Entlastete (Personen, die vor Spruchkammern nachweisen konnten, dass sie unschuldig waren).

Ein Volk auf dem Prüfstand. Die Siegermächte gingen in ihren Besatzungszonen nun daran, die desillusionierten Hitler-Deutschen zu »säubern«. Ein Volk, das sich zwar als Verlierer fühlte, aber nicht unbedingt als schuldig. Mit großem Elan begannen die Amerikaner. Sie verteilten einen sechsseitigen Fragebogen, der von den Deutschen auszufüllen war. Auf 131 Fragen – vom Körpergewicht über Vermögensverhältnisse, Militärdienst, Auslandsreisen, Vorstrafen bis hin zu religiösen Bindungen – wurden eindeutige Antworten verlangt. Unvollständigkeit und Auslassungen standen unter Strafe. Kernstück des Fragebogens waren die Punkte 41 bis 95, unter denen wahrheitsgetreue Angaben über die Mitgliedschaft in nationalsozialistischen Organisationen gefordert wurden. Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte mussten zudem einen Ergänzungsbogen ausfüllen, dessen erste Frage der Mitgliedschaft zum Volksgerichtshof galt. Weiterhin wurde nach Kontakten zur Gestapo, nach Art und Zahl der Führung oder Beteiligung an Prozessen sowie nach Einzelheiten der bisherigen Justizkarriere gefragt.

Anfang Dezember 1945 waren bei den amerikanischen Dienststellen mehr als 13 Millionen Fragebogen eingegangen. Die Säuberung beschränkte sich darauf, die Angaben wenn möglich zu überprüfen und auf diese Weise die belastete NS-Spreu vom unbelasteten Weizen zu trennen. Die schlimmsten Nazis fielen in die Kategorie »automatischer Arrest«, andere wurden aus ihren Arbeitsverhältnissen entfernt, harmlose Mitläufer durften ihre Arbeitsplätze und Ämter behalten.

In der französischen und der britischen Zone beschränkte man sich in erster Linie darauf, die personellen Eliten des NS-Systems auszuwechseln. Es galt, die Aufrechterhaltung der Versorgung und Verwaltung nicht zu gefährden, und so praktizierte man die Säuberung nicht allzu streng. Im Vordergrund standen nicht juristische, sondern pragmatische Lösungen. In der britischen Zone beispielsweise trat neben die Bezeichnung »politisch nicht tragbar« und »politisch tragbar« die Zwischenbewertung »tragbar mit Amtsveränderung«. Das half, viele personelle Engpässe zu lösen.

Insgesamt brachten die Entnazifizierungsprozeduren vielfältige Probleme mit sich. Einerseits verursachte die Säuberung empfindlichen Personalmangel, nicht allein in den Führungspositionen; andererseits störten beispielsweise die Internierungslager, in denen im Frühjahr 1946 weit über 100 000 Deutsche der Kategorie »automatischer Arrest« inhaftiert waren, den Demokratisierungsanspruch der westlichen Besatzungsmächte. Am konsequentesten wurde die Säuberung ehemaliger Exponenten des NS-Regimes in der sowjetischen Besatzungszone durchgeführt, denn hier verfolgte man im Zusammenhang mit einer grundlegenden »antifaschistisch-demokratischen« Umwälzung einen radikalen personellen Neubeginn. Freilich, auch dort rückte bereits ab 1947 der Gedanke der Rehabilitierung in den Vordergrund, vor allem, wenn es sich um einfache NSDAP-Mitläufer handelte. Die Justiz sollte sich ausführlich mit den Vergehen der Aktivisten beschäftigen – doch gab es noch Richter?

Bereits im September 1945 hatte die sowjetische Militäradministration den Aufbau einer demokratischen Justiz befohlen, worin ehemalige NS-Juristen keinen Platz finden sollten. Beinahe 90 Prozent des Justizpersonals wurden danach entlassen. Um das entstandene Vakuum rasch zu füllen, wurden sogenannte Volksrichterschulen errichtet, wo Laien in Schnellkursen die Rechtsprechung erlernten.

