Kitabı oku: «Sie»

Yazı tipi:

Henry Rider Haggard

Sie

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Ein Besucher

2 Die Jahre vergehen

3 Die Amenartasscherbe

4 Die Bö

5 Der Kopf des Aethiopiers

6 Ein frühchristlicher Brauch

7 Ustane singt

8 Das Fest und was danach geschah

9 Ein kleiner Fuß

10 Betrachtungen

11 Die Ebene von Kôr

12 Sie

13 Ayesha entschleiert sich

14 Eine Seele in der Hölle

15 Ayesha hält Gericht

16 Die Gräber von Kôr

17 Eine Wendung

18 »Hinweg mit dir, Weib!«

19 »Bringt mir eine schwarze Ziege!«

20 Triumph

21 Der Tote und der Lebende begegnen sich

22 Job hat eine Vorahnung

23 Der Tempel der Wahrheit

24 Über die Schlucht

25 Der Geist des Lebens

26 Was wir sahen

27 Wir springen

28 Über den Berg

Impressum

Einleitung

Bevor ich der Welt von einem der seltsamsten und geheimnisvollsten Abenteuer berichte, die je von Menschen erlebt worden sind, halte ich es für meine Pflicht, zu erklären, in welcher Beziehung ich dazu stehe. Vor allem möchte ich darauf hinweisen, daß ich nicht der Erzähler, sondern nur der Herausgeber dieser ungewöhnlichen Geschichte bin, und kurz schildern, auf welche Weise sie in meine Hände gelangte.

Als ich vor einigen Jahren in einer Universitätsstadt, die ich für den Zweck dieser Geschichte Cambridge nennen will, bei einem mir befreundeten Professor zu Besuch weilte, fielen mir eines Tages auf der Straße zwei Herren auf, die Arm in Arm gingen. Der eine war, ohne Übertreibung, der hübscheste junge Mann, den ich je gesehen habe: hochgewachsen und stattlich, kraftvoll und anmutig. Hinzu kam, daß sein Gesicht nicht nur schön, sondern auch edel war, und als er vor einer vorübergehenden Dame den Hut zog, sah ich, daß dichte goldene Locken seinen Kopf bedeckten.

»Du meine Güte!« sagte ich zu meinem Freund. »Dieser Mann sieht ja aus wie eine zum Leben erwachte Apollostatue. Welch herrliche Erscheinung!«

»Ja«, erwiderte er, »er ist der schönste Mann von Cambridge und zugleich einer der liebenswürdigsten. Man nennt ihn den ›Griechengott‹. Doch sieh dir auch den anderen an; er ist Vinceys – so heißt der Gott – Vormund und angeblich ein sehr gescheiter Kopf. Er wird ›Charon‹ genannt – ob seines Äußeren wegen oder weil er seinen Schützling über die tiefen Wasser der Examen geleitet hat, weiß ich nicht.«

Als ich ihn betrachtete, fand ich ihn auf seine Art nicht weniger interessant als den jungen Apoll an seiner Seite. Er war etwa vierzig Jahre alt und ebenso häßlich wie sein Begleiter schön. Er war ziemlich klein, hatte krumme Beine, eine breite, kräftige Brust und ungewöhnlich lange Arme, dunkles Haar und kleine Augen. Das Haar wuchs ihm tief in die Stirn hinein, und sein Bart reichte bis zum Haar hinauf, so daß von seinem Gesicht nicht viel zu sehen war. Alles in allem erinnerte er mich stark an einen Gorilla, und dennoch wirkte er überaus sympathisch und anziehend auf mich. Ich bat meinen Freund, mich ihm bekannt zu machen.

