Kitabı oku: «Reisen», sayfa 2

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Deshalb ging ich immer wieder nach Kreuzberg zu dieser heruntergekommenen Kirche mit der verdrehten Spitze. Ich ging sogar auch dann noch hin, als ich herausfand, dass ihre Bewohner überhaupt nicht zum geknechteten Proletariat gehörten, mit dem sie sich so sehr identifizierten: Utas Eltern waren Ärzte aus dem ehemaligen Ost-Berlin, Stan bastelte an der Humboldt-Uni an seiner Dissertation, er war im Senegal aufgewachsen, wo sein Vater für einen internationalen Lebensmittelkonzern arbeitete, seine Mutter war Malerin. Auch waren sie nicht so jung wie sie wirkten. Keiner von ihnen war unter dreißig, Mark war mit genau dreißig der Jüngste, Uta einunddreißig, auch wenn sie wie zwanzig aussah, Stan zweiunddreißig, Eric fünfunddreißig und verheiratet, lebte allerdings getrennt von seiner Frau, die mit der gemeinsamen Tochter in Mannheim wohnte.

4

Dann wurde es Mai. Mark und seine Freunde luden mich zur Mai-Demonstration ein. „Das wird dir gefallen“, sagte Mark. Die Proteste am 1. Mai seien eine Tradition, die ich einmal miterleben müsse, meinten sie. Junge Leute, die Ladengeschäfte und Regierungsgebäude stürmten, Autos umwarfen und sie gelegentlich auch anzündeten, um den Status quo anzuprangern.

An diesem Tag ging die Kreuzberger Polizei frühzeitig auf Streife, schwärmte vom Hermannplatz bis zum Moritzplatz aus. Sie trug Schutzausrüstung samt kugelsicheren Westen, riegelte mit Streifen- und Mannschaftswagen einige Straßen ab, zu denen nur noch Anwohner mit Ausweis freien Zugang hatten. Um diese Absperrungen zu vermeiden, traf ich rechtzeitig vor Demonstrationsbeginn bei der Kirche ein. Alle standen schon in Stiefeln und Jeans abmarschbereit an der Tür. Mark unterhielt sich mit einer jungen Frau, die ich noch nie gesehen hatte, seiner Freundin Lorelle. Ich musste mich zusammenreißen, um die Nadeln und Ringe, die sie in Lippen, Nasenflügeln, Wangen und Augenbrauen trug und ihr Gesicht wie ein Nadelkissen aussehen ließen, und ihr Zungenpiercing nicht offen anzustarren. Das musste doch wehtun. Bestimmt verbargen sich unter ihrem ausgebeulten Sweatshirt noch weitere Piercings. Auf ihrer linken Wange prangte ein Mandala-Tattoo, dessen Rosa- und Blautöne ihr Gesicht wie ein Neonlicht erleuchteten. Ihr Haar, auf einer Seite vollständig abrasiert, war über den blonden Ansätzen ebenfalls ein Mix aus rosa und blau. Ich gab ihr die Hand.

„Nett, dich kennenzulernen“, sagte sie. „Mark hat mir viel von dir erzählt.“

Ihr Händedruck war fest. Ihre Stimme entsprach so gar nicht ihrem Äußeren, warm und leise, mit starkem amerikanischem Akzent. Sie war Amerikanerin, jedoch in Heidelberg geboren. Ihre Eltern waren bei den US-Streitkräften, mittlerweile zurück in die Staaten versetzt, sie war hiergeblieben, weil ihr das Leben in Deutschland besser gefiel. Wie Mark studierte sie Film.

