Kitabı oku: «Reisen»

Yazı tipi:


HELON HABILA REISEN

ROMAN

AUS DEM ENGLISCHEN VON SUSANN URBAN


Die Übersetzung aus dem Englischen wurde mit

Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt durch

Litprom e.V. - Literaturen der Welt

Titel der Originalausgabe:

Travellers

© 2019 Helon Habila

© 2020 Verlag Das Wunderhorn GmbH

Rohrbacher Straße 18, D-69115 Heidelberg

www.wunderhorn.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Gestaltung & Satz: Leonard Keidel

Foto Seite 2: © Heike Steinweg

Ebook ISBN: 978-3-88423-637-6

Für Sharon, Adam und Edna

Und für Sue

Vom Reisen gibt’s keine Rast für mich …

Alfred Lord Tennyson, Ulysses1

Es gehört zur Moral, nicht bei sich

selber zu Hause zu sein.

Theodor W. Adorno, Minima Moralia2

Inhalt

1. Buch EIN JAHR IN BERLIN

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

2. Buch CHECKPOINT CHARLIE

3. Buch BASEL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

4. Buch DIE DOLMETSCHER

5. Buch DAS MEER

6. Buch HUNGER

DANKSAGUNG

1. Buch

1

Wir kamen im Herbst 2012 nach Berlin und anfangs lief alles gut. Wir wohnten in der Nähe eines Parks in der Vogelstraße. Auf der anderen Straßenseite befand sich eine Apotheke, daneben ein Altersheim und ein Waiseninternat, ursprünglich ein Heim für ledige Mütter, die irgendwann weiterzogen und ihre Kinder zurückließen.

Das Internat bestand aus zwei düsteren Gebäuden – das eine deutlich jüngeren Datums – hinter einer hüfthohen Mauer aus Betonziegeln und riesigen Tannenbäumen. Abends tobten die Kinder durch den Park, hüpften auf Trampolinen und spielten Ball, glockenhell durchschnitten ihre Stimmen die kühle Luft. Morgens saßen sie im Hof hinter der Mauer und schnitzten unter den aufmerksamen Augen ihrer Betreuer aus Holzstücken Tiere oder flochten Weidenkörbe. Einmal, als Gina und ich früh unterwegs waren, entdeckte uns einer der Jungen, er war im Alter zwischen acht und zehn Jahren, kam angesaust, lehnte sich über die niedrige Mauer, machte fast einen Purzelbaum darüber, während er uns mit strahlendem Gesicht zuwinkte und „Schokolade! Schokolade!“ rief. Ich wandte den Blick ab, ignorierte ihn. Gina blieb stehen und winkte zurück: „Hallo!“ Wie seine Augen in dem kleinen Gesichtchen immer größer wurden! Überrascht und begeistert rannte er zu seinen Kameraden zurück. Das wiederholte sich jedes Mal, wenn er uns sah, und Gina tat ihm stets den Gefallen, aber ich gewöhnte mich nie daran. Gewöhnte mich weder an das dünne, erwartungsvolle Stimmchen, noch daran, dass die anderen Kinder, ungefähr ein Dutzend, innehielten und ihre gespenstisch ähnlichen Blondschöpfe hoben, mit ihren blauen Augen beobachteten, wie er winkte und „Schokolade!“ rief, als hinge sein Leben davon ab.