Weitaus laxer war in dieser Frage eine Anordnung der britischen Militärregierung, nach der immerhin 50 Prozent der jeweils eingesetzten Richter und Staatsanwälte Mitglieder der NSDAP gewesen sein durften. Diese Klausel, damals als »Huckepack-Regelung« bezeichnet, hatte den Vorteil, dass ein Unbelasteter jeweils einen früheren Parteigenossen mit in den Justizdienst hineintragen konnte.

Insgesamt jedoch war bereits Ende 1947 das Interesse, vor allem der West-Alliierten, an der Entnazifizierung erkennbar erlahmt. Die Säuberung von außen, in Anspielung an die Nürnberger Prozesse gegen die NS-Prominenz auch »Nürnberg des kleinen Mannes« genannt, war gescheitert. So wurden die Aufgaben bald den neu errichteten Bundesländern übertragen, die zu diesem Zweck jeweils dafür Spruchausschüsse bildeten. Mit zweifelhaftem Erfolg.

Noch immer waren viele Deutsche der Meinung, der Nationalsozialismus sei im Großen und Ganzen eine gute Sache gewesen, die allenfalls schlecht durchgeführt worden sei. Nun sollten diese Deutschen in Eigenregie ihre Entnazifizierung organisieren.

Doch alle Versuche, die anständigen Deutschen von den Nazis, die anständigen Nazis von den schlimmen Deutschen zu trennen, erwiesen sich als unmöglich. Kaum einer mochte als Belastungszeuge auftreten, an Entlastungszeugen dagegen herrschte kein Mangel. Die Deutschen fühlten sich durch die Niederlage schon genug bestraft. Schuldbewusstsein, Sühnebedürfnis oder Scham hatten keinen Platz.

Die »wahren Schuldigen« sollten bestraft, die gutgläubigen Nazis aber – das war die vorherrschende Meinung – in Gnaden entlassen werden. So setzte sich ein Nazi-Begriff durch, der sich allein auf exponierte Parteifunktionäre, auf NS-Verbrecher und KZ-Schergen reduzierte, nicht aber auf Zellenleiter und Blockwarte, auf Kassenverwalter und Unterführer, die alle doch nur das »Beste für Deutschland und das deutsche Volk« gewollt hatten. Und auch die Komplizen in herausragenden Positionen, die Offiziere, die Wirtschaftsmanager, die Bürokraten, die Professoren und die Juristen – sie alle fielen durch das grobe Raster der Entnazifizierung.

Diejenigen, die jetzt die gigantische Selbstreinigung vornahmen – die Vertreter der neugeschaffenen Parteien –, waren zwar unbelastet, aber überfordert – und jene, die in den Spruch- und Berufungskammern ihren Juristenverstand bereits wieder für die »deutsche Sache« einsetzten, einigte vor allem das Bedürfnis, mit der NS-Vergangenheit endlich Schluss zu machen.

Viele Richter, geübt in Anpassungsfähigkeit und Opportunismus, die jetzt mit den »Entsorgungsarbeiten« der Vergangenheit betraut waren, begriffen – wen konnte es wundern – die ihnen übertragene Säuberung ganz positivistisch vor allem als Prozedur zur Rettung der eigenen Karriere – und der ihrer Zunftkollegen.

Sie bemühten sich redlich, dass kein Kollege brotlos wurde. Wem die Unbedenklichkeit bescheinigt wurde, der zählte nicht länger als belastet. Wer unter Hitler grausame Strafen und Todesurteile ausgesprochen hatte, der musste nicht unbedingt ein Nationalsozialist gewesen sein. Waren sie nicht lediglich Vollstreckungsbeamte, die geltendes Gesetz angewandt hatten? Und Treue zum Gesetz konnte doch wohl niemanden zum Kriminellen machen? Diese Logik sollte in den nächsten Jahren zur eisernen Rechtsüberzeugung werden, wann immer – selten genug – die Rolle der NS-Justiz zu verhandeln sein sollte.

