Kitabı oku: «UTOP»
Zum Buch
UTOP - Glücksversprechen, Menschheitsträume und Systeme prallen in diesem Roman aufeinander, und wie in einem surrealen Film erscheinen Parallel- und Gegenwelten, Neuland-Expeditionen, Handlungsstränge deutscher Zukunftsromane des letzten Jahrhunderts, so wirr und widersprüchlich wie konkret und visionär.
Utopisches dringt in dargestellte Wirklichkeiten, zerdehnt und sprengt geschichtliche Rahmen. In UTOP verweben sich in drei Teilen – Siedler, Jünger und Geister – Erzählungen, Episoden und Szenarien von Arbeiterrevolten, Vorkriegs-Bohème und Geschlechterkampf, Sekten- und Siedlungsgründungen, Bodenreform und sozialrevolutionären Experimenten, von der Züchtung primitiver Arbeitsgeschöpfe, gigantischen Raumflottengefechten und der innigen Begegnung eines terrestrischen Raketenoffiziers mit einer friedliebenden Marsitin.
Auf einem Utopistenkongress mit den großen Geistern aller Völker und Epochen, ergreifen u.a. Hannah Arendt, Ernst Bloch, Donatella Di Cesare, Charles Fourier, Thomas More, Simone Weil und die Aktivistinnen der Klimaschutzbewegung das Wort. Und im Haus der Intelligenz entbrennt ein Streit über die biologische Unsterblichkeit.
UTOP ist ein Roman mit Zeitluken in die Gegenwart, dessen Handlung von zahlreichen Stimmen überliefert wird.
Über den Autor
Herbert Kapfer, 1954 in Ingolstadt geboren, ist Autor und Publizist. Von 1996 bis 2017 leitete er die Abteilung Hörspiel und Medienkunst im BR. 2017 erschienen die Bücher Verborgene Chronik 1915–1918 (mit Lisbeth Exner) und sounds like hörspiel. Er wurde mit dem Tukan-Preis ausgezeichnet für 1919. Fiktion (2019).
Herbert Kapfer
UTOP
Roman
Verlag Antje Kunstmann
I. Siedler
Man muss das Unmögliche so lange anschauen
bis es eine leichte Angelegenheit ist. Das Wunder ist eine Frage des Trainings.
Das Zeitbuch von Poseidonis
Ataxikitli strich mit beinahe zärtlicher Gebärde über das prachtvolle Werk, das ein einzelner Mensch kaum zu heben vermochte und das mit den Sinnbildern der gefiederten Schlange, des heiligen Dreizacks, der Wellenlinie, der offenen und der geschlossenen Muschel, der sieben Vögel, des Lebensbaumes und so weiter geschmückt, die Geschichte des Landes von Urzeiten an enthielt, doch nicht immer in zusammenhängender Form, sondern aus unzähligen, oft bruchweisen Abschriften alter Steintafeln zusammengesetzt, denen, ebenso zierlich ausgeführt, viele halbvergessene Überlieferungen, nur noch im Volksmund weiterlebend, alte Sprüchlein, merkwürdige Vorhersagungen und allerlei Aufzeichnungen über die Taten längst verstorbener Helden beigefügt waren. Jedes Blatt dieses kostbaren Zeitbuches war eine dünne Ledertafel, in die mit scharfem Stift die gewundenen Schriftzeichen eingeritzt worden waren.
Die Anfangsworte, ja oft ganze Zeilen, waren reich bemalt, und zwar entsprach die Farbe immer genau dem Inhalt: Geistiges, den Glauben und die alte Weisheit betreffend, war in Grün gehalten, Seelisches blau, Heldentaten rot, wärmendes Wissen lichtviolett und düstere Vorhersagungen in dunkelviolettem Ton, so daß man schon an der Farbe die Art des Inhalts zu erkennen vermochte. Seine einzige Tochter Isolanthis hatte mehr als drei Jahre an diesem Buch gearbeitet, hatte alles niedergeschrieben, was im Haus der Wissenschaften auf alten Tafeln stand, und hatte alles zu erlangen ersucht, was im Volksmund an Liedern, Sprüchen und Andeutungen auf zukünftige Ereignisse noch nicht verlorengegangen war. Selbst der König besaß kein derartig ausführliches Buch. Das war dem einsamen Manne heute ein Trost. Um seinen Geist von fruchtlosen Bitterkeiten abzulenken, beugte sich Ataxikitli über das Werk, das nahezu die ganze große Tischplatte einnahm und nur geringen Raum für Krug und Schale ließ, und begann langsam zu lesen: »Merket euch, die ihr den Weg geht: Jeder Fortschritt ist nur durch Opfer möglich.«
Wieder hob er Tafel um Tafel, las flüchtig und seltsam zerstreut diese oder jene Stelle. Allmählich gelangte er zur Beschreibung der Weltzeitalter und folgte mühsam den verworrenen Zeichen mit dem Finger, denn dieser Teil war nicht im landesüblichen Toltec geschrieben, sondern teils in der toten Tlavitlisprache und teils im ebenfalls nicht mehr gebräuchlichen Rmoahal, das als beste Sprache für heilige Dinge gewertet wurde, das ihm jedoch nicht sehr geläufig war. »Mutternacht der Erde … Wintersonnenwende in der Waage …« Ataxikitli seufzte und sann nach. Das waren die Jahrtausende der Vereisung gewesen und die Menschheit fristete ein elendes Sein.