Mark lernte ich kennen, als er mit einem von Ginas Flyern in der Hand zu uns kam. „Ich komme deswegen“, sagte er und schwenkte den gelben Flyer, mit welchem Gina für ihre Porträtserie mit dem Titel Reisende echte Migranten als Modelle suchte. Fünfzig Euro pro Sitzung, gesponsert vom Stipendiumsgeld. Ich zeigte in Richtung Gästezimmer, das sie zum Atelier umfunktioniert hatte. Kurz darauf waren ihre Stimmen bis ins Wohnzimmer zu hören, ihre höflich, aber bestimmt, seine fragend, voller Einwände. Gina hatte ihn abgelehnt und ich hätte ihm sagen können, er brauche sich nicht ins Zeug zu legen, sie werde ihre Meinung nie und nimmer ändern. Später, als ich sie nach dem Grund fragte, meinte sie ohne weitere Erklärung, er passe nicht. Wahrscheinlich sah er zu jung aus, war sein Gesicht zu glatt, ohne den Charakter, den nur Zeit und Erfahrung verleihen. Die Woche davor hatte sie eine Frau mit ihrer vierjährigen Tochter gemalt. Während Gina ihre Staffelei aufbaute, wartete die Frau im Wohnzimmer, immer noch in ihrem Wollmantel, einem alten, schäbigen Teil, und als ich sie fragte, ob ich ihr den Mantel abnehmen könne, schüttelte sie den Kopf. Ich wandte mich an ihre Tochter, fragte, ob sie etwas trinke wolle, da zog die Frau ihr Kind näher zu sich heran. Vor zwei Wochen hatte ihr ein Mann, Manu, Modell gesessen, der mir erzählte, in seinem früheren Leben sei er Arzt gewesen, jetzt arbeite er als Türsteher in einem Nachtclub und warte auf die Entscheidung über seinen Asylantrag. Sein Gesicht war faltig, vor der Zeit gealtert, und ich wusste, Gina würde von diesen Falten entzückt sein, jede einzelne ausdrucksstarkes Zeugnis dessen, was er zurückgelassen hatte, der Grenzen und Flüsse und Wüsten, die er durchquert hatte, um nach Berlin zu kommen. Ebenso wäre sie von den Händen der Frau entzückt, mit denen diese den Arm ihrer Tochter umklammerte, rau und trocken, mit eingerissenen Nägeln, höchstwahrscheinlich ruiniert von der Arbeit in einer Hotelwäscherei oder Spülküche.

Mark kam aus dem Atelier und stand vor der Wohnzimmertür, lächelte gequält, in der einen Hand hielt er seine rote Jacke, in der anderen immer noch den gelben Flyer. Gina in ihrem farbbespritzten Overall stand bereits wieder an der Staffelei, tupfte mit zusammengekniffenen Augen an ihrem Gemälde herum.

Ich bot ihm an, mit ihm zur Bushaltestelle zu gehen. Ich hatte den ganzen Tag lesend in der Wohnung verbracht und musste mir die Beine vertreten. Vielleicht tat er mir auch leid, weil er den Weg umsonst gemacht hatte, eventuell machte mich neugierig, dass er anders, an ihm etwas Besonderes war, was wohl auch Gina bemerkt und weshalb sie ihn abgelehnt hatte. Genau diese Ausstrahlung hatte auf mich die gegenteilige Wirkung, weckte mein Interesse. In diesem Moment machte Mark einen deprimierten Eindruck, als hätte er die fünfzig Euro bereits verplant gehabt, fünfzig Euro, die er nun nie zu Gesicht bekommen würde. Ich fragte ihn, ob er schon einmal Modell gesessen habe. Er verneinte. Wer habe das schon, von professionellen Modellen abgesehen, außerdem sei er der Meinung gewesen, sie brauche Leute von der Straße, ganz normale Leute, und er sei doch normal.

Ich ging vor Mark die Treppe ins Erdgeschoss hinunter aus dem Haus. Ich wollte ihn nur bis zur Bushaltestelle begleiten und anschließend, wie schon des Öfteren einen Spaziergang um den kleinen See auf der anderen Straßenseite machen. Doch als wir ankamen, fuhr der Bus gerade los und ich beschloss, mit ihm auf den nächsten zu warten und als der nicht kam und Mark meinte, er wolle zu Fuß gehen, sagte ich aus einer Laune heraus: „Ich komme mit.“ Es war Frühling und im Westen drückte sich die Sonne herum, wollte so gar nicht untergehen, ihre schrägfallenden Strahlen waren für die Jahreszeit ungewöhnlich warm und hell. Perfektes Wetter. Wir mischten uns unter die Menge, die aus der S-Bahn geströmt kam, gingen am Wurststand, an einem erdbeerfarbenen Erdbeerstand vorbei. Die Berliner saßen Eis essend unter Sonnenschirmen. Vor uns kreischte eine winzige, dralle Dame in roter Jacke „Nein! Nein!“ in ihr Handy, während sie auf dem Gehweg auf und ab spazierte, dabei sämtliche Passantenblicke niederzwang. Und je mehr die Leute glotzten, desto schriller wurde ihre Stimme, für einen kurzen Moment war sie berühmt. „Nein, ich weiß es nicht“, schrie sie und sonnte sich in ihrer Prominenz.

Wir kamen an einer Bank vor einem Kaiser’s vorbei, auf der ein Roma-Paar saß, die abgestumpften Kulleraugen auf ihre Tochter gerichtet, die mit einer Schale in der Hand auf dem Gehweg stand. Mark murmelte mit gesenktem Kopf vor sich hin.