Die Formel von der bloßen Pflichterfüllung kursierte unter den ehemaligen NS-Juristen, häufig mit dem Hinweis, damit Schlimmeres verhindert zu haben. Eine Rechtfertigung, die bereits im Nürnberger »Juristenprozess« nicht ohne Erfolg strapaziert worden war.

Im dritten von insgesamt zwölf Prozessen, die von den Amerikanern im Lauf des Tribunals gegen die Hauptkriegsverbrecher durchgeführt wurden, hatten sich am 17. Februar 1947 sechzehn deutsche Juristen wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Organisationsverbrechen zu verantworten. Die Juristen, für die Anklagevertreter »die Verkörperung dessen, was im Dritten Reich als Justiz angesehen wurde«, standen stellvertretend für die gesamte deutsche Justiz vor Gericht. Freilich, die exponiertesten Vertreter waren ohnehin nicht mehr zur Verantwortung zu ziehen: Reichsjustizminister Gürtner war bereits 1941 gestorben, sein Nachfolger Thierack hatte nach Kriegsende in einem englischen Straflager Selbstmord begangen, ebenfalls Reichsgerichtspräsident Bumke, der nach dem Einmarsch der US-Armee in Leipzig seinem Leben ein Ende setzte. Nun waren also sechzehn prominente Repräsentanten der Justiz angeklagt worden, für die man hinreichendes Beweismaterial hatte herbeischaffen können. Für das Reichsjustizministerium standen der ehemalige Staatssekretär und zeitweilige kommissarische Justizminister Dr. Franz Schlegelberger, der ranghöchste Angeklagte, sowie die beiden Staatssekretäre Curt Rothenberger und Ernst Klemm vor Gericht, außerdem der Generalstaatsanwalt Joël und weitere drei Ministerialdirigenten. Zwei Angeklagte schieden wegen Haftunfähigkeit und durch Selbstmord vorzeitig aus dem Verfahren aus. Für den Bereich der Staatsanwaltschaft hatten sich der frühere Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof, Ernst Lautz, und Reichsanwalt Paul Barnickel zu verantworten, für die Sondergerichte drei Vorsitzende aus Nürnberg und Stuttgart, für den Volksgerichtshof schließlich der Präsident des Vierten Senats Günther Nebelung sowie ein Laienrichter.

Sie alle waren exemplarische Justiztäter. Es ging in diesem Prozess ohnehin weniger darum, Einzeltaten nachzuweisen – die gleichwohl ausführlich zur Sprache kamen –, sondern es ging darum, zu zeigen, dass die Justiz bis zuletzt Teil und Komplize des nationalsozialistischen Terrorsystems gewesen war. Hauptanklagepunkte waren die »Justizmorde und andere Gräueltaten, die sie dadurch begingen, dass sie Recht und Gerechtigkeit in Deutschland zerstörten und dann in leeren Hüllen der Rechtsformen zur Verfolgung, Versklavung und Ausrottung von Menschen in einem Riesenausmaß benützten«, wie es die Anklagevertretung formulierte.

Die Beweisaufnahme fiel für die deutsche Justiz ebenso vernichtend aus wie für die einzelnen Angeklagten. Hier standen nicht allein fanatische Nationalsozialisten wie Freisler oder Thierack, sondern vielmehr exemplarische Vertreter des konservativen Juristenstandes vor Gericht, aber gerade diese Tatsache offenbarte die tiefe Verstrickung der Justiz mit dem braunen Terror-Regime. Sie entpuppten sich als Prototypen willfähriger Juristen, ohne die die nationalsozialistischen Machthaber nicht überlebensfähig gewesen wären.