»Aber gern«, erwiderte mein Freund, »nichts leichter als das. Ich kenne Vincey und will dich ihm gern vorstellen.« Er tat es, und wir standen eine Weile beisammen und unterhielten uns – soviel ich mich entsinne, über die Zulus, denn ich war vor kurzem erst aus Südafrika zurückgekommen. Kurz darauf näherte sich uns jedoch eine korpulente, von einem hübschen jungen Mädchen begleitete Dame, und Mr. Vincey, der die beiden anscheinend gut kannte, schloß sich ihnen an und entfernte sich mit ihnen. Bereits beim Nahen der Damen änderte sich in auffallender Weise die Miene des älteren Herrn, der, wie ich indessen erfahren hatte, Holly hieß. Er verstummte plötzlich, warf seinem Begleiter einen vorwurfsvollen Blick zu, wandte sich, mir kurz zunickend, ab und ging hinüber auf die andere Straßenseite. Wie ich später hörte, stand er in dem Ruf, Frauen ebenso zu fürchten wie andere Leute einen tollwütigen Hund, was seinen hastigen Rückzug zu erklären schien. Vincey hingegen schien dem weiblichen Geschlecht durchaus nicht abgeneigt; jedenfalls erinnere ich mich, daß ich damals lachend zu meinem Freund sagte, er sei nicht gerade ein Mann, den ich der Dame meines Herzens gern vorstellen würde, denn die Wahrscheinlichkeit, daß sie ihre Zuneigung ihm zuwenden könnte, sei doch überaus groß. Er sah einfach gar zu gut aus, und dabei fehlten ihm gänzlich jene Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit, welche die meisten hübschen Männer bei ihren Geschlechtsgenossen mit Recht unbeliebt machen.

Mein Besuch endete an diesem Abend, und ich habe danach lange Zeit nichts von ›Charon‹ und dem ›Griechengott‹ gesehen oder gehört. Genauer gesagt, ich habe bis zu dieser Stunde keinen der beiden wiedergesehen und werde es wohl auch kaum. Vor einem Monat jedoch erhielt ich einen Brief und zwei Pakete, deren eines ein Manuskript enthielt, und als ich den Brief öffnete, sah ich, daß er die Unterschrift ›Horace Holly‹ trug – ein Name, der mir im ersten Augenblick nichts sagte. Der Brief hatte folgenden Wortlaut:

»College, Cambridge, 1. Mai 18..

Sehr geehrter Herr!

Sie werden, da wir uns nur so flüchtig kennengelernt haben, überrascht sein, einen Brief von mir zu erhalten. Wie Sie sich vielleicht erinnern, wurden mein Mündel Leo Vincey und ich Ihnen vor einigen Jahren in Cambridge auf der Straße vorgestellt. Doch ich will mich kurz fassen und sogleich mein Anliegen vorbringen. Ich las vor kurzem mit großem Interesse ein Buch, in dem Sie ein Abenteuer im Inneren Afrikas schildern. Wie ich wohl annehmen darf, ist dieses Buch aus Dichtung und Wahrheit gemischt. Wie dem auch sei – es hat mich auf eine Idee gebracht. Aus dem beiliegenden Manuskript (welches ich Ihnen zusammen mit dem Skarabäus ›Königlicher Sohn der Sonne‹ und der Tonscherbe übersende) werden Sie ersehen, daß mein Mündel oder, besser gesagt, mein Adoptivsohn Leo Vincey und ich ebenfalls ein Abenteuer in Afrika erlebt haben, welches so viel wunderbarer als das von Ihnen erzählte ist, daß ich mich – offen gestanden – aus Furcht, Sie könnten mir nicht glauben, fast scheue, Sie damit vertraut zu machen. Wie Sie in dem Manuskript lesen werden, hatten wir eigentlich beschlossen, diese Geschichte nicht der Öffentlichkeit zu übergeben, solange wir noch am Leben sind. Ganz sicher wären wir diesem Entschluß auch treu geblieben, hätte sich nicht ein besonderer Umstand ergeben. Aus Gründen, die Sie nach Lektüre des Manuskriptes erraten werden, werden wir uns wieder auf eine Reise begeben, diesmal nach Zentralasien, wo, wenn überhaupt auf dieser Welt, wahre Weisheit zu finden ist, und wir nehmen an, daß unser Aufenthalt dort von sehr langer Dauer sein wird. Möglicherweise werden wir überhaupt nicht mehr zurückkehren. Unter diesen veränderten Umständen erhebt sich die Frage, ob wir berechtigt sind, einfach aus der Befürchtung heraus, wir könnten uns lächerlich machen oder auf Unglauben stoßen, der Menschheit einen Bericht über ein rätselhaftes Phänomen vorzuenthalten, welches nach unserer Überzeugung von unvergleichlicher Bedeutung ist. Leo und ich sind in dieser Beziehung verschiedener Ansicht, doch nach langen Diskussionen sind wir übereingekommen, Ihnen die Geschichte zu übersenden und die Entscheidung, ob sie veröffentlicht werden soll oder nicht, Ihnen zu überlassen, wobei nur ein einziger Vorbehalt gemacht sei: daß Sie unsere wirklichen Namen verschweigen und von unserer Identität nur so viel mitteilen, als die Glaubwürdigkeit der Erzählung erfordert.