„Was für ein schöner Tag“, sagte ich. Er nickte. Ich begleitete ihn zwar, aber ihn aufzumuntern war nicht meine Aufgabe. Direkt vor uns gingen zwei Frauen Hand in Hand im selben Tempo wie wir, uns immer ein paar Schritte voraus, sie trugen die gleichen Jeansjacken, ihre schlanken, wohlproportionierten Körper und ihr bei jedem Schritt wippendes Blondhaar waren ein hübscher Anblick. Die beiden passten zu diesem Tag. Die eine war älter, vierzig vielleicht, die andere sah aus wie zwanzig, Mutter und Tochter oder Schwestern, Freundinnen oder ein Paar. Ihre ineinander verschränkten Hände verströmten im Kontrast zu den grob quietschenden Reifen und dem Hupen auf der Straße große Behutsamkeit.

Auf beiden Straßenseiten kreischte Neonschrift von Ladenfronten: McFit, McPaper, McDonald’s – ein sehr amerikanischer Firnis auf den eher traditionellen Gassen und Seitenstraßen, den verschlafenen Vierteln, die still vor sich hin pulsierten wie die unter Beton und Asphalt begrabenen Straßenbahnschienen. In unseren ersten Berliner Monaten waren Gina und ich durch diese schmaler werdenden Straßen gewandert, die vom Kurfürstendamm wegführten, immer weiter, vorbei an Handwerksbetrieben, Suppenküchen, Blumenläden und Einfamilienhäusern, in denen Kinder und Eltern um den Abendbrottisch saßen. Noch vor wenigen Monaten waren diese Straßen leer und schneebedeckt gewesen, in jedem entlaubten Baum, vor jedem Laden hing grellbunte Weihnachtsbeleuchtung, wie Talismane gegen die bösen Wintergeister. Am George-Grosz-Platz verschwanden die beiden Frauen in einer Parfümerie. Mark und ich setzen uns und beobachteten die gelben Doppeldeckerbusse, die anhielten und abfuhren, wieder anhielten, die ein- und aussteigenden Menschen. Schweigend saßen wir da, genossen die letzten Sonnenstrahlen des Tages. Angesichts der Leute, die vor den Straßencafés saßen, Kaffee tranken und rauchten, meinte Mark: „Das könnte genauso gut in Paris sein.“ Nach ungefähr einer halben Stunde seufzte er und stand auf, winkte zum Abschied und ging mit langsamen Schritten zur U-Bahnstation Adenauerplatz. Ich fragte mich, was er wohl für eine Geschichte hatte, ob ich ihn wiedersehen würde.

Gedankenverloren blieb ich im Dämmerlicht sitzen. Ein Mann mit feistem Gesicht rannte unbeholfen hinter einem M29-Bus her, zu spät. Er blieb stehen, wedelte frustriert mit den Armen, umflattert von seinem offenen Trenchcoat. Als er sich umdrehte, stellte ich fest, dass es kein Mann, sondern eine Frau war, die Hängebacken missmutig verkniffen. Eine junge Frau stieg auf hohen Absätzen aus dem M19-Bus und setzte sich auf die Bank neben mir. Sie holte Lippenstift und Spiegel heraus. Als sie beides in ihre Tasche zurückstopfte, sah sie auf und unsere Blicke trafen sich. Sie lächelte und dann war sie weg, mit einem für die Leute hier typischen Affenzahn. Ich hätte ein Gespräch anfangen können, hätte „Hallo“ sagen können und vielleicht hätten wir dagesessen und uns unterhalten, elegant wie Pariser. Hätten vielleicht über George Grosz geredet, den Namenspatron des Platzes, Maler, Intellektueller, Rebell, der den Ersten Weltkrieg überlebte und im Zweiten den Nazis Paroli bot, nach Amerika floh, nur um heimwehkrank nach Berlin zurückzukehren und nach einer durchzechten Nacht eine Treppe hinunterzustürzen.

„Ein schöner Tod“, hätte sie vielleicht gesagt. Während ich ihr nachsah, spürte ich die unüberbrückbare Kluft zwischen mir und dieser Stadt größer werden. Selbst wenn ich ihre Sprache spräche, die Sprache dieser Stadt, würde die junge Frau mich verstehen? Vor einem Monat wollte ich bei der Post einen Brief aufgeben und die Frau am Schalter, eine flachsblonde Schreckschraube, hatte mich angestarrt, sich geweigert, mit mir Englisch zu sprechen, und wir lieferten uns ein Blickduell, während die Schlange hinter mir immer länger wurde. Sie brüllte mich auf Deutsch an und ich antwortete auf Englisch, dass ich Briefmarken kaufen und meinen Brief aufgeben wolle, bis schließlich vom Ende der Schlange eine Frau nach vorn kam und dolmetschte. Es war eine verkrampfte Pattsituation und ich schwitzte, als ich auf die Straße trat. Eine Woche später nahm ich Deutschunterricht.