Er tat einen tiefen Trunk. Das Leben im Stofflichen war schwer, hart der Kreislauf des Seins, unerbittlich die Gesetze. In der Stille des Gemachs über das Zeitbuch geneigt, schien ihm bitter, was ihn sonst begeistert hatte: der weite Ausblick auf unbegrenzte Erfahrungen. Raum mochte der Weg sein, aber um jede Krümmung lag Neues, und dem Wachstum der Seele war kein Ende gesetzt. Wieder tat er einen tiefen Zug aus dem Zinnkrug. Eine quälende Unrast wuchs in ihm, und die Gedanken an die ungeheuren Zeitabschnitte machten ihn erschauern, während sie ihn sonst zu Andacht stimmten. Er drehte die Tafeln mit flüchtigem, wie nach innen gekehrtem Blick, fand keinen Ruhepunkt für seine Augen und murmelte: »Als der Frühlingspunkt im Schützen lag, entwickelten sich Jagd und Fischfang, die Menschen hatten keine festen Wohnsitze; sie wanderten dahin wie Tiere, die Nahrung suchen …«
Überrascht sahen alle Anwesenden auf den Sprecher
»Man muß sich in ein Traumbild hineindenken, daß eine große Sehnsucht nach der Reichshauptstadt besteht. Hunderttausende Deutsche sinken alljährlich ins Grab, die Berlin nicht gesehen haben. Der Mohammedaner erblickt in einer Reise nach Mekka die Haupttat seines Lebens. Berlin fehlt der Tempel völkischer Begeisterung, wo sich alle deutschen Stämme hingezogen fühlen in einem fortgesetzten Pilgerzug. Das Sinnbild deutscher Einigkeit, die Verkörperung des deutschen Wesens und der machtvolle Bau als Wahrzeichen deutscher Kraft: die deutsche Reichsburg!«
Die Stimme des Schriftstellers hatte sich der Stärke des öffentlichen Vortrages genähert.
»Ich zeichne zehn Millionen Mark, Herr Rautenschmied, bringen Sie den Stein ins Rollen!«
Landbürger sprach diese gewichtigen Worte mit fast gleichgültiger Stimme.
Nun heißt es, kaltes Blut bewahren
Am Bahnhof Fürstenbrunn, zwischen Charlottenburg und Spandau, standen am Morgen, in kleinen Gruppen etwa zweihundert Siemenssche Arbeiter. Sie erwarteten die ankommenden Züge und nahmen aussteigende Arbeiter in Empfang. Die meisten, die kamen, waren im Arbeitsanzug; sie stellten sich, die Zigarre im Mund, zu den übrigen. Der Zug brachte drei Leute. Sie gingen nebeneinander auf die Fabriken zu. Der eine war ein langer, starker Mensch von etwa fünfundzwanzig Jahren; der zweite ein älterer Mann mit einem breiten Vollbart; der dritte ein halbwüchsiger Junge. Scheinbar absichtslos stellte sich eine Kette von Männern über den Weg. Der ältere Mann sagte in ruhigem Tone: »Lassen Sie uns durch.« Nachdem er vergeblich seine Bitte wiederholt hatte, faßte er den direkt vor ihm Stehenden am Arm und suchte ihn mit leichtem Druck auf die Seite zu schieben. Sofort wandte sich dieser um. »Was, du Lump, du rührst mich an? Tu das noch einmal, und ich schlag dir eins in die Fresse, du Streikbrecher, daß du Zähne spuckst!«
Unterdessen waren alle andern herbeigekommen. »Kapitalistenknechte, dreckige Streikbrecher!« schrie man von allen Seiten auf sie ein. »Speit sie an.« Und im Nu flog der Speichel aus wohl dreißig Kehlen auf die Männer; es traf ihre Hüte, ihre Kleider, und klatschte ihnen direkt und wohlgezielt auch ins Gesicht. »Ich streike mit!« schrie der Junge in großer Angst. Im Nu eröffnete sich eine Gasse, und der Junge flog, von Hand zu Hand geworfen, in eine hintere Reihe.