Wir gingen durch Parks und Nebenstraßen, wichen den herumfahrenden Mannschaftswagen und größeren Menschenansammlungen aus. Unser Ziel war ein türkisches Café, dessen Inhaber Schwarzen keinen Zutritt gewährte, weil er der Meinung war, es seien alle Illegale und Drogendealer. Eine erstaunlich große Menge hatte sich bereits davor versammelt. Junge Leute in Jeans, Stiefeln oder Turnschuhen, manche hielten Transparente hoch, andere ihre Handys, weil sie die Demo aufnehmen wollten, taten das auch während sie in die Sprechgesänge einstimmten. Wir schlossen uns an, warfen Steine auf die Polizisten, die sich schützend vor das Café gestellt hatten, dessen Inhaber hinter der Theke kauerte. Wir marschierten um den Block, immer wieder, brachten den Verkehr zum Erliegen. Gegen Mittag war ich müde, hungrig und allmählich gelangweilt. Drüben schwenkten Mark und Uta, die in ihrer abgeschnittenen Jeans und dem feuerroten Halstuch sehr hübsch aussah, nebeneinander ihre Plakate wie Köder in Richtung Polizei. Ich beschloss, eine Auszeit zu nehmen, ging über die Straße und bestellte in einer Bäckerei ein belegtes Brötchen und einen Kaffee. Gina hatte zweimal versucht, mich zu erreichen. Als ich das Haus um sechs Uhr verlassen hatte, hatte sie immer noch in ihrem Atelier gemalt und ich hatte ihr nicht gesagt, wohin ich ging. Ich rief sie an, doch sie nahm nicht ab – wahrscheinlich schlief sie. Draußen hatte sich in der kurzen Zeit, die ich in der Bäckerei gewesen war, die Demonstrantenmenge beinahe verdoppelt und die Anspannung ringsum stieg spürbar. Zeit, heimzugehen. Auf der Suche nach Mark, um ihm mitzuteilen, dass ich mich ausklinken würde, geriet ich plötzlich in eine Woge aus Körpern mit direktem Kurs auf die Polizisten, die in Reih und Glied mit erhobenen Schlagstöcken hinter ihren Schutzschilden standen. Steine, Flaschen und Dosen zischten über unsere Köpfe hinweg gegen die Schilde. Jemand rammte mir seine Schulter in den Rücken und ich stürzte. Als ich aufstehen wollte, stießen mir Knie ins Gesicht, traten mir Füße auf die Hände. Alles rannte, verfolgt von der Polizei. Mehrmals versuchte ich, mich aufzurichten, kam aber gegen die endlose Welle aus Knien und Beinen nicht an, die über mich hinwegrollte. Ich blieb am Boden, hypnotisiert von einem matt schimmerndem, im Gehweg eingelassenen Messingquadrat – einem der sogenannten Stolpersteine. Die waren mir schon öfter aufgefallen, ganze Lebensgeschichten standen darauf, Name, Lebensdaten, Tag der Deportation, Todesort. Vier Namen, die Hartmanns: Elisabeth, Markus, Lydia und Eduard. Alle kamen nach Sobibor, alle starben am selben Tag, am 5. Dezember 1944. Ich war geblendet vom Messingglanz, schockiert von der brutalen Gleichgültigkeit der Geschichte, hatte Tränen vom Tränengas in den Augen und konnte mich vor Erschöpfung nicht rühren. Jemand zerrte mich hoch und kurz wehrte ich mich, im Glauben es wäre ein Polizist, aber es war Mark. Er lächelte euphorisch. „Alles okay?“, fragte er. Ich stand auf. Meine Handflächen waren zerschunden und brannten, meine Hose hatte an den Knien Löcher.

„Alles gut.“

Aber schon war er wieder weg, schleuderte einen Stein auf die Polizeikette. Neben mir landete ein Tränengaskanister, der sofort von einem strubbelhaarigen Jugendlichen Richtung Polizei zurückgeworfen wurde, der Rauchbogen hing wie eine Gewitterwolke in der Luft. Rechts von mir rannte Lorelle direkt auf eine schildbewehrte Reihe Polizisten zu, nutzte ihr beträchtliches Gewicht als Rammbock. Natürlich wurde sie niedergeschlagen und zu einem Polizeibus geschleift, während sie kreischend um sich trat. Vom Tränengas benebelt, stand ich da, mir liefen Augen und Nase. Ich war allein auf einer winzigen Insel und um mich herum wütete und tobte das Meer in unbändiger Wut.

„Ich muss los“, erklärte ich Mark.