2

„Du musst mitkommen, Darling“, sagte Gina vor einem Jahr in unserer Wohnung in Arlington. „Ich kann das nicht ohne dich.“ Sie hatte das renommierte Berliner Zimmer-Kunststipendium erhalten. Ein Jahr Berlin. Vielleicht war das genau das Richtige, um aus unserem festgefahrenen Leben, unserem Alltag auszubrechen. Jedes Jahr wählte die Zimmer-Jury zehn Künstler aus aller Welt aus – Schriftsteller und Maler, Filmregisseure und Komponisten – und in diesem Jahr war Gina eine von zwei Stipendiatinnen aus den USA. Sie war Juniorprofessorin an der Universität von Arlington, ich brachte in einem Hinterzimmer der Stadtbibliothek koreanischen Einwanderern Englisch bei. Außerdem arbeitete ich an meiner Hochschule als wissenschaftlicher Assistent, damit waren die Studiengebühren abgedeckt. Beim Unterrichten ging ich äußerst besonnen vor; jedes Mal, wenn ich vor den erwartungsvollen jungen Gesichtern stand, fühlte ich mich wie ein Hochstapler. Würden sie alles, was ich ihnen erzählte, für bare Münze nehmen, und welches Recht hatte ich, welches Wissen, welche Erfahrung, um mich als Autorität zu gerieren? Ich war erst fünfunddreißig, vielleicht wenn ich fünfzig wäre, mehr gereist wäre, mehr erlebt hätte …

„Es ist nur ein Job, Darling“, sagte Gina, pragmatisch wie immer. „Du siehst das zu kritisch.“

Oder vielleicht liege es auch an meiner Angst, mich festzulegen, mutmaßte Gina und bezog sich nicht nur auf meine halbfertige Dissertation, sondern auch auf unser Vorhaben, nach unserer Promotion zu heiraten. Sie hatte ihre bereits. Drei Jahre lang hatten wir in ihrer winzigen Studentenbude mit Blick auf einen Parkplatz zusammengelebt. Aber nein, sagte ich, das liege nur an meinem migrantischen Charakter, der mich auf ein Zuhause, auf Beständigkeit in dieser neuen Welt hoffen, aber auch vor langfristigen Bindungen zurückscheuen und ständig Fluchtpläne schmieden lasse.

Wir heirateten dann doch noch und die Ehe war gut, stabil, wir hatten einen geregelten Tagesablauf wie die meisten Ehepaare. Wir wachten gemeinsam auf, gingen zur Arbeit, abends saßen wir auf unserem schmalen Balkon und blickten auf den Parkplatz, tranken eine Flasche Wein, manchmal gingen wir ins Kino oder essen und vielleicht zögerte ich aus diesem Grund, Berlin zuzusagen: Was, wenn wir hingingen und die Dinge zwischen uns anders wurden? Was, wenn uns Berlin mehr veränderte als angenommen? Mir war bewusst, dass Gina sich, abgesehen von seinem Prestige und der Wichtigkeit für ihre Karriere, auch deshalb für das Zimmer-Stipendium beworben hatte, weil ich über afrikanische Geschichte des 19. Jahrhunderts, mit Schwerpunkt Berliner Konferenz 1884, promovierte, und was würde mich mehr zur Recherche animieren als ein Jahr Berlin? Trotzdem zögerte ich, denn bekanntermaßen ist jede Abreise ein Tod, jede Rückkehr eine Wiedergeburt. Die meisten Veränderungen sind nicht geplant und hinterlassen unweigerlich eine Narbe.