Was ist dem noch hinzuzufügen? Ich glaube, lediglich die nochmalige Versicherung, daß in beiliegendem Manuskript alles so geschildert ist, wie es sich tatsächlich zugetragen hat. Auch was ›Sie‹ betrifft, habe ich nichts weiter zu sagen. Von Tag zu Tag bedauern wir mehr, daß wir die Gelegenheit, unser Wissen durch diese wunderbare Frau bereichern zu lassen, nicht besser genützt haben. Wer mag sie gewesen sein? Wie kam sie wohl in die Höhlen von Kôr, und was war ihre wirkliche Religion? Wir haben keine Antwort darauf gefunden, und leider werden wir wohl auch keine mehr finden; zumindest nicht so bald. Diese und viele andere Fragen lassen mir keine Ruhe, doch was nützt es, sich darüber den Kopf zu zerbrechen?

Wollen Sie also diese Aufgabe übernehmen? Wir lassen Ihnen völlige Freiheit, und Ihr Lohn wird das Verdienst sein, der Menschheit die phantastischste – und dennoch wahre – Geschichte dargeboten zu haben, die sich auf Erden je zugetragen hat. Lesen Sie das Manuskript (von dem ich eine gute Abschrift für Sie angefertigt habe) und geben Sie mir bald Nachricht.

Hochachtungsvoll Ihr sehr ergebener

L. Horace Holly

P.S. Sollten Sie sich zur Veröffentlichung entschließen und der Verkauf des Buches Gewinn abwerfen, so verfügen Sie nach Belieben; falls Ihnen jedoch ein Verlust entsteht, so sind meine Anwälte, die Herren Geoffrey und Jordan, angewiesen, Ihnen diesen zu ersetzen. Wir vertrauen die Scherbe, den Skarabäus und die Pergamente Ihrer Obhut an und werden sie vielleicht einmal zurückverlangen.

L. H. H.«

Dieser Brief setzte mich, wie man sich wohl denken kann, in nicht geringes Erstaunen, doch noch erstaunter war ich, als ich nach vierzehn Tagen, in denen andere dringende Arbeiten mich daran hinderten, das Manuskript endlich las. Ich beschloß sofort, mich der Sache anzunehmen, und teilte dies Mr. Holly mit, erhielt jedoch eine Woche später meinen Brief mit einem Begleitschreiben seiner Anwälte zurück, in dem mir diese mitteilten, daß ihr Klient und Mr. Leo Vincey bereits nach Tibet abgereist seien und keine Adresse hinterlassen hätten.

Dies ist alles, was ich zu sagen habe. Über die Geschichte mag der Leser sich selbst ein Urteil bilden. Ich übergebe sie ihm, wie ich sie erhalten habe – abgesehen von einigen wenigen Änderungen, die ich vornahm, um die Identität der Akteure der Öffentlichkeit zu verbergen. Jeglichen persönlichen Kommentars will ich mich enthalten. Anfangs neigte ich zu der Ansicht, diese Geschichte einer in die Majestät ihrer ungezählten Jahre gehüllten Frau, auf welcher der Schatten der Ewigkeit ruht wie der dunkle Fittich der Nacht, sei eine gewaltige Allegorie, deren Sinn ich nicht zu enträtseln vermöge. Dann wieder glaubte ich, es sei vielleicht ein kühner Versuch, die Folgen faktischer Unsterblichkeit an einem sterblichen Wesen zu demonstrieren, das seine Kraft aus der Erde zieht, in dessen Brust jedoch Leidenschaften auflodern und erlöschen, wie sich in der unvergänglichen Welt, die es umgibt, die Winde und Fluten unaufhörlich erheben und senken. Doch später ließ ich auch diesen Gedanken fallen. Mir scheint diese Geschichte den Stempel der Wahrheit zu tragen. Ich muß es anderen überlassen, sie zu enträtseln, und so übergebe ich denn nach dieser kurzen, durch die Umstände gebotenen Einleitung der Welt den Bericht über Ayesha und die Höhlen von Kôr.