»Ihr Schweine!« sagte der alte Mann empört und suchte sich mit dem Ärmel das Gesicht zu reinigen. Er erhielt einen Schlag, daß ihm der Hut vom Kopf flog. Einer packte ihn bei den Schultern, ein andrer bückte sich und riß ihm die Beine weg, und indem er hinfiel, stürzten gleich fünfe, sechse über ihn und hieben blindlings auf ihn ein. Der Große hatte einen Augenblick wie gelähmt gestanden; als er sah, was seinem Begleiter widerfuhr, senkte er den Kopf wie ein Stier, rannte mit dem Schädel dem unmittelbar vor ihm Stehenden in den Bauch, schlug mit schlenkernden Armen links und rechts in die Gesichter, und lief mit gewaltigen Sprüngen auf die Fabrik zu. Ein paar setzten ihm eine Strecke nach. Als sie zu ihren Genossen zurückkamen, fanden sie diese im Kreis um eine blutige, zerstampfte Masse, die auf dem Boden lag und in der man kaum noch einen menschlichen Körper erkannte. Der Rumpf war in den Erdboden hineingetreten, die Glieder ein blutiger Brei, das Hinterhaupt ein furchtbarer Filz zusammengeklebter Haare.
»Bessel will reden, Achtung!« rief man sich halblaut zu.
»Genossen!« sagte er; »es gibt kein Zurück mehr. An dieser Hinrichtung haben wir alle Teil.«
»Ich nicht!« schrie eine Stimme; »ich stand ganz hinten!«
»So, du nicht?« fuhr der Redner fort. »Ja, wie willst du denn das beweisen? Ich habe doch genau gesehn, wie du ihm mit der Faust ins Gesicht fuhrst!«
»Ich auch, ich auch!« riefen Stimmen durcheinander.
»Siehst du?« schrie der Redner – »man hat dich gesehn! Brüder! Es kann sich keiner ausnehmen, keiner! Wir sind solidarisch auch darin. Wenn wir uns einig sind, was kann man uns? Gebt jedem Streikbrecher eins auf den Dachs. Aber seid nicht so blödsinnig, euch niedermetzeln zu lassen.«
Das Eisfest auf dem Koenigssee
war als Ereignis schon seit einiger Zeit Gegenstand der Unterhaltung in der Berliner Gesellschaft. Die letzten Hammerschläge verhallten. Baumeister Rottberg meldete Landbürger die Vollendung der Vorarbeiten. Beide machten einen Rundgang. Als sie zum Empfangszelt kamen, stellten sich bereits die ersten Gäste ein. Zwanglos bewegten sie sich in dem geschmückten Raum, der sich an der Koenigsallee hinzog und von außen ein alpines Riesengemälde zeigte, innen aber einer Tropfsteinhöhle glich, die durch Spalten einen Ausblick über den vorgelagerten See gestattete. Die Militärmusiker setzten mit dem Einzug der Gäste aus Tannhäuser ein; hübsche junge Mädchen, in farbige Gewänder gekleidet, verabreichten Getränke. Aber auch der größte Teil der Geladenen erschien in Trachten, Kosaken, Litauer, Schweizer, alte Germanen in Bärenhäuten, Kriegshörner auf dem verhüllten Haupt. Und so herrschte ein vorgetäuschtes weltbürgerliches Treiben, die flotten Weisen der Musik ließen die von Landbürger bestellten Kunstläufer im Taktlauf über die Eisfläche gleiten. Die Ufer des Koenigssees waren in ein künstliches Eiszapfengewirr gehüllt. Die Dunkelheit setzte ein; plötzlich flammten elektrische Bogenlampen auf. Aus dem Eisgerinsel glühten bunte Flämmchen.