Zwei Monate nach der Hochzeit wurde Gina schwanger. Das war so nicht geplant und ganz bestimmt hatten wir nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, dass die Schwangerschaft im siebten Monat enden könnte. Beide waren wir am Boden zerstört, aber Gina hatte sich verändert. Sie ging nicht mehr aus dem Haus, weinte den ganzen Tag, aß nicht mehr. Ich konnte nicht viel tun; ich saß neben ihr, hielt ihre Hand, erinnerte sie daran, dass wir jung waren und es noch oft probieren konnten. Ich las ihr Gedichte vor, was ich vor unserer Heirat häufig getan hatte. Ihr zweiter Name war Margaret und ich rezitierte Gerard Manley Hopkins’ Frühling und Herbst: Margaret, ist dein Herz so taub, / weil in Goldengrove nun gilbt das Laub? Normalerweise munterte sie das auf und sie lächelte dann kopfschüttelnd, diesmal jedoch nicht. Sie drehte das Gesicht zur Wand und rollte sich wie ein Fötus zusammen, machte sich winzig klein. Gina war immer stark gewesen, vielleicht stärker als ich, ganz sicher dynamischer als ich, und nun erlebte ich sie zum ersten Mal ganz hilflos. Wie plötzlich und unerwartet alles anders geworden war, gerade noch waren wir ein normales Ehepaar gewesen, jung, die Zukunft vor uns, im nächsten Moment vom Unglück gebeutelt, am Boden zerstört und hilflos.

Irgendwann fuhr sie zu ihren Eltern nach Takoma Park und kehrte nicht zurück; am nächsten Tag kam ihre Mutter, warf Ginas Sachen in eine Tasche und sagte, Gina müsse sich ausruhen, erholen, fügte sie hinzu. Ihr Verhalten deutete darauf hin, dass sie mir die Schuld am Zusammenbruch ihrer Tochter gab. Mit dem Vater kam ich besser aus, einem emeritierten Professor, der in den Achtzigern dank eines Fulbright-Stipendiums ein Jahr in Nigeria verbracht hatte und auf dieses Jahr voller Zuneigung zurückblickte. Ich hockte allein und einsam in unserer Zwei-Zimmer-Wohnung und rief Gina jeden Morgen an, wollte wissen, wie es ihr ging, und herausfinden, wann sie zurückkam. Und, da ich nichts anderes zu tun hatte, als vor dem Fernseher Däumchen zu drehen, fing ich an zu trinken. Zuerst trank ich nur abends, dann nachmittags, schließlich morgens. Ich konnte diese Abwärtsspirale aus eigener Kraft nicht stoppen.

Gina blieb sechs Monate bei ihren Eltern und in dieser Zeit bewarb sie sich für das Zimmer-Stipendium. Auf den Tag sechs Monate, nachdem sie gegangen war, betrat sie aufgeregt unsere winzige Wohnung, ihre Augen glänzten hoffnungsvoll, als sie mir die Antwort-E-Mail zeigte. An diesem Abend fuhr sie nicht zu ihren Eltern. Wir hielten uns die ganze Nacht umfangen. Berlin. Vielleicht war das die Lösung für uns. Ein Ausbruch aus unserem auseinanderbrechenden Leben.

3

„Sogar in Berlin sehne ich mich nach Berlin“, sagte Mark gern. Er lebte mit seinen drei Freunden Stan, Eric und Uta in Kreuzberg in einer leerstehenden Kirche an der Spree. Sie war schief, wirkte, als könnte man sie mit der Fingerspitze umstupsen. Eines dieser verfallenen Bauwerke, die man in Berlin gelegentlich sieht, vom Krieg verschont, von der Abrissbirne übersehen und die sich neben neueren Gebäuden seltsam ausnehmen. Die Barockfassade samt ihrem Kirchturm mit gedrehter Spitze lag hinter einem engmaschigen Drahtzaun, der das Gemäuer von den Nachbarhäusern und vorüberfahrenden Autos abschirmte. Die meisten Türen und Fenster fehlten. Im Innenhof trieb der Wind wie ein ruheloser Geist Papierfetzen und Bierdosen über den wild wuchernden Rasen auf den Gehweg. Mark und seine Freunde hatten das Gebäude von einer anderen Gruppe „Alternativer“ übernommen, die auf der Suche nach größeren Herausforderungen im Kampf gegen das Establishment nach Stockholm weitergezogen war, nachdem ihnen Berlin zu zahm geworden war.