Der Herausgeber

P.S. Bei nochmaligem Durchlesen der Geschichte ist mir ein, wie ich glaube, sehr wesentlicher Punkt aufgefallen, auf den ich die Aufmerksamkeit des Lesers lenken möchte. Er wird bemerken, daß nichts an Leo Vinceys Charakter, soweit wir ihn kennenlernen, dazu angetan scheint, einen so mächtigen Geist wie den Ayeshas zu fesseln. Er ist nicht einmal – jedenfalls in meinen Augen – besonders interessant. Man sollte sogar meinen, daß es Mr. Holly unschwer hätte gelingen müssen, ihn auszustechen. Könnte es sein, daß auch in diesem Fall die Gegensätze sich anzogen, daß gerade die Fülle und der Reichtum ihres Geistes eine seltsame physische Reaktion auslösten, die sie der rein äußerlichen Schönheit eines Mannes verfallen ließ? Oder ist die wahre Erklärung die, daß Ayesha, die weiter und tiefer zu blicken vermochte als wir, den in der Seele ihres Geliebten verborgenen Keim und Funken der Größe entdeckte und erkannte, daß er, genährt durch ihre Lebenskraft, befruchtet durch ihr Wissen und bestrahlt von der Sonne ihres Wesens, aufblühen würde wie eine Blume und aufstrahlen wie ein Stern, um die Welt mit Duft und Licht zu erfüllen? Auch hierauf weiß ich keine Antwort, sondern muß es dem Leser überlassen, sich anhand der von Mr. Holly nachstehend geschilderten Tatsachen sein eigenes Urteil zu bilden.

1 Ein Besucher

Es gibt Ereignisse, die sich in allen Einzelheiten so tief dem Gedächtnis einprägen, daß man sie nie vergißt. Mir ergeht es 59 mit dem folgenden, das mir so klar vor Augen steht, als hätte es sich erst gestern zugetragen.

Es ist in diesem Monat etwas über zwanzig Jahre her, daß ich, Ludwig Horace Holly, eines Abends in meinem Zimmer in Cambridge saß und mir über eine mathematische Aufgabe den Kopf zerbrach. Ich wollte in einer Woche mein Fellowship-Examen ablegen, und mein Tutor und meine Kollegen waren überzeugt, daß ich es glänzend bestehen würde. Müde und erschöpft schob ich schließlich mein Buch beiseite, ging zum Kamin und stopfte mir eine Pfeife. Auf dem Kaminsims stand eine brennende Kerze, hinter der ein langer schmaler Spiegel hing, und als ich mir die Pfeife anzünden wollte, fiel mein Blick auf mein Bild darin. Ich hielt inne und betrachtete es nachdenklich. Das Streichholz brannte weiter, bis es mir die Finger versengte und ich es wegwerfen mußte; doch ich blieb stehen und starrte, tief in Gedanken versunken, auf mein Spiegelbild.

»Hoffentlich«, sagte ich schließlich laut, »werde ich es einmal mit dem, was in meinem Kopf drin ist, zu etwas bringen, denn mit seinem Äußeren wird wohl kaum viel auszurichten sein.«

Diese Bemerkung dürfte dem Leser ziemlich unverständlich sein, und deshalb möchte ich hinzufügen, daß ich damit auf meine körperlichen Mängel anspielte. Die meisten Männer im Alter von zweiundzwanzig Jahren besitzen wenigstens in mehr oder weniger starkem Grad die Anmut der Jugend, doch mir war selbst diese versagt. Klein und untersetzt, mit einer unförmig breiten Brust, langen mageren Armen, plumpen Gesichtszügen, tiefliegenden grauen Augen, einer niedrigen, halb von dichtem schwarzen Haar überwucherten Stirn – so sah ich vor einem Vierteljahrhundert aus, und daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Ich war gebrandmarkt wie Kain – von der Natur gebrandmarkt mit einer ungewöhnlichen Häßlichkeit; doch die Natur hatte mich auch mit einer stählernen Kraft und ansehnlichen geistigen Fähigkeiten ausgestattet. So häßlich war ich, daß meine stets peinlich auf ihr Äußeres bedachten Studienkollegen, so stolz sie auf meine körperliche Kraft und Gewandtheit und meine sportlichen Leistungen waren, sich nur ungern mit mir zusammen sehen ließen. War es ein Wunder, daß ich menschenscheu und schwermütig wurde, daß ich mich zurückzog, am liebsten allein arbeitete und keine Freunde hatte – oder zumindest nur einen? Die Natur hatte mich dazu bestimmt, einsam zu leben und nur an ihrer Brust Trost suchen zu dürfen. Frauen stieß mein Anblick ab. Erst eine Woche zuvor hatte mich eine, als sie glaubte, ich könne es nicht hören, ein Scheusal genannt und geäußert, ich hätte sie davon überzeugt, daß der Mensch vom Affen abstamme. Nur einmal hatte eine Frau Neigung zu mir geheuchelt, und ich hatte sie mit meiner ganzen aufgestauten Zärtlichkeit überschüttet. Doch dann erhielt ein anderer eine kleine Erbschaft, auf die ich gerechnet hatte, und sie wandte sich von mir ab. Ich flehte sie an wie nie zuvor oder danach einen anderen Menschen, mich nicht zu verlassen, denn ich war vernarrt in ihr süßes Gesicht und liebte sie von ganzem Herzen; und zur Antwort führte sie mich schließlich vor einen Spiegel, stellte sich neben mich und schaute hinein.