Landbürgers Gäste waren bald hier, bald dort. Edgar Rautenschmied weilte stets an der Seite Constanzes. Die Hände gekreuzt, glitten sie im eleganten Doppelbogenlauf über die hell beschienene Fläche. Der Schriftsteller trug die Tracht eines ungarischen Großgrundherrn. Constanze hatte sich als polnische Edeldame verkleidet. Die Musik spielte einen neuen Marsch: Er naht, der König Winter. Die Bogenlampen verloschen, ein greller Strahl blitzte über die Eisfläche. Wie auf unsichtbaren Wegen glitt ein goldglitzernder Schlitten daher, auf ihm saß König Winter, umgeben von seinen deutschen Lehnsmannen, wie Rübezahl, Schatzhauser. Die Göttinnen Nordsee und Ostsee saßen zu beiden Seiten eines Purpurthrones. Da huschte der weiße Strahl über das Eis und zauberte auf eine große Leinwandfläche die verheißungsvollen Worte:
Die Entstehung der deutschen Reichsburg.
Bild auf Bild folgte in schönster Wiedergabe der vollen Sommerpracht. Plötzlich stand der große, gewaltige Bau vollendet da, hinreißend und überwältigend durch seine gewaltigen Ausmaße, durch seine stilgerechte Baukunst, die in ihrer Gesamtwirkung eine formvollendete Wiedergabe deutscher Baueigenart darstellte. Rauschender Beifall erscholl, als nun auf schwindelnder Höhe die schwarz-weiß-rote Flagge hochging, ein Verkünder das gewaltige Burgtor öffnete und wie zur Einladung beide Arme ausstreckte. Und der Verkünder nahm die Züge des Kaisers an, über ihm im Himmelsblau breitete sich der deutsche Reichsadler aus, und diesen umgaben die Worte:
Wir Deutschen fürchten Gott, sonst niemand auf der Welt.
Auf den Stufen zur Reichsburg aber prangte die Inschrift:
Deutscher Frieden, ist Weltfrieden!
Ein alter graubärtiger General stimmte Deutschland, Deutschland über alles an, und feierlich hallte der Gesang, unterstützt durch die Musik, durch die stille Winternacht.
Erinnern Sie sich der weiten Strahlenmäntel der Heiligen
auf den alten Bildern und nehmen Sie diese bitte wörtlich. Doch das alles sind Gemeinplätze. Was Ihnen, mein Lieber, fehlt, ist das Wunder.
Pastor Eckart öffnete Mara die Türe
Sie stiegen zum Turmzimmer empor. Wie jedesmal beugte sich Mara aus dem kleinen, runden Fenster. Diese Wohnung hoch über der Stadt, die sich um den Limmat lagerte! Wie fernes Brausen stieg der Lärm aus den Straßen zu ihnen empor. Aber das Wunderbarste an diesem Zimmer war die Orgel. Zu beiden Seiten der Orgel, die in einen alten Bauernschrank eingebaut war, brannten Kerzen in meterhohen silbernen Ständern. Er blickte zu ihr hinüber. Wie sie diese Fuge meisterte! So wenig wußte er von ihr! In einem kleinen dalmatinischen Dorf hatte sie ihre Kindheit verbracht. Aber wer waren ihre Eltern. »Sie sind tot. Ich habe sie nie gekannt.« Mara selbst machte sich offenbar keine Gedanken darüber. Sie grübelte nicht, was den Unbekannten in England wohl veranlassen mochte, ihr eine Rente auszusetzen. Er gab seinen Namen nicht preis, er sorgte sich in keiner Weise um das Mädchen, das allein in Zürich lebte und studierte.
Seit Pastor Eckart erfahren hatte, daß seine Schülerin nicht das unberührte Mädchen sei, für das er sie gehalten hatte, wollte er sich nicht mehr damit begnügen, Maras Spiel zu verbessern, mit ihr tiefer in die Werke der großen Tondichter einzudringen. »Sie führen ein Leben in Sünde.«
Der Arzt wandte sich und trat zum Waschtisch. Während er sachlich und so, als gäbe es nichts Wichtigeres, sich die Hände wusch, glitt Mara von dem mit schwarzer Wichsleinwand überzogenem Sofa und begann sich anzukleiden. Sie räusperte sich, aber der Arzt schien nicht zu hören. »Aber ich bin ja so glücklich. Ich werde ein Kind haben«, sagte Mara. Der Arzt vermochte sein Erstaunen nicht zu verbergen. »Wie – aber sagten Sie nicht, Sie sind unverheiratet?«
Mara saß in der Wohnung Professor Wernheims, an dessen Schreibtisch. Wenn sie auch nicht ganz erfassen konnte, worum es
hier in diesem stillen Studierzimmer ging, so war sie doch glücklich, wenigstens Handlangerdienst für das große Werk leisten zu dürfen. Sie hatte gelernt mit dem Spektroheliographen Sonnenbilder herzustellen, die der Professor für seine Untersuchungen der Sonnenflecke benötigte. Sie legte Tabellen an und kannte Herschels Sternkatalog fast auswendig. Ich werde mir Bücher kaufen, dachte sie, Bücher, in denen alles steht, was eine Mutter wissen muß.