„Ich musste die Kirche bei unserem Einzug erst einmal entwidmen“, sagte er. „Es spukte nämlich. So etwas spüre ich.“ Es war einer dieser haarsträubenden, nebenbei geäußerten Kommentare, die sich bei jedem anderen verrückt angehört hätten, aus Marks Mund jedoch normal, geradezu vernünftig klangen. Wir waren uns, der Frühling war schon fast vorbei, in einer Galerie wiederbegegnet. Wenn sie nachts durchgearbeitet hatte, schlief Gina tagsüber und stand erst spätnachmittags auf, sah trotzdem erschöpft, fast durchsichtig aus, schnappte sich aus dem Kühlschrank ein Sandwich und machte sich sofort wieder an die Arbeit. Auf mich allein gestellt, ließ ich mich von einem Ort zum andern treiben, hauptsächlich Galerien und Bibliotheken. Von der fraglichen Ausstellung hatte ich durch eine Mail erfahren, die Gina von den Zimmer-Leuten bekommen hatte. Die Galerie stellte Porträts aus, die südafrikanische Fotografen während der Apartheid gemacht hatten. Am Eingang drückte mir eine junge Frau ein Heftchen in die Hand, auf dem in fetter Helvetica der vollmundige Titel der Ausstellung stand: Apartheid, Exil und proletarische Internationale. Auch Fotografien und Videoinstallationen hiesiger schwarzer Künstler waren zu sehen. Ich ließ mich von Raum zu Raum treiben, las die Texte unter den Porträts – die meisten Fotografien waren aus den Siebziger und Achtziger Jahren und stammten von Südafrikanern, die in Ost- und Westberlin Exil gefunden hatten. Ich betrachtete die ernsten Gesichter. Was für eine Ironie der Geschichte, dass sie ausgerechnet hier vor Verfolgung und Apartheid Beistand gesucht hatten, in einer Stadt, in der nur ein paar Jahrzehnte zuvor die Nazis eine ganz besondere Hetzjagd veranstaltet hatten. Wie kamen sie mit dem Essen zurecht, der neuen Sprache, dass sie so sichtbar anders waren, mit dem klirrend kalten Winter des Exils? Die meisten von ihnen waren nach Südafrika zurückgekehrt, diejenigen, welche die Bitterkeit des Exils überlebt hatten, waren dort nun die neuen Führer, in die Positionen der weißen Unterdrücker gerückt, die ihrerseits vom düsteren Kapitel der Geschichte ins Exil verbannt worden waren.

Bald reichte mir der Anblick der einander ähnelnden grauen, freudlosen Gesichter und ich ging ins Untergeschoss zu den Videoinstallationen. Offenbar hatte ich den Raum ganz für mich, es fühlte sich etwas gespenstisch an, mitten im Raum zu stehen, umgeben von mehreren flimmernden Monitoren, auf denen Leute tonlos ihre Münder öffneten und schlossen. Ich nahm Platz in einer der Kabinen und setzte einen Kopfhörer auf. Plötzlich bekamen die stummen Gesichter Stimmen. Sie sprachen deutsch. Es riss mich beinahe hoch, als eine Hand meine berührte. Ich drehte mich um. Aus dem dunklen Raum schälte sich neben mir eine Gestalt heraus, deren rote Jacke im Dämmerlicht mit dem roten Sofa verschmolzen war, auf dem wir saßen, daher hatte ich den Mann übersehen. Er hielt mir die Hand hin. Sie war schlank und weich und kurz glaubte ich, er wäre eine Frau. Er bemerkte, wie ich stutzte, und lächelte. Er war es wohl gewohnt, für etwas gehalten zu werden, was er nicht war. Seine Hand noch in meiner sagte er: „Ich bin Mark.“

Es war der von Gina abgewiesene Porträtkandidat. Er erkannte mich ungefähr gleichzeitig. Das Schweigen hing eine Weile zwischen uns, dann deutete ich auf die drei Bildschirme. „Was soll das darstellen?“

Die Monitore bildeten ein Triptychon: links von uns war eine Frau zu sehen, rechts ein Mann und in der Mitte lief ein alter Film. Die beiden Gesichter links und rechts unterhielten sich offenbar über den Film, der lief. Alles auf Deutsch. „Bei dem Film handelt es sich um Whity von Rainer Werner Fassbinder. Und die beiden unterhalten sich darüber, wie darin die Rassenfrage behandelt wird.“ Fassbinder kannte ich, aber Whity hatte ich noch nicht gesehen.