»Nun«, sagte sie, »wenn ich schön bin, was sind dann wohl Sie?«

Und damals war ich erst zwanzig Jahre alt.

So stand ich also da und starrte mich an, und eine irgendwie grimmige Genugtuung über meine Einsamkeit erfüllte mich, hatte ich doch weder Vater noch Mutter, noch Geschwister; und plötzlich klopfte es an der Tür.

Ich lauschte einen Augenblick, bevor ich öffnete, denn es war fast schon Mitternacht, und ich hatte keine Lust, noch jemanden zu empfangen. Ich hatte nur einen einzigen Freund auf dem College, ja auf der ganzen Welt – vielleicht war er es.

Da hörte ich den Betreffenden vor der Tür husten, und weil ich diesen Husten kannte, öffnete ich sogleich.

Ein großer schlanker Mann von etwa dreißig Jahren, dessen Gesicht die Spuren einstiger großer Schönheit trug, stürzte herein, keuchend unter der Last eines eisernen Kastens, den er an einem Griff in der rechten Hand trug. Er stellte den Kasten auf den Tisch und bekam einen so schrecklichen Hustenanfall, daß er ganz purpurrot im Gesicht wurde. Schließlich sank er auf einen Sessel und begann Blut zu speien. Ich schenkte etwas Whisky in ein Glas und reichte es ihm. Er trank und schien sich ein wenig zu erholen.

»Wie kannst du mich nur so lange draußen in der Kälte stehen lassen?« sagte er vorwurfsvoll. »Du weißt doch, Zugluft kann der Tod für mich sein.«

»Ich hatte doch keine Ahnung, daß du es bist«, erwiderte ich. »Du kommst sehr spät.«

»Ja, und es wird wohl mein letzter Besuch sein«, sagte er mit einem unheimlichen Lächeln. »Mit mir geht's zu Ende, Holly. Den morgigen Tag werde ich nicht mehr erleben.«

»Unsinn!« sagte ich. »Ich werde gleich einen Arzt holen.«

Er winkte ungehalten ab. »Es ist kein Unsinn; doch ich will keinen Arzt. Ich habe Medizin studiert und weiß, wie es mit mir steht. Mir kann kein Arzt mehr helfen. Meine letzte Stunde ist gekommen! Seit einem Jahr schon lebe ich nur noch durch ein Wunder. Jetzt höre mir einmal zu – so aufmerksam, wie du noch nie jemandem zugehört hast, denn ich werde meine Worte nicht wiederholen können. Wir sind seit zwei Jahren Freunde; sage mir, was du von mir weißt.«

»Ich weiß, daß du reich bist und daß du aus einer Laune heraus dein Studium in einem Alter begonnen hast, in dem die meisten anderen damit fertig sind. Ich weiß, daß du verheiratet warst und deine Frau gestorben ist und daß du mein bester, ja mein einziger Freund bist.«

»Weißt du, daß ich einen Sohn habe?«

»Nein.«

»Er ist fünf Jahre alt. Meine Frau ist bei seiner Geburt gestorben, und deshalb habe ich seinen Anblick nie ertragen können. Holly, wenn du zustimmst, möchte ich dich zu seinem Vormund machen.«

Ich sprang vor Überraschung fast von meinem Stuhl auf. »Mich?« rief ich.