Das Schlimmste war, daß die Tage so kurz waren. Daß die Zeit des Schlafens kam und zwang, viele Stunden nicht zu sein. Da waren die Bibliotheken, in denen man aus den Händen verstaubt aussehender Angestellter Bücher entgegennahm, die man dann in dem großen Saal lesen durfte. So still war es hier. Wo sollte man beginnen? Da standen in langen Reihen die Bücher der großen Historiker aller Zeiten, die Bücher der Naturwissenschaftler, die von den Sternen, Pflanzen, Kristallen und Tieren die merkwürdigsten Dinge erzählten. Die Philosophen und ihre Systeme, die jedes ein Sternenkreislauf für sich waren. Es gab die Bücher der Dichter, Atlanten, Handschriften, Kodizes, viele, viele tausend Bände, türmten sich zu ebensovielen Stunden, die man in seinem Leben nicht unterbringen konnte. Wo aber ließen sich kulturgeschichtliche Beobachtungen besser und präziser machen als in jenen exotischen, sagenumwobenen Randbereichen einer Bibliothek, wo sich das Beiseitegeschobene, Verdrängte, Verfemte und Marginalisierte findet? Bestände, die zwar wohlgeordnet, aber trotzdem für einen Benutzer nicht oder nur schwer erreichbar waren –
Remota
Was wurde eigentlich weggesperrt? Wer bestimmte den Inhalt?
Merken Sie jetzt, warum Sie von allen Sachen und Dingen abgleiten?
Sie sind ein Phantast mit unzureichenden Mitteln. Die Alchemie, aber auch die katholische Theologie kennen materia remota. Während die Alchimisten darunter ein Mineral verstehen, stellt in der katholischen Sakramentenlehre das Element an sich zusammen mit der materia proxima (Anwendung), und dem Wort, der Form, das sakramentale Zeichen dar, das die Wirkung des Sakraments hervorbringt.
Allen anderen Büchern
zog Mara noch immer die Lebensbeschreibungen großer Menschen vor. Werke, die von Korsaren und Feldherren, von Staatsmännern und Rebellen erzählten. Und jene, die in alter, einfacher Sprache von dem Leben der großen Heiligen berichteten, von der heiligen Katharina von Siena, der heiligen Theresa, der heiligen Gertrud. Das Beispiel der Heiligen ragte fremd in diese Zeit.
Rechts am Fenster
das mit einer dichten Scheibengardine versehen war, stand ein Setzerkasten, im Hintergrund ein roher, großer Tisch. Ein paar Stühle vervollständigten das Möblement. Hinten führte eine kleine Tür in den Raum, in dem die Handpresse und Druckpapier verwahrt war. Vor dem Setzerkasten stand in Hemdärmeln ein Mann mit offenen Gesichtszügen und steil in die Höhe gekämmten blonden Haaren. Er fragte Bessel: »Wen bringst du denn da mit?«
»Das ist Meckel. Ich glaube, wir können ihn brauchen.«
Der Mann kam hinter seinem Kasten hervor, und lud sie ein, Platz zu nehmen.
»Miller ist da.«
»Aus London?«
»Mit ihm gingen drei andere; Hester nach Hamburg, Williams nach Essen, Erman nach Kattowitz.«
Dieses Komitee handelte nach eigenem Ermessen. Es besaß weder Statuten, noch Mitgliederlisten. Jeder wußte, was er wollte, und jeder kannte den andern. Es stand mit dem internationalen Komitee zu London in Verbindung, unterhielt zu den Massen der einheimischen Arbeiter aber keine direkten Beziehungen. Die Männer, die sich in diesem Bunde zusammengefunden hatten, waren durch die Erfahrung belehrt worden, daß der Wert der Masse nur im positiven Ausharren zu suchen ist, daß für energisches, rasches Handeln aber immer nur wenige tauglich sind.