„Nein, jetzt noch nicht. Er ist da. Das ist unser historischer Moment“, sagte Mark und wedelte dabei mit den Armen. „Das ist unser Sharpeville, unser Agincourt.“

Fast hätte ich über seine Übertreibung gelacht. Welcher Moment, hätte ich gern gefragt, wird das hier tatsächlich die sogenannten Kapitalisten und Rassisten umstimmen und ewigwährende Liebe und Harmonie in die Welt bringen? Und trotzdem war ich wider Willen beeindruckt. „Mit deinem abgelaufenen Visum willst du nicht verhaftet werden. Komm, wir gehen“, sagte ich.

„Wo sind die anderen?“, fragte er.

„Ich weiß nicht. Lorelle haben sie abgeführt, das habe ich mitbekommen. Los jetzt.“

Wir entfernten uns, bogen aufs Geratewohl um diese Ecke, in jene Straße, bis Sirenen und Sprechgesang ein fernes Flüstern im Wind waren. Wir setzten uns in eine Kneipe und bestellten jeder ein Bier. Mein Handy klingelte, es war Gina, doch ich war zu müde und zu durcheinander, um ranzugehen. Wir tranken unser Bier aus, aber Mark war noch nicht in Aufbruchstimmung. Er bestellte ein zweites Bier.

„So muss es sein“, sagte er und schlug auf den Tisch. „Widerstand gegen das System.“ Wir tranken aus und bestellten noch eine Runde. Allmählich spürte ich, wie ich runterkam. Draußen gingen im Dämmerlicht die rauchgelben Straßenlaternen an. Der Tag war beinahe zu Ende. Ein Streifenwagen heulte vorbei, sein blitzendes Blaulicht vermischte sich mit dem Straßenlampengelb.

„Ich sollte nach Hause.“

„Ach, komm“, sagte Mark, der bereits betrunken wirkte, „ich geb noch eine Runde aus.“ Er bestellte einen doppelten Whisky.

„Für mich nicht. Beeil dich. Ich bring dich heim, dann bin ich weg.“

Auf dem Heimweg blieb Mark an einer Currywurstbude stehen. Ein junger Typ mit alkoholgerötetem Gesicht ließ sich, obwohl seine Freundin ihn am Arm weiterziehen wollte, neben uns auf die Bank fallen. Das Gesicht in den Händen beugte er sich vor. „Scheiße“, murmelte er unentwegt vor sich hin. Das Mädchen trug ein Cosplay-Outfit und viel Make-up, hatte ihre Augen mit Kajal auf mandelförmig geschminkt. Auf der anderen Straßenseite stand in einem düsteren Zugang ein Mann mit Hoodie, der die Vorübergehenden leise „Alles gut?“, fragte, ihnen dabei aber nie richtig in die Augen sah.

„Auf nach Hause, Mark.“

Da er nicht mehr gerade gehen konnte, legte ich seinen Arm über meine Schulter, musste mich dabei komisch verbiegen, weil er viel kleiner war als ich. So schwankten wir zur S-Bahn-Station. Als wir zur verlassenen Kirche kamen, war die Tür aus den Angeln gerissen und lag im Eingangsbereich. Die Lampen brannten. Die Stühle waren umgeworfen, Papiere auf Tischen und Boden verstreut.

„Verdammte Scheiße!“

„Was ist denn da passiert?“

„Keine Ahnung. Sieht aus wie eine Razzia.“

Mark ging von Raum zu Raum, stellte Stühle wieder hin und hob Bücher auf. Sein Zimmer lag am Ende des Flurs neben der Küche. Seine dünne Matratze war zerfetzt und beinahe durchgeschnitten. Sein Rucksack, der seine wenigen Habseligkeiten enthielt, lag geöffnet mitten im Zimmer.

„Was für Arschlöcher! Das war die Polizei, die hat uns schon seit einiger Zeit im Visier.“

„Wo sind die anderen?“

Achselzuckend sah er mich an. „Ich habe keine Ahnung.“

„Was willst du jetzt machen, wo willst du schlafen?“

„Ich komm schon klar.“ Besonders überzeugend klang das nicht.

„Warum gehst du nicht zu deiner Freundin?“

„Lorelle? Das geht nicht. Sie hat eine Mitbewohnerin. Aber he, mach dir keine Sorgen. Ich komm woanders unter. Ich komm klar.“

Ich wandte mich zum Gehen. Schwankend, den leeren Rucksack in der Hand, versicherte er mir, er komme schon klar, und dann fiel mir ein, dass er sowieso nicht bei Lorelle hätte unterschlüpfen können, weil sie festgenommen worden war. Ich war müde und zerschlagen, wollte nur noch heim, unter die Dusche und ins Bett.