»Ja, dich. Ich habe dich nicht zwei Jahre lang vergeblich studiert. Seit ich weiß, daß ich nicht mehr lange leben werde, habe ich jemanden gesucht, dem ich den Jungen und dies hier« – er klopfte auf den eisernen Kasten – »anvertrauen kann. Du bist genau der Richtige, Holly; denn du bist wie ein starker Baum – im Innern kräftig und kerngesund. Hör zu: Der Junge ist der letzte Sproß einer der ältesten Familien der Welt. Vielleicht kommt dir das unglaubwürdig vor, doch eines Tages wirst du den über jeden Zweifel erhabenen Beweis dafür in Händen haben, daß mein fünfundsechzigster oder sechsundsechzigster direkter Vorfahre, ein gebürtiger Grieche namens Kallikrates* , ein ägyptischer Isispriester war. Sein Vater war einer der von Hak-Hor, einem mendesischen Pharao der neunundzwanzigsten Dynastie, angeworbenen griechischen Söldner; sein Großvater oder Urgroßvater der von Herodot erwähnte Kallikrates**. Um das Jahr 339 v. Chr., als das Pharaonenreich unterging, brach dieser Kallikrates sein Priestergelübde und floh mit einer Prinzessin königlichen Blutes, die ihn liebte, aus Ägypten. Ihr Schiff strandete an der afrikanischen Küste, in der Gegend der heutigen Delagoa-Bucht oder etwas nördlich davon. Die ganze Besatzung kam ums Leben; nur er und seine Frau wurden gerettet. Sie erlitten viel Ungemach, wurden aber schließlich von der mächtigen Königin eines wilden Volkes aufgenommen, einer weißen Frau von ungewöhnlicher Schönheit, die unter Umständen, auf die ich jetzt nicht näher eingehen kann, über welche dich jedoch eines Tages der Inhalt dieses Kastens in Kenntnis setzen wird, schließlich meinen Vorfahren Kallikrates ermordete. Seine Frau konnte jedoch – wie, weiß ich nicht – nach Athen entkommen, und sie gebar bald darauf ein Kind, dem sie den Namen Tisisthenes gab, das heißt ›der mächtige Rächer‹. Aus unbekannten Gründen übersiedelte die Familie fünfhundert oder mehr Jahre später nach Rom, wo die meisten ihrer Mitglieder, wahrscheinlich um den im Namen Tisisthenes ausgedrückten Rachegedanken zu erhalten, den Beinamen Vindex, ›der Rächer‹, annahmen. Dort blieben sie weitere fünfhundert Jahre bis um das Jahr 770, in dem Karl der Große in die Lombardei einfiel, wo sie damals ansässig waren. Das Oberhaupt der Familie scheint sich dem großen Kaiser angeschlossen zu haben; es folgte ihm über die Alpen und ließ sich schließlich in der Bretagne nieder. Acht Generationen später kam sein direkter Nachkomme unter der Regentschaft Edwards des Bekenners nach England und brachte es dort unter Wilhelm dem Eroberer zu Macht und Ansehen. Von damals bis zum heutigen Tage kann ich meine Herkunft lückenlos zurückverfolgen. Die Vinceys – dazu wurde der Name verstümmelt, nachdem die Familie sich in England niedergelassen hatten – haben sich übrigens in keiner Weise besonders ausgezeichnet oder hervorgetan. Teils waren sie Soldaten, teils Kaufleute – im großen und ganzen angesehene, doch durchaus unbedeutende Bürger. Von der Zeit Karls II. bis zum Beginn dieses Jahrhunderts waren sie Kaufleute. Um 1790 setzte sich mein Großvater, der eine Brauerei besaß und damit ein ansehnliches Vermögen erwarb, zur Ruhe. Er starb 1821, und mein Vater, der ihm folgte, brachte den größten Teil des Geldes durch. Als er vor zehn Jahren starb, hinterließ er mir eine jährliche Rente von etwa zweitausend Pfund. Ich unternahm damals in Zusammenhang damit« – er deutete auf den eisernen Kasten – »eine Expedition, die leider erfolglos blieb. Auf dem Rückweg bereiste ich Südeuropa und kam auch nach Athen. Dort lernte ich meine geliebte Frau kennen, die wohl, genau wie mein alter griechischer Vorfahre, den Beinamen ›die Schöne‹ verdient hätte. Ich heiratete sie, und ein Jahr später, bei der Geburt meines Sohnes, ist sie gestorben.«

Er schwieg eine Weile, den Kopf in die Hand gestützt. Dann fuhr er fort:

»Meine Heirat hatte mich von einem Plan abgelenkt, auf den ich jetzt nicht näher eingehen kann. Ich habe keine Zeit, Holly – keine Zeit! Wenn du die Vormundschaft übernimmst, wirst du eines Tages alles darüber erfahren. Nach dem Tod meiner Frau beschäftigte ich mich wieder mit diesem Plan. Doch zuerst schien es mir notwendig, mir eine genaue Kenntnis der orientalischen Sprachen anzueignen, vor allem des Arabischen. Zu diesem Zweck kam ich hierher, doch bald bin ich erkrankt, und nun ist es aus mit mir.« Und als wollte er diese Worte bekräftigen, verfiel er in einen neuen schrecklichen Hustenanfall.