Es wird, um die Bestrebungen dieses Komitees ins rechte Licht zu setzen, das beste sein, eine Broschüre zu zitieren, die unter dem Titel Generalstreik und Terror 1908 im Verlag des Revolutionär erschien; zwar wurde die Schrift konfisziert, aber wie es bei Beschlagnahmungen anarchistischer Druckwerke im allgemeinen zu geschehen pflegt, erst, nachdem die Auflage bereits versandt war und nur noch drei Exemplare in der Druckerei lagen. Dort heißt es, von Seite 5 an wörtlich so: »Wenn man die Emanzipation des Proletariats durchsetzen will, so darf man keinen Augenblick darüber im Unklaren sein, daß dies stets den Kampf einer Minorität gegen eine Majorität bedeutet. Das Proletariat besitzt weder Geld, noch Waffen. Worum es sich handelt, ist, eine Kampftaktik zu finden, die einerseits die Produktionen und den Verkehr hemmt und dadurch Schaden herbeiführt; andererseits aber durch den Schrecken darauf hinwirkt, daß diesem Zustande bald ein Ende und hinterher kein Versuch gemacht wird, die Ausgleichung des Schadens aufs Proletariat zu schieben. Dieser doppelte Zweck erfordert ein doppeltes Vorgehen. Das erste wird erreicht durch die Aktion der Massen, die die Arbeit verweigern. Das zweite durch eine tatkräftige Kampfweise einiger weniger, die ihr Leben in die Schanze zu schlagen bereit sind. Wenige sind sehr schwer zu fassen. Die vielen aber sind, wenn sie tätiges Eingreifen in den Kampf vermeiden, vor der Niederwerfung durch brutale Gewalt gesichert. Wenn die Wenigen, die sich dem Kampf bis aufs Messer widmen, Resultate erzielen wollen, so müssen sie freilich ihre Waffen gegen große Objekte richten. Sie sollen sich auf Unternehmungen stürzen, die arbeiterfeindlich sind. Sie sollen versuchen, ganze Fabriken einzuäschern, Bergwerke zu vernichten, Schiffe ins Meer zu versenken.«
Wir müssen logisch komponieren
aus den logischen Figuren heraus wie Ornamentkünstler. Wir müssen einsehen, dass das Phantastischste die Logik ist.
Auch verdrängte Sexualität, natürlich
Den Studenten Wassilij Gutschkow hatte Mara in ihrem kleinen vegetarischen Restaurant kennengelernt. Der zweite Fenstertisch war sein Stammplatz und Mara war schon daran gewöhnt, immer dem feuchten Blick unnatürlich tief liegender Augen aus einem sehr weichen, sehr fahlen Gesicht zu begegnen, wenn sie sich zu ihrem Mittagsbrot niederließ. Dieser Russe, der immer einen Pack zerschlissener Bücher mit sich herumschleppte, aß niemals etwas anderes als ein einziges Gemüse und trank dazu Tee. Daß Gutschkow Student der Chemie war, wußte Mara auch. Aber Litschew, den sie einmal nach dem Unbekannten befragte, zuckte geringschätzig die Achseln. »Meine Leute verkehren nicht mit ihm. Er ist Anarchist und er und seine Freunde machen uns hier nur Ungelegenheiten. Auch verdrängte Sexualität, natürlich.«
So kannten Wassilij Gutschkow und Mara einander schon sehr lange, als der Russe eines Tages die Wirtsstube betrat, sich wie suchend umsah und dann unsicher auf Mara zukam. »Eine Freundin von mir – sie heißt Vera – ist sehr krank. Wir haben gar kein Geld mehr. Könnten Sie uns …«
Verwirrt griff Mara nach ihrer Börse. Sie leerte den Inhalt in die Hände des Studenten und fragte: »Darf ich mit Ihnen kommen? Vielleicht könnte ich helfen?«
Ein kleines Dachzimmer mit schräger Decke. Ein Tisch voll Bücher am schmalen Fenster, ein Kleiderrechen und im Hintergrund das Bett. Jähes Erkennen geistert über ein erschreckend blasses und mageres Gesicht. »Du, Mara?«
Bald sank Vera müde zurück.
»Wir waren gemeinsam in Fribourg«, erklärte Mara. »Im Kloster. Wir gingen in dieselbe Klasse.«
Die Erbschaft
hatte Prinz Atlanta Millionen gebracht. Er konnte es sich jetzt leisten, eine Entdeckungsreise durch wenig erforschte Gebiete anzutreten. Er war ein vorzüglicher Lichtbildner und ein guter Tierkenner, Rautenschmied machte mit, der beste Reiseschriftsteller war gewonnen. Auf der Landungsbrücke in Cuxhaven standen die Angehörigen der Weltreisenden. Der Forschungsgesellschaft hatten sich noch zwei erfahrene Männer, Doktor Rubrecht Ulmenau und ein Tropenarzt, Doktor Guido von der Gülmen, angeschlossen. Landbürger unterhielt sich angeregt mit den Abreisenden. Constanze stand dabei und suchte sich in eine gleichgültige Haltung zu bringen. Die Glocke des Dampfers Cincinnatti rief zur Abfahrt. Edgar reichte der tiefergriffenen Constanze die Hand. Der hochgewachsene ernste Mann stand vor ihr in der kleidsamen schneeweißen Tropentracht, und fragend senkten sich seine Augen in ihre unruhigen Augensterne. »Leben Sie wohl, vielleicht ist es ein Abschied für das ganze Leben.« Man winkte und schwenkte Tücher. Unbeweglich stand Edgar an der Reling. Starr richtete sich sein Blick in die Ferne, seine Gedanken waren weit, weit weg.