Insgesamt wurden 138 Zeugen gehört, über 2000 Beweisanträge geprüft. Nach zehnmonatiger Prozessdauer – nachdem sich das Gericht ausgiebig mit den vielfältigen Untaten der Justiz beschäftigt hatte, den »Nacht-und-Nebel-Erlassen«, der Polenstrafrechtsverordnung, der Kooperation zwischen Justiz und SS sowie Gestapo – zog die Anklagevertretung schließlich das Fazit:

»Die Angeklagten sind solch unermesslicher Verbrechen beschuldigt, dass bloße Einzelfälle von Verbrechenstatbeständen im Vergleich dazu unbedeutend erscheinen. Die Beschuldigung, kurz gesagt, ist die der bewussten Teilnahme an einem über das ganze Land verbreiteten und von der Regierung organisierten System der Grausamkeit und Ungerechtigkeit unter Verletzung der Kriegsrechte und der Gesetze der Menschlichkeit, begangen im Namen des Rechts und unter der Autorität des Justizministeriums mit Hilfe der Gerichte. Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Juristen verborgen.«

Schlegelberger, den das Gericht eine »tragische Figur« nannte, hatte sich – wie auch die anderen Angeklagten – damit zu rechtfertigen versucht, er sei nur auf dem Posten geblieben, um Schlimmeres zu verhindern. Dies war jene absurde Rechtfertigungsthese, zu der in den nächsten Jahren noch viele NS-Täter greifen sollten.

Am 3. und 4. Dezember 1947 wurden die Urteile verkündet: Schlegelberger, Klemm und zwei weitere Angeklagte wurden zu lebenslanger Haft verurteilt, die anderen Angeklagten erhielten Freiheitsstrafen zwischen fünf und zehn Jahren. Milde Urteile für Schreibtischtäter und exemplarische Mörder in Roben – ohnehin mit geringem Interesse am Vollzug: Beinahe alle Verurteilten wurden vorzeitig aus der Haft entlassen. Schlegelberger sollte ebenfalls bereits 1951 wieder ein freier Mann sein.

Auch wenn der Nürnberger Juristenprozess einer der wenigen, vielleicht sogar der ernsthafteste Versuch war, das Justizsystem des Dritten Reiches zu erhellen und zu brandmarken, so war die strafrechtliche Ahndung des Unrechts der NS-Justiz gescheitert. Mehr noch: Das Verfahren hatte keinerlei reinigende Wirkung auf die deutsche Juristenzunft. Im Gegenteil. Viele sahen in Nürnberg eine »Sieger- und Vergeltungsjustiz« am Werk und solidarisierten sich mit den Kollegen. Hatten sie denn nicht alle nur ihre Pflicht erfüllt?

Die meisten dachten wie ihr Kollege, der Ex-Marinerichter und spätere Ministerpräsident Hans Karl Filbinger, der später einmal aussprach, was alle ehemaligen NS-Juristen schon frühzeitig für sich reklamierten: »Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein.« Ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Komplizenschaft in der Nazi-Zeit konnten die Juristen so kaum entwickeln. Die Verantwortung für das, was geschehen war, bürdeten sie der politischen Führung auf. Bereits 1947 lieferte der Strafrechtsprofessor Eberhard Schmidt – einer der großen juristischen Lehrer der Nachkriegszeit – auf dem Juristentag die dazu passende Entschuldigungsformel:

»Nicht die Justiz, sondern ganz allein der Gesetzgeber hatte die Fahne des Rechts verlassen. Und mit der Verantwortung für die Folgen dürfen heute weder Rechtslehre noch Justiz beladen werden, da diese ganz allein den um jeden rechtlichen Halt gekommenen Gesetzgeber trifft.«

Neu waren diese Töne nicht. Wie seinerzeit die Weimarer Richter, die nicht der Republik, sondern dem »Staat« gedient hatten, so fühlten sich auch die ehemaligen Richter des Dritten Reiches nun nicht mehr als NS-Komplizen, nein, sie hatten angeblich allein der »Staatsidee« gedient. Dabei war keineswegs zu leugnen, dass die meisten Richter Mitglied der NSDAP gewesen waren oder aber dem NSRB, dem Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund, angehört hatten. Doch die Entnazifizierung hatte längst nicht mehr Vorrang, und ein »einfacher« Parteigenosse gewesen zu sein, galt nicht mehr als Makel.