5

Von Marks Verhaftung erfuhr ich erst eine Woche später, als ich bei der Kirche vorbeischaute. Sie wirkte anders als sonst, die Tür war wieder eingehängt und der Garten sah aus, als wäre jemand mit dem Rechen darüber gegangen. Unter einem Baum war sorgfältig Müll zusammengetragen worden, der nur noch in Abfalltüten gestopft werden musste. Auf mein Klopfen öffnete niemand. Ich drückte die Tür auf. Die schäbigen Sofas und Lampen waren verschwunden. Das Lesepult war noch vorhanden und mir fiel ein, wie Mark dahintergestanden und aus der Bibel vorgelesen, sich über seinen Vater, den Pfarrer, lustig gemacht hatte. Ich war traurig und auch ein wenig verletzt – sie waren ausgezogen, ohne mich zu informieren. Sie hatten meine Handynummer, zumindest Mark, er hätte mich ruhig anrufen können. Aber ihr Leben war ein einziges Provisorium, wahrscheinlich waren sie von der Polizei verjagt worden und hatten mittlerweile ein anderes Gebäude besetzt; vielleicht meldeten sie sich in ein, zwei Wochen, wenn sie sich dort eingerichtet hatten. Zumindest Mark. Mir ging auf, dass sie mir fehlten; mir fehlte es, abends, wenn Gina arbeitete, in der Kirche vorbeizuschauen und ihren Gesprächen zu lauschen, die sich mit allen möglichen Themen beschäftigten, vom Klimawandel über abgefeimte Politiker bis hin zu Flüchtlingen, auch wenn ich die vier arroganterweise insgeheim naiv und hoffnungslos idealistisch fand. Jetzt musste ich mir eingestehen, dass sie sich zumindest über Andere Gedanken machten, nicht nur über sich selbst, willens waren, die Polizei mit Steinen zu bewerfen und für ihre Ideale sogar ins Gefängnis zu gehen – wie viele Leute waren dazu fähig? Ganz bestimmt nicht meine egoistischen, hyperehrgeizigen Kommilitonen von früher und definitiv nicht Ginas hypersensible, geradezu narzisstische Künstlerkollegen des Zimmer-Stipendienprogramms, die wir regelmäßig bei Abendessen, Vernissagen und Lesungen trafen. Die ganze Woche über wartete ich auf Marks Anruf. Hatte er überhaupt ein Handy? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Schließlich rief mich Lorelle an. Am Tag nach der Demo war sie aus dem Polizeigewahrsam entlassen worden. „Wo sind denn alle abgeblieben?“, fragte ich. „Ich war bei der Kirche, aber da war keiner.“

Marks Grüppchen habe sich aufgelöst, erklärte sie. Stan sei zurück nach Mannheim, Eric nach Frankreich und Uta zu ihren Eltern. Das Gap-Year vom Leben, die Suche nach einer Alternative vorbei, dachte ich, die Revolution verloren. Enttäuschung durchfuhr mich.

„Und Mark?“, fragte ich. Mark sei verhaftet worden, deshalb rufe sie an. Ob wir uns treffen könnten? Lorelle wartete in einem Café gegenüber dem U-Bahnhof Neukölln auf mich. Sie bestellte einen Chai, ich einen Kaffee. Sie war anders, zurückhaltender, als hätte sie nicht geschlafen. Sogar das Mandala auf ihrer Wange wirkte weniger fluoreszierend, die Farben in ihrem Haar waren weniger festlich.

„Als ich dich letztes Mal gesehen habe“, übertönte ich mit lauter Stimme den Straßenlärm, „schlugst du gerade kreischend um dich, während du von der Polizei davongeschleift wurdest.“

„O Gott, an dem Tag war ich dermaßen high. Am nächsten Morgen haben sie mich freigelassen. Das ist Routine. Man könnte sagen, das macht den Kampf so spannend.“

„Was ist jetzt mit Mark?“

Ein junger Mann mit schulterlangem Haar und länglichem Trauerkloßgesicht kam an unseren Tisch, beugte sich zu Lorelle und flüsterte ihr schüchtern etwas ins Ohr. Er roch nach Kot, Urin und abgestandenem Schweiß. Seine dicken, ausgelatschten Stiefel standen vor Dreck. Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe keins.“ Er wandte sich an mich. Ich sah weg und er schlurfte zum nächsten Tisch.