Ich gab ihm noch einen Schluck Whisky, und nachdem er sich ein wenig erholt hatte, fuhr er fort:

»Ich habe meinen Sohn Leo nicht gesehen, seit er ein ganz kleines Kind war. Ich konnte seinen Anblick nicht ertragen. Er soll ein hübscher, aufgeweckter Junge sein. In diesem Brief« – er zog ein an mich adressiertes Kuvert aus der Tasche – »habe ich dargelegt, wie ich mir seine Erziehung denke. Ich habe in dieser Hinsicht ein wenig eigenartige Vorstellungen und möchte deshalb keinen Fremden damit betrauen. Ich frage dich noch einmal: Willst du diese Aufgabe übernehmen?«

»Dazu müßte ich erst wissen, worin sie besteht«, erwiderte ich.

»Du sollst den Jungen zu dir nehmen, bis er fünfundzwanzig Jahre alt ist, und ihn keinesfalls auf eine Schule schicken. An seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag endet deine Vormundschaft. Dann wirst du mit diesen Schlüsseln, die ich dir hiermit übergebe« – er legte sie auf den Tisch –, »den eisernen Kasten öffnen und ihn den Inhalt lesen lassen. Er soll dann entscheiden, ob er die Reise unternehmen will oder nicht. Wohlgemerkt, er ist in keiner Weise dazu verpflichtet. Und nun zu den Bedingungen. Mein gegenwärtiges Einkommen beträgt zweitausendzweihundert Pfund im Jahr. Die Hälfte davon habe ich dir – vorausgesetzt, du übernimmst die Vormundschaft – auf Lebenszeit vermacht. Das heißt, tausend Pfund davon sind für dich selbst als Entschädigung für deine Bemühungen bestimmt und hundert Pfund jährlich für den Unterhalt des Jungen. Der Rest soll liegenbleiben und sich verzinsen, damit Leo, wenn er sich mit fünfundzwanzig Jahren entschließen sollte, die Reise zu unternehmen, das dafür nötige Geld zur Verfügung steht.«

»Und wenn ich früher sterben sollte?« fragte ich. »Dann muß das Vormundschaftsgericht sich seiner annehmen. Du darfst nur nicht vergessen, ihm den Kasten testamentarisch zu vermachen. Ich bitte dich nochmals, Holly – schlage es mir nicht ab. Glaube mir, es wird nicht zu deinem Schaden sein. Du bist dieser Welt nicht gewachsen, mein Lieber. In ein paar Wochen wirst du dein Fellowship-Examen machen, und das Einkommen, das du dann erhalten wirst, wird es dir, zusammen mit dem Geld, das ich dir vermache, ermöglichen, ganz der Wissenschaft zu leben und dich deinem geliebten Sport zu widmen.«

Er hielt inne und sah mich erwartungsvoll an, doch ich zögerte noch immer. Sein Ersuchen schien mir doch gar zu seltsam. »Tu's mir zuliebe, Holly. Wir sind doch gute Freunde, und ich habe keine Zeit mehr, andere Vorkehrungen zu treffen.«

»Also schön«, sagte ich. »Ich bin einverstanden – vorausgesetzt, daß in diesem Brief nichts steht, was mich umstimmen könnte.«

»Ich danke dir von ganzem Herzen, Holly. Mache dir deshalb keine Sorgen. Schwöre mir bei Gott, daß du dem Jungen ein guter Vater sein und die darin niedergelegten Anweisungen befolgen wirst.«

»Ich schwöre es«, sagte ich feierlich.

»Gut. Aber denke daran, daß ich eines Tages vielleicht Rechenschaft von dir fordern werde, denn wenn ich auch tot und vergessen sein werde, so werde ich dennoch leben. Glaube mir, Holly, es gibt keinen Tod, nur eine Wandlung, und ich bin überzeugt, daß sich auch hier auf Erden diese Wandlung unter gewissen Umständen unendlich weit hinausschieben läßt.« Und wieder bekam er einen furchtbaren Hustenanfall.