Aber in Gottes Namen
Ihnen ist dieser Dilettantismus nötig. Sie sahen noch nie ein paar Leute, nie ein Blatt. Denken Sie eine Frau unter der Laterne; eine Nase, ein Lichtbauch, sonst nichts. Das Licht, aufgefangen von Häusern und Menschen.
An den Schiffländen brannten schon die kleinen Laternen
In der Wohnung eines Freundes in der Spiegelgasse wollte man sich heute zusammenfinden. Mara war begierig, die Kameradin aus der Klosterzeit wiederzusehen. Ein großes, schönes Mädchen öffnete ihr. Mara sah sich unsicher in dem Raum um, der von Menschen erfüllt war und durch dessen Rauchschwaden die Blicke kaum zu dringen vermochten. Aber schon stand Wassilij vor Mara und zog sie in eine Ecke. Die Studenten nahmen langhalsige Gitarren von den Wänden und begannen zu spielen und zu singen. Mara saß tief zurückgelehnt neben Vera. Diese Lieder, das traurige Spiel der Balalaikas! Wie stieß es Mara in Heimweh und Erinnern! Es waren nur andere Worte, die die Studenten sangen.
»Ich war so glücklich, als dein Geld kam«, flüsterte Vera Mara zu, als alle in erregte Gespräche gefunden hatten. »Wir haben die Bücher ausgelöst und unsere Mäntel.«
»Was soll ich tun, Vera? Es quält mich, daß du entbehren sollst.«
»Es sollte dich quälen, daß Hunderttausende entbehren«, rief Wassilij plötzlich, der offenbar ihrem Gespräch gelauscht hatte.
»Siehst du!« rief der Student mit der tiefen Stimme triumphierend Wassilij zu: »Man muß an die natürliche Güte des Menschen glauben. Nur der Staat ist ein Monstrum.«
»Wir werden nicht ruhen, bis nicht jedem der volle Ertrag seiner Arbeit gehört, den die stehlen, welche die Produktionsmittel in Händen haben!« rief Vera, ihre eingefallenen Wangen glühten auf.
Oft kam es nun vor, daß Mara das Gefühl einer Schuld überfiel, weil die Rente des unbekannten Mannes in London sie jeder Sorge um ihren Unterhalt enthob, und sie erkannte, was sie von ihren Freunden schied. Es schmeckte zuerst nach Abenteuer, daß sie wegen ihrer Geschenke an Vera mit einer sehr geringfügigen Summe durch den Monat kommen mußte. Jetzt aber war es nicht mehr möglich, ein Buch zu erstehen, das sie in einer Auslage gesehen hatte; sie mußte ihre Vermieterin, die ihr die Wäscherechnung überreichte, auf den kommenden Monat vertrösten. Wesentlicher war, daß es seit der Begegnung mit Vera unmöglich schien, weiterhin das Leben der unbekümmerten Studentin zu führen. Hatte Mara ein Recht, zu bestimmen, wieviel sie von ihrem Gelde behalten durfte, seit sie wußte, daß andere hungerten? »Wir nehmen Ihr Angebot an«, hatte ihr Wassilij bei ihrem letzten Besuch gesagt, weil sie ihm erklärt hatte, sie überlasse es ihm und Vera, den angebotenen Betrag für sich und Kameraden zu verwenden. »Vergessen Sie nur nicht: man kann sich niemals loskaufen von der Schuld an der großen Not. Mit Geld allein nicht, Mara.«
ein schwerbeladener Ziegelwagen
von der Seydelstraße herkommend, passierte gegen fünf Uhr den Spittelmarkt. Als er die Kurve nahm, um in die Leipzigerstraße einzubiegen, fuhr er gegen die Bordschwelle und schlug um. Dem Kutscher gelang es, abzuspringen; aber der schwere Wagen, aus dem die Steine herausstürzten, lag mitten über das Gleis der Straßenbahn. Mit der den Berlinern eigenen Beflissenheit, sich dahin zu drängen, wo ohnehin wenig Raum vorhanden ist, schoben sich die Leute im dichten Kreis um die Unfallstätte. Der Zufall wollte, daß um diese Zeit Arbeiter den Spittelmarkt kreuzten, die von einer Gewerkschaftsversammlung kamen. Da weder die Straßenbahnwagen von der Leipzigerstraße, noch vom Spittelmarkt vorwärts konnten, war eine Verkehrsstockung großen Stils entstanden. Zum Überfluß keilten sich in das Getümmel noch ein paar Motoromnibusse, schwere Kasten, so daß die Stauung der Wagen sich bald zu einem unentwirrbaren Tohuwabohu verfilzte. Die Kutscher schrien durcheinander, zerrten und stießen bald hier, bald da. Unterdessen hatten sich Schutzleute in größerer Zahl eingefunden; sie drängten die Menge von den Bordschwellen der Trottoirs zurück und forderten durch ihre aufgeregte Ungeschicklichkeit mehr als ein Spottwort heraus.