Offenbar war Mark an dem Tag, als ich ihn zur Kirche begleitete, nochmals losgezogen und hatte noch mehr getrunken, war dann zurück in die Kirche, wo er laut Musik laufen ließ, die eine Polizeistreife anlockte. Man fragte ihn, weshalb er sich dort aufhalte und wo sein Wohnsitz sei, und als er anfing, die Polizisten zu beschimpfen, nahmen sie ihn mit. Die Lage verschärfte sich, als sich herausstellte, dass sein Visum abgelaufen war. Jetzt war er ein Fall für die Einwanderungsbehörde.

„Und wo ist er jetzt?“

„Sitzt in Abschiebehaft. Ich habe ihn gestern besucht und er meinte, ich solle dich anrufen. Er hat sonst niemanden. Er braucht Hilfe. Die wollen ihn zurück nach Malawi schicken – was Schlimmeres kann ihm gar nicht passieren. Er kann nicht zurück.“

Wie entschieden sie klang: Er kann nicht nach Malawi zurück. Wie meinte sie das?

„Was … was kann ich denn tun?“, fragte ich.

„Er braucht einen Anwalt.“

„Was ist mit diesen Menschenrechts-NGOs – Amnesty International, können die ihm nicht helfen?“

„Mit denen habe ich schon gesprochen, aber das fällt nicht direkt in deren Gebiet. Immerhin haben sie mir die Adresse eines Anwalts gegeben. Der gehört einer anderen Organisation an, die haben sich auf solche Fälle spezialisiert und sie arbeiten unentgeltlich.“

„Hast du ihn schon angerufen?“

„Ja, und er hilft gern, aber er braucht Geld für Aktenzugang, Kopien und so weiter.“

„Wie viel?“

„Ungefähr zweihundert Euro. So viel habe ich leider nicht …“

„Klar, kein Problem.“ Ich war erleichtert, dass es nur zweihundert waren. Ich hätte Gina nur äußerst ungern um die Summe gebeten. Die Kanzlei des Anwalts lag in Mitte, zwanzig Minuten S-Bahn-Fahrt von dem Gebäude entfernt, in dem Mark inhaftiert war. Es war eine kleine Kanzlei mit zwei Schreibtischen, einer für den Anwalt, der andere für die Rechtsanwaltsgehilfin, eine steife, sauertöpfisch dreinschauende Frau. Ihr schwarzer Rock reichte bis zur Wadenmitte, ihre himmelblaue Bluse war bis oben zugeknöpft, die Spitzenrüschen um den Hals hielten ihren Kopf wie eine Klammer aufrecht; auf der Brust trug sie ein Namensschild: Frau Grosse. Es gab nur einen Besucherstuhl, daher blieb ich stehen. Der Anwalt hieß Julius Maier, „aber sagen Sie einfach Julius“, meinte er und erhob sich aus seinem Stuhl, um mir die Hand zu geben. Er war zartgliedrig, geradezu durchsichtig neben der gestreng-gewichtigen und überaus präsenten Frau Grosse. Sein Vater sei aus Burkina Faso, fügte er hinzu, wie um seine Glaubwürdigkeit zu untermauern, seine Mutter Deutsche. Lorelle gab ihm den Umschlag mit den zweihundert Euro. Er zählte das Geld und reichte es an Frau Grosse weiter, die ebenfalls nachzählte, das Geld in den Umschlag und diesen in eine Schublade steckte. Ich wartete geradezu darauf, dass sich um ihre Taille eine Kette mit dazugehörigem Schlüssel materialisierte, mit dem sie die Schublade zusperren würde. Sie bemerkte meinen Blick und quittierte ihn mit einem Stirnrunzeln; ich wandte mich ab.

„Zuallererst muss Ihr Freund beweisen, dass er nicht illegal hier ist, und dafür muss er den Nachweis erbringen, dass er immer noch Student ist.“

„Er kam als Student her, das ist aktenkundig. Warum glauben die ihm das nicht?“, fragte ich.