Hatte man überhaupt eine andere Chance? Wollte nicht jeder letztlich nur in Ruhe seine richterliche Laufbahn unbehindert absolvieren? Hatte man nicht allein seine Pflicht getan, als Richter, Staatsanwalt, Justizbeamter? Einem Richter, der behauptete, er habe nur die Staatsräson im Auge gehabt, konnte nichts geschehen. Oder anders ausgedrückt: Ein überzeugter Nazi konnte nach dieser Argumentation durchaus eine edle Gesinnung haben.

Selbst NS-Juristen, die sich im Hitler-Deutschland besonders eifrig hervortaten, mussten um ihre Nachkriegskarriere nicht bangen. Tausende von belasteten Richtern wurden also nicht nur verschont, sie durften wieder amtieren. So kehrten sie rasch an die Richtertische zurück, besetzten die Stühle als Landgerichts- und Oberlandesgerichtspräsidenten, fanden Unterschlupf in den Justizministerien. Von dieser Richtergeneration war kaum ein Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung zu erwarten. Verständlich: Zahlreiche Richter hatten zuvor dem braunen Terror-Regime gedient und hätten erst einmal selbst entnazifiziert werden müssen. Doch keine Krähe hackt der anderen ein Auge aus.

Das Dilemma aus den Anfängen der Weimarer Republik wiederholte sich, als man glaubte, die alten Köpfe seien notwendig, um eine funktionierende Verwaltung und Justiz aufzubauen. Auch jetzt gab es keinen politischen Neubeginn.

Am 8. Oktober 1950 erinnerte selbst ein Mann wie Thomas Dehler, unter den Nazis wegen seiner Rasse aus dem Staatsdienst entlassen und nun liberaler Justizminister im Adenauer-Kabinett, bei der Einweihung des neuen obersten deutschen Gerichts, des Bundesgerichtshofs, in seiner Rede »an die ausgezeichneten Leistungen des Reichsgerichts« und wünschte sich, »dass der Geist dieses Gerichts auch die Arbeit des Bundesgerichtshofs durchwaltet«. Folgerichtig schrieb dessen Ministerialrat Dr. Georg Petersen in der Festschrift, es sei das Ziel der Bundesregierung, »frühere Mitglieder des Reichsgerichts, denen seine Tradition bekannt ist, in den Bundesgerichtshof zu berufen«.

Sowohl die institutionelle wie auch die personelle Kontinuität war damit gesichert. Im Bonner Justizministerium agierten Juristen, die schon dem NS-Regime willfährig gedient hatten: Da war Dr. Josef Schafheutle, ein Mann, der bereits 1933 im Reichsjustizministerium mit dem politischen Sonderstrafrecht beschäftigt und somit einer der emsigsten Zuarbeiter Freislers war; da gab es einen Dr. Ernst Kanter, einst Richter beim Reichskriegsgericht, ehe er 1943 Militärrichter in Dänemark wurde und dort an Todesurteilen beteiligt war. Seiner Nachkriegskarriere war diese Tatsache keineswegs hinderlich: 1958 wurde Kanter Präsident des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs.

Aber warum sollte für das Justizministerium nicht dasselbe gelten wie für andere Ministerien, beispielsweise das Auswärtige Amt, wo beinahe zwei Drittel der Beschäftigten ehemalige Nationalsozialisten waren und nun die Auslandspolitik der Deutschen besorgten.

Adenauer beschwichtigte Kritiker mit dem Argument, man könne »doch ein Auswärtiges Amt nicht aufbauen, wenn man nicht wenigstens an den leitenden Stellen Leute hat, die von der Geschichte von früher etwas verstehen«. Beispielsweise Leute wie sein Kanzleramtssekretär Dr. Hans Globke, der nicht nur an der Ausarbeitung des »Blutschutzgesetzes« und des »Erbgesundheitsgesetzes« von 1935 beteiligt war, sondern sich auch als Kommentator der Rassengesetze hervorgetan hatte. Als Rassenschande-Experte hatte er auch 1942 an der Wannsee Konferenz über die »Endlösung« der Judenfrage teilgenommen. Seiner Nazi-Karriere folgte nun eine steile Karriere nach dem Krieg.