Die müßige Menge schwoll immer mehr an, und begann zu schimpfen. Die Situation wurde unangenehm, als durch die recht enge Niederwallstraße ein Rudel halbwüchsiger, angetrunkener Burschen eindrang, sich mit Püffen und Rippenstößen durch die Menge arbeitete und dabei johlte, gröhlte und brüllte. Einen davon bekam ein Schutzmann zu packen, und es entspann sich eine solenne Prügelei. Da rückte von der Gertraudenstraße her eine größere Abteilung von Schutzleuten zu Fuß und eine kleinere Berittener ein. Ein Teil von ihnen besetzte die Wall-, ein anderer die Seydel- und Beuthstraße, so daß die direkten Ausgänge nach Osten und Süden gesperrt waren. Die Leipzigerstraße war wegen der Ansammlung der Wagen nahezu unpassierbar, die Niederwallstraße gar zu eng, als daß durch sie eine schnelle Entleerung des Platzes hätte stattfinden können.
Ein Teil der Menge suchte in den Läden und Restaurationen Zuflucht zu finden. Aber die Besitzer schlossen die Türen ab. Die Glastür zu einem Magazin wurde von der drängenden Menge eingedrückt. Als ein Schutzmannspferd allzu dicht an einen kräftigen Mann in Arbeitstracht heranschnaubte, griff der nach den Zügeln. »Vorwärts, vorwärts!« riefen die Schutzleute und trieben die Menge immer rücksichtsloser an. Die Säbel sausten auf die notgedrungen Zögernden herab und trafen auf Hüte, Schultern, erhobene Hände. Auf einmal sprang ein Pferd rücklings in die Höhe, fiel hart nieder und bedeckte den Reiter. »Wenn noch irgend welcher Widerstand geleistet wird, lasse ich scharf einhauen!« rief mit weithin schallender Stimme ein Polizeioffizier.
»Gemeinheit, Roheit!« Die Menge geriet in Rage. Die Kräftigsten arbeiteten wütend mit Händen und Füßen, pufften links und rechts um sich und schleuderten mit brutalen Stößen die Schwächeren von den Trottoirs. Auf die einen stürzten sich die Fußschutzleute; die andern drängten Berittene mit Hieben wieder in die Menge zurück. Alte Leute wurden zu Boden gerissen; Frauen bluteten und schrien. Angreifer und Angegriffene wälzten sich in dichter Verschlingung auf der Erde, Schutzleute fuchtelten mit den Klingen bald in scharfen, bald in flachen Hieben dazwischen.
Unterdessen war die Kunde von dem Tumult durch die Stadt gedrungen. In entlegeneren Gegenden bildete sich das Gerücht, die Straßenbahnwagen führen nicht mehr, die Menge habe die Führer zum Absteigen gezwungen. Das wurde geglaubt, und darum wurde es nachgeahmt. In der Frankfurter Allee warf man einen Fleischerwagen um, so daß die Straßenbahn zu halten gezwungen war. Gegen Abend war der Aufruhr so weit gediehen, daß Militär aufgeboten werden mußte. Nach Mitternacht entstand auf unerklärliche Weise ein großes Schadenfeuer in der Fabrik von Pietsch, die einen ganzen Block für sich einnahm. Der Feuerwehr gelang es, einen Teil der Baulichkeiten zu erhalten; die Säle, in denen die kostbarsten Maschinen aufgestellt waren, fielen der völligen Zerstörung anheim.