„Das ist aktenkundig, stimmt. Aber die Lage ist nicht ganz so einfach. Mittlerweile ist er nicht mehr immatrikuliert und hat daher gegen die Visumsbedingungen verstoßen.“

„Ist das was Ernstes?“

„Sehr. Ihm droht Abschiebung oder Haft.“ Der Anwalt wartete auf einen Kommentar meinerseits, redete dann weiter. „Am hilfreichsten wäre es, wenn er beweisen kann, dass er eine Visumsverlängerung beantragt hat. Ich habe mit ihm gesprochen und er sagte, das habe er versäumt.“

„Kann er das denn nicht nachträglich tun?“

„Dazu benötigt er ein Schreiben der Hochschule, das bestätigt, dass er immer noch immatrikuliert ist – aber das ist nicht so einfach. Er meinte, er sei im letzten Jahr nicht zur Uni gegangen. Bevor er hierhergekommen ist, hat er eine andere Hochschule in Potsdam besucht. Sein Stipendium läuft aus. Offenbar ist er demnächst mit dem Studium fertig, ihm fehlt nur noch die Abschlussarbeit.“

Eine geradezu kafkaeske Situation – für einen Gerichtsprozess musste er beweisen, dass er eine Visumsverlängerung beantragt hatte (was nicht der Fall war), doch um eine Visumsverlängerung zu beantragen, musste er beweisen, dass er immer noch Student war (was rein theoretisch der Fall war, auch wenn er keine Förderung mehr erhielt und seit einem Jahr das Unigelände nicht betreten hatte und weil er mehrmals die Hochschule gewechselt hatte, waren seine Unterlagen durcheinander, verheddert wie das Haar eines Rastafaris). Trotzdem sah der Anwalt optimistisch aus, Lorelle hingegen skeptisch und ich wahrscheinlich verwirrt.

„Es wäre tatsächlich einfacher, wenn er einen Asylantrag stellt“, erklärte er.

„Wie ein Flüchtling?“

„Genau.“

„Das macht er nie im Leben“, sagte Lorelle.

„Warum nicht, das vereinfacht die Sache …“

„Weil er kein Flüchtling ist, sondern Student.“

Wir fuhren mit der S-Bahn zur Justizvollzugsanstalt, ein Gebäude im Brutalismusstil, geradezu dem nationalsozialistischen Architekturkatalog entsprungen, wo wir etliche Formulare ausfüllen mussten. Julius erledigte das und händigte die Unterlagen einer Beamtin aus, die Frau Grosses Zwillingsschwester hätte sein können. Zeile für Zeile ging sie jedes Blatt durch, fuhr dabei mit ihrem dicken Zeigefinger die Zeilen nach, ehe sie einen Stempel herausholte und ihn unten auf jede Seite donnerte, wobei jedes Mal der Tisch bebte. Dann sah sie uns an und zeigte in Zeitlupe auf eine Stuhlreihe an der Wand. Wir setzten uns. Ich war bereits jetzt schon erschöpft und kam mir vor, als stünde ich vor Gericht, würde gleich in letzter Instanz verurteilt und gehängt. Ich vermied den giftigen Blick der Vorzimmerdame und betrachtete den langen, rechteckigen Raum. Auf einer Seite befand sich hoch oben eine Reihe quadratischer Fenster, an den Eisenstangen davor scheiterte jegliche Hoffnung auf Flucht. An einer der Türen zu unserer Rechten hing ein „Zutritt verboten“-Schild. Ein Mann kam herein und unterhielt sich mit Julius; als er sich an uns wandte, wechselte er ins Englische und forderte uns auf, ihm zu folgen. Wir gingen durch viele Türen, jede von ihnen wurde mit einem anderen der vielen Schlüssel aus dem Bund geöffnet, den er in der Hand hielt, bis wir schließlich in einer Art Vorzimmer gegenüber einer weiteren Tür Platz nehmen sollten. Nach einer Weile ging die Tür auf und Mark kam in Begleitung eines Wachmanns heraus, der sich diskret, aber gut sichtbar an der Tür positionierte. Nach dem festungsähnlichen Eingang, den vielen Türen und der Bürokratie hatte ich erwartet, dass Mark in Ketten hereingeschlurft käme. Er trug wie immer seine rote Jacke, darunter ein T-Shirt. Ohne seine Kopfbedeckung sah er niedergeschlagen, verletzlich und ein wenig verloren aus.