„Die Frau da“, sagte Mark und zeigte auf die Frau mit dem Lockenkopf, „hat die Installation gemacht. Sie ist halb Nigerianerin.“ Mark war, wie sich später herausstellte, Filmstudent oder es zumindest einmal gewesen – bei Mark war nichts eindeutig. Wir saßen eine Weile in der dunklen Kabine und starrten auf den Film, dessen bedeutungslose deutsche Wörter aus dem Kopfhörer in meine Ohren drangen. Mark setzte seinen Kopfhörer ab und bot an, den Inhalt des Films zusammenzufassen; es war beeindruckend, mit welcher Intensität er das tat. Anschließend bedankte ich mich und fragte, ob ich ihn an der Bar auf ein Bier einladen könne. Mark legte den Kopfhörer weg und setzte seine Baseballkappe auf. Die Bar befand sich ebenfalls im Untergeschoss, gleich neben dem Ausstellungsraum, und war bis auf ein Paar, das auf einem Sofa in der Ecke saß, leer. Wir bestellten Bier.

„Woher kommst du?“, wollte er wissen.

„Ursprünglich aus Nigeria.“

„Kommt deine Frau auch aus Nigeria?“

„Nein, aus den USA.“

Er war Malawier, lebte aber seit mehr als fünf Jahren in Deutschland.

„Na dann, prost.“ Ich hob mein Glas.

„Auf Afrika“, sagte er.

„Auf Afrika.“

Ich versuchte, sein Alter zu schätzen. Irgendwas zwischen fünfundzwanzig und dreißig. Die Baseballkappe bedeckte den oberen Teil seines Gesichts und da er kleiner war als ich, musste ich mich dauernd hinabbeugen, um ihm in die Augen zu sehen. Er war meist im Aufbruch begriffen, von Stockholm nach Stuttgart nach Potsdam gezogen und nun in Berlin gelandet. Berlin gefalle ihm am besten.

„Sogar in Berlin sehne ich mich nach Berlin“, erklärte er mir an diesem Tag. Er war nur noch theoretisch Student, nicht mehr immatrikuliert, was mit den Studiengebühren zu tun und Auswirkungen auf seinen Aufenthaltsstatus hatte oder demnächst haben würde, weshalb er mit einigen Freunden die alte Kirche in Kreuzberg besetzt hatte. Für ein Taschengeld jobbte er gelegentlich für crew.com, einer Organisation für arbeitslose Schauspieler und Filmtechniker. Aber sein letzter Einsatz dort war schon länger her. Das alles erzählte er mir nicht damals in der Bar der Galerie, sondern später, auf mehrere Treffen verteilt. Er sah recht heruntergekommen aus, fast verwildert, seine schwarzen Converse waren dreckig und verschlissen, aber die von ihm ausgehende Lässigkeit zog mich an.

Als ich nach meinem zweiten, seinem dritten Bier meinte, ich müsse jetzt los, schlug er vor: „Komm, ich stell dich meinen Freunden vor, wir wohnen gleich um die Ecke.“

Ich folgte ihm hinaus in die Nacht. Mark schritt selbstbewusst voraus, einmal schlängelte er sich zwischen den Autos auf die andere Straßenseite durch, hob dabei matadorgleich die Hand, um einen Wagen zum Stehen zu bringen, der ihn fast umgefahren hätte. Unberührt vom lauten Fluchen der angetrunkenen Fahrer blieb er auf dem gegenüberliegenden Gehweg stehen und winkte mich ungeduldig herüber. Ich wartete, bis die Ampel auf Grün schaltete, und war nicht sicher, ob ich seine halsbrecherische Selbstsicherheit beeindruckend oder erschreckend finden sollte.

„Das ist ja eine Kirche“, entfuhr es mir halb fragend, halb konstatierend, als er das Törchen öffnete und mich hereinwinkte.

„Ja, hier leben wir momentan. Vorübergehend.“

Alle drei Mitbewohner waren anwesend. Eric, Stan und Uta. Ich nickte ihnen zu und setzte mich neben Mark. Auf Marks Bemerkung, ich sei ebenfalls Afrikaner, erzählte mir Uta sofort, ihre Mutter stamme aus Kamerun, ihr Vater sei Deutscher. Sie lag auf dem Sofa, die Beine in Stans Schoß, Stan neben ihr saß halb, lag halb und seine langen Dreadlocks fielen über seine Schultern und die Sofalehne. Wir befanden uns im sogenannten Wohnzimmer, das im Keller lag und wo früher die Sonntagsschule abgehalten worden war. An einer Wand hing eine Tafel, davor stand ein hölzernes Lesepult. Auf einem zerkratzten Kieferntisch, in dessen Maserung sich Schmutz abgelagert hatte, standen Bierflaschen. Mark machte mir eine auf. Eric hielt in der einen Hand einen Joint, mit der anderen surfte er mit einem Laptop im Internet.