Die Adenauer-Republik sicherte Unzähligen die Kontinuität ihrer zweifelhaften Laufbahnen. Beispielsweise Dr. Friedrich Karl Vialon, einem Mann, der im Reichskommissariat Ostland die Ausplünderung und Versklavung der Juden geleitet hatte – auch er brachte es zum Staatssekretär, erst im Bundesfinanzministerium, später im Bundeskanzleramt. Oder Dr. Heinz Paul Baldus, der während des Nazi-Regimes in der Rechtsabteilung der Kanzlei des Führers gewissenhaft »seine Pflicht« erfüllt hatte. Auch für ihn fand sich höchstrichterliche Verwendung: als Senatspräsident am Bundesgerichtshof.

Und noch ein Mann mit Vergangenheit hatte es zu einem der ranghöchsten bundesdeutschen Juristen gebracht: Wolfgang Fränkel. Einst hatte er bei der Reichsanwaltschaft als unbarmherziger NS-Jurist mit dafür gesorgt, dass Urteile gegen Juden, Polen, Tschechen und Franzosen verschärft wurden. Seiner Nachkriegskarriere hatte das keineswegs geschadet: 1962 wurde er zum Generalbundesanwalt ernannt. Auf den Gedanken, aufgrund seiner Mitwirkung an der NS-Justiz aus Gründen politisch-moralischer Glaubwürdigkeit auf das Amt zu verzichten, kam Fränkel nicht.

Wie konnte er auch? Nach seiner Ernennung präsentierte er sich gegenüber der Presse als überzeugter Gegner jeglicher Diktatur. Widerspruch regte sich kaum. Zwar hatten DDR-Behörden – wie so häufig – auch im Falle Fränkel unanfechtbares dokumentarisches Material zu dessen NS-Laufbahn vorgelegt, doch wenn es um Aufarbeitung der Vergangenheit ging, nahm man von den DDR-Gerichten nicht gern Hilfe in Anspruch. Der »Kalte Krieg« bot so den besten Schutz für die Täter von einst.

Freilich: Eine Vorbildfunktion in Sachen »Vergangenheitsbewältigung« konnte auch für demokratisch gesinnte Westjuristen die DDR-Justiz nicht sein. Schließlich hatte es 1950 die »Waldheimer Prozesse« gegeben, ein Schnellverfahren, in dem im Stile der NS-Justiz zahlreiche Todesurteile gegen ehemalige Nationalsozialisten gefällt worden waren. Den Angeklagten wurden die elementarsten Rechte verweigert: Es gab weder eine Beweisaufnahme noch eine Verteidigung. Entlastungszeugen wurden nicht gehört, die Öffentlichkeit war nur in wenigen Schauprozessen zugelassen. Die meisten Waldheim-Angeklagten waren eher NS-Mitläufer als Täter. Doch dies interessierte die neuen DDR-Staatsanwälte und Richter nicht. Die häufigsten Vorwürfe lauteten auf »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« und »wesentliche Förderung« des Hitler-Regimes. Die Angeklagten wurden meist zu Zuchthausstrafen von zehn Jahren und mehr verurteilt, 24 Todesurteile wurden in der Nacht vom 3. auf den 4. November 1950 vollstreckt.