Mark bedankte sich bei mir. „Alles wird gut“, sagte ich.

Lorelle saß angespannt und aufrecht auf ihrem Stuhl, den Blick unverwandt auf Mark gerichtet, als wäre sie am liebsten zu ihm hingerannt und hätte ihn umarmt, aber sie blieb sitzen, lächelte jedes Mal, wenn sich ihre Blicke trafen. Wie sich herausstellte, gab es Grund für Julius’ Optimismus: Zwei Tage später wurde Mark entlassen. Der Anwalt rief mich an und wir trafen uns in seiner Kanzlei. Mark war ebenfalls anwesend, die Baseballkappe wie üblich tief in die Stirn gezogen, er trug wie immer seine rote Jacke über Hemd und T-Shirt, Converse und Hochwasserjeans. Er war vorläufig frei. Die Hochschule hatte bestätigt, dass er weiterhin immatrikuliert war und die Visumsverlängerung war beantragt. Mark hatte man in die Obhut des Anwalts entlassen. Beeindruckt schüttelte ich Julius’ Hand.

„Er muss jederzeit zur Verfügung stehen, wenn ihn eine Behörde kontaktiert. Er darf Berlin nicht verlassen. Die wollten eine Adresse, reine Formalität. Wir haben Ihre angegeben, ist das okay?“

„Natürlich“, versicherte ich, verkniff mir die Frage, wie er an meine Adresse gekommen war. „Aber wo soll er unterkommen?“

„Im Heim“, sagte Julius und ergänzte auf meinen ratlosen Blick hin, „im Flüchtlingsheim.“

Dort wo die Asylsuchenden auf das Ergebnis ihres Antrags warteten. Ich sah Mark an – was dachte er darüber? Er betrachtete einen Ast draußen vorm Fenster.

„Aber er ist doch kein Asylant“, sagte ich.

Julius zuckte die Achseln. „Das ist lediglich eine Übergangslösung.“

„Weißt du was“, meinte ich zu Mark, „komm mit zu mir, da kannst du ein, zwei Tage bleiben, ehe du woanders unterkommst.“

Mark zuckte schweigend mit den Schultern. Ein Dankeschön wäre nett gewesen, andererseits hatte er einiges durchgemacht. Bevor wir gingen, nahm Julius mich beiseite. „Wie gut kennen Sie ihn?“

„Wir kennen uns ungefähr seit zwei Monaten. Warum?“

Er zuckte wieder mit den Achseln. „Sie sollten mit ihm reden.“ Er wirkte, als läge ihm noch etwas auf der Zunge, aber offenbar fand er schweigen ratsamer. Er sah Mark, dann mich an. „Reden Sie einfach mit ihm. Um … um mehr über ihn zu erfahren, Sie verstehen?“

„Okay.“ Ich war verwirrt. Verheimlichte Mark mir etwas? Er würde mir doch bestimmt sagen, wenn es gefährlich wäre, ihn aufzunehmen? Wir gingen erst mal in eine Kneipe und ich gab ein Bier aus, um Marks Freiheit zu feiern. „Mein erstes Bier seit Tagen“, sagte er und schwieg dann die meiste Zeit. Gern hätte ich Julius’ Bemerkung erwähnt, aber wie brachte man so etwas zur Sprache? Ich beschloss, das Thema zum geeigneten Zeitpunkt möglichst taktvoll aufs Tapet zu bringen. Als wir ausgetrunken hatten, sah er auf. „Hoffentlich ist deine Frau nicht sauer, wenn du ein Findelkind anschleppst.“

„Sie wird’s verkraften“, sagte ich, obwohl mir klar war, dass ich mit dieser Aktion zu weit ging, einen nur schwer rückgängig zu machenden Schritt tat. Von nun an war ich für Mark verantwortlich. Was immer er tat, was immer mit ihm geschah, würde direkte Auswirkungen auf Gina und mich haben.

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