»Ich muß jetzt gehen«, sagte er. »Den Kasten habe ich dir ausgehändigt, und das Testament, demzufolge man dir den Jungen übergeben wird, befindet sich unter meinen Papieren. Du wirst reich entschädigt, Holly, und ich weiß, du bist ein Ehrenmann – solltest du jedoch deinen Eid brechen, bei Gott, so wird mein Geist dich heimsuchen.«

Ich schwieg, denn ich war zu bestürzt, um ein Wort hervorzubringen.

Er nahm die Kerze, hob sie hoch und betrachtete sich im Spiegel. Sein Gesicht war einst schön gewesen, doch die Krankheit hatte es entstellt. »Futter für die Würmer«, sagte er. »Ein merkwürdiger Gedanke, daß ich in wenigen Stunden steif und kalt sein werde. Ach, Holly, das Leben ist all die Mühsal nicht wert, es sei denn, man liebt – das meine wenigstens war es nicht. Vielleicht wird mein Sohn Leo, wenn er genügend Glauben und Mut hat, das Glück finden. Leb wohl, mein Freund!« Und in einem plötzlichen Anfall von Zärtlichkeit umarmte er mich und küßte mich auf die Stirn, bevor er zur Tür ging.

»Nun warte doch, Vincey«, rief ich. »Wenn du wirklich so krank bist, wie du glaubst, solltest du mich doch lieber einen Arzt holen lassen.«

»Nein, nein«, sagte er ernst. »Versprich mir, daß du das nicht tun wirst. Ich werde sterben, und wie eine vergiftete Ratte will ich allein sterben.«

»Was für ein Unsinn«, erwiderte ich. Er sagte lächelnd: »Vergiß nichts«, und ging hinaus. Ich setzte mich, rieb mir die Augen und fragte mich, ob ich dies alles nur geträumt habe. Doch da diese Annahme absurd war, verwarf ich sie und erwog, ob Vincey vielleicht betrunken gewesen war. Ich wußte, er war sehr krank; dennoch schien es mir ausgeschlossen, daß sein Befinden so schlecht war, daß er mit solcher Bestimmtheit annehmen konnte, er werde die Nacht nicht überleben. Wenn er dem Tode so nahe war, dann hätte er wohl kaum so herumgehen und den schweren Eisenkasten tragen können. Und auch seine Geschichte schien mir, als ich darüber nachdachte, gänzlich unglaublich, denn ich war damals noch nicht alt genug, um zu wissen, daß auf dieser Welt viele Dinge geschehen, die der Mensch mit seinem begrenzten Verstand nicht fassen kann und deshalb für unmöglich hält. Zu dieser Einsicht bin ich erst vor kurzem gelangt. War es möglich, daß ein Mann einen fünfjährigen Sohn besaß, den er seit seiner frühesten Kindheit nicht gesehen hatte? Nein. War es möglich, daß er seinen eigenen Tod mit solcher Bestimmtheit vorhersehen konnte? Nein. War es möglich, daß er seinen Stammbaum bis auf mehr als drei Jahrhunderte vor Christus zurückverfolgen konnte, daß er einem Studienkollegen plötzlich die unumschränkte Vormundschaft über sein Kind anvertraute und ihm sein halbes Vermögen vermachte? Ganz gewiß nicht. Doch wenn dem so war, was hatte dann das Ganze zu bedeuten? Und was befand sich in dem versiegelten eisernen Kasten?

Die ganze Sache verwirrte und beunruhigte mich dermaßen, daß ich es schließlich nicht länger aushielt und beschloß, eine Nacht darüber zu schlafen. Ich sprang also auf, verwahrte die von Vincey mir übergebenen Schlüssel und den Brief in meiner Dokumentenmappe, sperrte den eisernen Kasten in einen Reisekoffer, ging zu Bett und schlief rasch ein.

Mir schien, als hätte ich erst wenige Minuten geschlafen, als mich jemand weckte, indem er meinen Namen rief. Ich fuhr auf und rieb mir die Augen – es war heller Tag, acht Uhr schon.

»Was ist denn mit dir los, John?« fragte ich den Collegediener, der für Vincey und mich die Aufwartung besorgte. »Du blickst ja drein, als hättest du ein Gespenst gesehen!«

»Ja, Sir, das habe ich«, erwiderte er, »... noch viel schlimmer, ich habe einen Toten gesehen. Soeben wollte ich Mr. Vincey wie immer wecken, und er liegt kalt und tot in seinem Bett!«

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