Aber nicht nur in den »Waldheimer Prozessen« hatte die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) Regie geführt und die Justiz als verlängerten Machtapparat instrumentalisiert. Was sich in den Gerichtssälen des jungen »Arbeiter- und Bauernstaates« vollzog, waren – keineswegs nur in politischen Straftaten – häufig stalinistische Schauprozesse, die jeglicher Rechtsstaatlichkeit entbehrten. Die Angeklagten hatten kaum Rechte, eine freie Anwaltschaft gab es nicht, Staatsanwälte benutzten den Gerichtssaal als ideologische Tribüne, die Richter ließen sich von Partei und Staatssicherheit die Urteile vorbereiten und vorgeben. Mit einer unabhängigen Justiz hatte dies nichts zu tun. Die Strafjustiz sei eine politische Tat, propagierte Hilde Benjamin, gnadenlose Richterin in zahllosen Schauprozessen. Mit Dr. Ernst Melsheimer, Erster Generalstaatsanwalt der DDR (der als Kammergerichtsrat bereits der NS-Justiz gute Dienste geleistet hatte), gehörte sie zu den besonders fanatischen Vollstreckern der SED-Dogmen. Angeklagte schrie und brüllte sie nieder – nicht anders, als Jahre zuvor mit Angeklagten vor dem Volksgerichtshof verfahren wurde. Hilde Benjamin empfahl sich mit ihren Terror-Urteilen für größere Aufgaben: Sie wurde (bis 1967) DDR-Justizministerin.

Diese DDR-Justiz konnte also weder Vorbild noch Partner für die westdeutsche Justiz sein. Ein Glück für viele ehemalige NS-Täter, deren Akten in der DDR lagerten und die sich im Westen deshalb unbesorgt ihrer Nachkriegslaufbahn widmen konnten.

Deutsche Karrieren, ob in Justiz, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft oder Verwaltung – die Seiten dieses Buches würden nicht ausreichen, alle Namen der braunen Täter und Schreibtischtäter zu nennen, die in der Adenauer-Republik rasch wieder Schlüsselstellungen einnahmen. Anstoß an der Re-Nazifizierung nahm ohnehin kaum jemand. Im Gegenteil: Die meisten Deutschen wollten von der Vergangenheit nichts mehr wissen, ganz im Sinne ihrer gewählten Volksvertreter. Nicht nur Adenauer in den Fünfzigerjahren, auch danach hatten westdeutsche Politiker mit griffigen Formulierungen ihre Landsleute immer wieder dazu aufgefordert, doch mit der »ewigen Vergangenheitsbewältigung« abzuschließen. So Franz-Josef Strauß, der schon früh darin eine »gesellschaftliche Dauerbüßeraufgabe« erkennen wollte und feststellte, die Deutschen seien »eine normale Nation, die das Unglück hatte, schlechte Politiker an der Spitze ihres Landes zu haben«. Hitler als Betriebsunfall?

Er und viele andere appellierten an die Deutschen, »aus dem Schatten Hitlers herauszutreten«. Lautstark propagierten sie die »Deutschland-als-Opfer«-Version, in der sich alle mit allen versöhnen sollten – so, als habe es kaum Täter und Taten gegeben, sondern einzig und allein Opfer. Die Deutschen als ein Volk von Betrogenen?

Die geschichtsklitternde Formel, die Deutschen seien »Hitlers Opfer« gewesen, das Dritte Reich ein Werk einer Bande von Verbrechern – das war zwar eine seltsame, aber durchaus entlastende Variante, die keineswegs nur konservativen Politikern als Selbstrechtfertigung diente.

Bald galten ehemalige SS-Männer wieder als anständige Leute, konnten KZ-Schergen sich auf »Befehlsnotstand« berufen, hieß das neue Nationallied der Deutschen: »Wir haben nichts gewusst.« Und es gab noch immer Rechtfertigungen. »Nicht alles, was war, war falsch gewesen …«, so dachten – kaum waren die Trümmer des NS-Regimes zur Seite geräumt – viele, ja die meisten Deutschen.

In den wenigen – meist sich mühsam hinschleppenden – NS-Prozessen, etwa den Prozessen gegen Schergen der Konzentrationslager Auschwitz und Majdanek, wo Hunderttausende ermordet worden waren, zeigten die Justizbehörden und Gerichte nur geringes Interesse an der Verfolgung und Verurteilung der Schuldigen. Gerade diese großen Nachkriegsprozesse gerieten häufig in strafprozessualer Hinsicht zur Farce. Den Angeklagten waren Morde, zwingende Voraussetzung für eine Verurteilung, kaum nachzuweisen. Da existierten keine Zeugen mehr, da beriefen sich die Täter immer wieder auf Befehle. Eine Richterschaft sprach wieder Recht, die NS-Täter mit besonderer Nachsicht behandelte, vor allem bei der Strafzumessung. Nicht selten dauerte es Jahre, bis überhaupt ein Urteilsspruch gefällt werden konnte. Unter Staatsanwälten kursierte damals der makabre Spruch: »Ein Toter gleich zehn Minuten Gefängnis.«