„Was machst du so?“, fragte Uta in ihrem stockenden Englisch.

„Daheim in den USA unterrichte ich. Hier auch.“ Einmal die Woche gab ich den Zimmer-Fellows, die kein Englisch sprachen, Englischunterricht. Uta studierte an der Freien Universität und schrieb gerade an einem Roman.

„Einem Roman?“

„Der Roman ist tot“, verkündete Mark. „Das Kino ist die Gegenwart und die Zukunft.“

„Ist das dein Ernst?“

„Ein Film ist wie ein Roman, bloß ohne die langweiligen Stellen.“

Ich zog am Joint, der irgendwie in meine Hand gewandert war. Mir wurde schwindlig.

Das Gespräch mäanderte dahin, versiegte in nachdenklichem, nie bedrückendem Schweigen, ehe es wieder aufgenommen wurde und in eine völlig andere Richtung floss. Eric erzählte von der letzten Demonstration, an der sie teilgenommen hatten. Sie waren in Davos und bei verschiedenen G20-Treffen überall auf der Welt gewesen.

„Gegen was demonstriert ihr?“, wollte ich wissen.

Überrascht starrten sie mich an.

„Mann, gegen alles natürlich“, sagte Stan.

„Gegen alles?“

„Wir sind der Meinung, dass es eine Alternative zu der Art und Weise geben sollte, wie die Welt momentan regiert wird“, sagte Eric.

„Eine Minorität, die über die Majorität des Geldes verfügt“, ergänzte Uta.

„In Asien müssen Millionen unter menschenverachtenden Bedingungen schuften. In vielen Ländern Afrikas herrscht Krieg“, sagte Stan.

„Im 21. Jahrhundert sollte kein Kind mehr verhungern oder durch Krankheit sterben müssen“, sagte Uta.

Ich nickte. Ich hatte schon andere junge Leute wie sie in Berlin getroffen, bei Lesungen, in der S-Bahn, Männer und Frauen in ausgefransten Pullovern und abgerissenen Jeans, die meistens in einer Kommune in leerstehenden Gebäuden wohnten, eine alternative Lebensweise vertraten, sich oft nicht einig waren, wie nun diese Alternative genau aussehen sollte, eben eine Alternative zum Istzustand, sonst wäre die Sache ja sinnlos. Ich trank und rauchte, hörte zu. Auf einmal stellte sich Mark hinter den Altar und las eine Bibelstelle vor. Sein Vater war Pfarrer und er machte sich über dessen Predigtstil lustig. Mit erhobenen Händen stand er da, verdrehte die Augen und donnerte: „Der Sommer ist dahin, die Ernte ist vergangen, und uns ist keine Hilfe gekommen …“

Die anderen klatschten. Ich war mir nicht sicher, ob in Marks Stimme Selbstironie mitschwang, oder ob sich in seinem Gesicht nicht sogar echter Schmerz abzeichnete, als er sich zum Applaus verbeugte, bevor er sich wieder hinsetzte. Sie erzählten, wie er, als er vor einem Monat hier eingezogen sei, die Kirche entwidmet habe. „Ein Ort, der heimgesucht war. Ich konnte die Geister überall spüren“, erklärte er.

„Wie entwidmet man eine Kirche?“, wollte ich wissen.

„Mit Alkohol. Man gießt Alkohol in die Ecken und liest bestimmte Stellen, von deren Wirkung nur Eingeweihte wissen, laut aus der Bibel vor.“

Selbst in meinem angesäuselten und angekifften Zustand spürte ich, wie vergänglich diese Phase war. Wie lange noch, bis sie die Welt so sahen, wie sie wirklich war: niederträchtig, grausam, gleichgültig und nicht zu verändern? Wie lange würde es dauern, bis sie aus ihrem bröckelnden Elfenbeinturm auszogen und sich der restlichen Menschheit anschlossen, die, wie Flaubert sagt, in einem Meer von Scheiße schwimmt, das erbarmungslos an die Mauern jedes jemals erbauten Elfenbeinturms schlägt. Eines Tages würden sie sich rasieren und Banker werden oder zum mittleren Management gehören, BMW und Mercedes fahren; sie würden eine Familie gründen und sich mit leeren Machtsymbolen umgeben, genau jenen Dingen, die sie jetzt verhöhnten. Aber jetzt, jetzt in diesem Moment waren sie frei und rein wie der Morgentau auf einem Blütenblatt und ich fühlte den Drang, mich vorzubeugen und den Duft dieser Blume einzuatmen.

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