Aber nicht nur KZ-Schergen konnten mit Nachsicht rechnen. Das zweifelhafte 131-Gesetz, das der Bundestag 1951 mit großer Mehrheit verabschiedet hatte und das auch das Bundesverfassungsgericht eine »soziale Tat« nannte, garantierte ehemaligen Nationalsozialisten die Wiederverwendung in bundesdeutschen Behörden, zumindest jedoch eine ordentliche Pension. Die Folge: Ob in Wirtschaft oder Industrie, an Universitäten, in der Bundeswehr oder der Justiz – überall saßen »bewährte Fachkräfte« der untergegangenen Nazi-Diktatur in leitenden Positionen. Während das 131-Gesetz von Beginn an mit Eifer angewandt worden war, hatte man es mit der »Wiedergutmachung« der Opfer nicht sehr eilig. Erst fünf Jahre nach dem 131-Gesetz wurde ein »Bundesentschädigungsgesetz« geschaffen, das allen Antragstellern eine peinliche Prozedur zumutete. Aus Mangel an Durchführungsbestimmungen konnten die Opfer der Nazis nur dann Zahlungen erhalten, wenn sie nachwiesen, dass sie keine Straftaten begangen, keiner Gewaltherrschaft Vorschub geleistet, keine Grundsätze der Vereinten Nationen und des Völkerrechts je verletzt – und keiner Nazi-Organisation angehört hatten. Vergleichbares mussten die wieder eingestellten und gut versorgten Nazi-Beamten nicht nachweisen, die »131er« waren völlig unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Lage zu versorgen. Wer im Entnazifizierungsnetz dennoch hängengeblieben war, hatte einen Entzug seiner Beamtenrechte nicht zu befürchten. Auch wurden Ernennungen und Beförderungen in der Zeit von 1933 bis 1945 berücksichtigt, freilich mit Einschränkungen: Ausschlaggebend war keineswegs die Unterzeichnung eines Todesurteils, sondern die Tatsache, ob während dieser Zeit gegen beamtenrechtliche Vorschriften verstoßen worden war.

So ging eine ganze Juristengeneration wohlversorgt in den frühzeitigen Ruhestand. Täter in Roben, die sich frei von Schuld fühlten und ihre nationale – und häufig auch persönliche – Vergangenheit für »bewältigt« hielten. So wurde der »Niedergang des Rechts nicht verarbeitet, sondern vergoldet«, wie es Rolf Lamprecht im Spiegel sarkastisch formulierte.

»Die Maschine soll wieder laufen«, hatte Adenauer gesagt. Und sie lief. Der Publizist Ralph Giordano hat in seinem Buch »Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein« die umfassende kollektive Verdrängung der NS-Vergangenheit eindrucksvoll beschrieben, also das sozialpsychologische Fundament der Aufbauleistung der Adenauer-Republik. Die geschichtsfälschende Formel »Wir waren Hitlers Opfer« hatte nicht allein in den Zeiten der Entnazifizierung Gebrauchswert für ehemalige Parteigänger und Gefolgsleute. Beinahe alle Deutschen sahen sich als Opfer. Keiner wollte mehr Täter gewesen sein, niemand den Tätern Hilfe geleistet, zugesehen und weggesehen haben. Alle waren nun mehr Opfer. Opfer der Zeit, Opfer der Partei, Opfer Hitlers und so weiter und so weiter. Ein Volk der Opfer. Adenauer unterstützte die Deutschen in dieser Schutzhaltung. Das große »Wiedereingliederungswerk der Täter« (Giordano) konnte so ohne erwähnenswerte Proteste stattfinden.

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