Kitabı oku: «Nachgelassene Schriften / Feindanalysen», sayfa 2

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Die unterschiedlichen Versuche der Institutsmitglieder Franz Neumann, Herbert Marcuse, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, den Nationalsozialismus zu begreifen, fassen diese Gesellschaft dialektisch als eine Gesellschaft des Übergangs, die noch Kennzeichen des alten Liberalismus, aber auch Anzeichen des Neuen trägt. Die konkrete Wahrnehmung der ungeheuren Verbrechen des Nationalsozialismus verdeckt nicht die Beziehung dieser totalitären Gesellschaft zur modernen gesellschaftlichen Normalität. Manches, was Marcuse über den nationalsozialistischen Alltag sagt, klingt nicht nur wie die Vorwegnahme des »Eindimensionalen Menschen«, sondern sogar als Antizipation von Tendenzen, die erst jetzt Wirklichkeit werden. Ist die repressive Aufhebung von Tabus nicht ein Merkmal der Neuen Welt, in der wir als Zeitgenossen leben? Erscheint das Zerrbild einer befreiten Menschheit, in dem Sex und Kunst zu entgifteten stimuli einer konformistischen Ordnung geworden sind, nicht erst am Ende der Wohlstandsgesellschaft? Erst recht erinnert Marcuses Beschreibung einer Welt, in der die Emanzipation der Ökonomie die der Menschen ersetzt, an die Gegenwart der globalisierten Weltwirtschaft.

Bei Marcuses Arbeiten für das OSS handelt es sich keineswegs um vage Prophezeiungen, die auch gar nicht für eine Flaschenpost gedacht waren. Marcuse hatte noch am 11. November 1941 in einem Brief an Horkheimer8 kundgetan, daß er vom Flaschenpost-Konzept, nämlich einem »eingebildeten Zeugen« ein Zeugnis der Wahrheit zu überliefern, wie es dann in der »Dialektik der Aufklärung«9 heißen sollte, überzeugt war. Die veränderten Umstände verschoben die Akzente – auch bei Marcuse. Zu Beginn der vierziger Jahre glaubte er noch, eine politische Öffentlichkeit in den USA für ein antifaschistisches Engagement empfänglich machen zu können. Zwar scheute er den dienstlichen Charakter der Arbeit beim OSS, aber die praktischen Möglichkeiten, die sich aus seinen »Feindanalysen« ergaben, waren sein ganz persönlicher War Effort. Aus heutiger Sicht wird oft vergessen, daß zwischen der Welt des OSS und der 1947 gegründeten CIA ein radikaler Politikwechsel in den USA liegt, der die ehemaligen Rooseveltmitarbeiter nahezu unter Generalverdacht als Kommunismussympathisanten stellte. Die beiden Geheimdienste haben einen qualitativ völlig unterschiedlichen Charakter. Das Bild von einer konterrevolutionären CIA im Kalten Krieg überlagert das eines antifaschistischen und antimilitaristischen OSS. Der OSS sollte ein Kopf sein, angefüllt mit Wissen über den Feind, vor allem Deutschland und Japan, der die militärisch Handelnden berät. Die Leidenschaft brachten die Emigranten in diesen Dienst ein – eine Leidenschaft, die im beginnenden Kalten Krieg nicht mehr erwünscht war. Am 6. April 1946 berichtete Marcuse aus Washington, D. C., nach Pacific Palisades, daß seine Division kurz vor der Auflösung stünde und er sich mit einem neuen Buch befasse, das um »das Problem der ›ausgebliebenen Revolution‹ zentriert«10 sei. Politisch war Marcuse bei dem Ausgangspunkt angekommen, der ihn zum Kreis um Horkheimer gebracht hatte. Umso mehr suchte er wieder den Kontakt zu denen, die inzwischen an der Pazifikküste die Flaschenpost formuliert hatten.

Wer die »33 Thesen« in diesem Band genau liest, kann hinter allen Fehlprognosen – wie der eines 1947 aktuell bevorstehenden Krieges zwischen den zwei Blöcken und der zu erwartenden Faschisierung des Westens – die analytische Kraft sehen. Ausgehend von der Unmöglichkeit der Revolution werden die jeweiligen Gesellschaftsformationen als alternativlos begriffen. Die integrative Macht des jeweils Bestehenden vernichtet nicht nur die gesellschaftsverändernden Kollektivsubjekte, sondern droht auch der individuellen Subjektivität die Spontaneität und subversive Kraft zu entziehen. In These 13 taucht schon die Idee von Randgruppen auf, deren Leid und Elend die Harmonie der schönen Neuen Welt infrage stellen könnten. Der Theorie fällt die Aufgabe zu, die Unwahrheit des Wirklichen auszusprechen. Marcuse hat Horkheimer diese Thesen nach Pacific Palisades zugeschickt – der versprach im Dezember 1948, gemeinsam mit Adorno als Antwort eine »Art philosophischen Programms«11 Marcuse nach Washington, D. C., zuzusenden. Auch von einem neuen Deutschlandprojekt war in diesem Brief die Rede. Zu beidem ist es nie gekommen. Die Flaschenpost blieb gut verkorkt.

Anmerkungen

1

Diesen Teil der Geschichte hat als erster Alfons Söllner in »Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland«, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1982, aufgearbeitet. Inzwischen allgemeiner: Barry Katz, Foreign Intelligence Research and Analysis in the OSS, 1942 – 1945, Cambridge, Mass. 1989, Christof Mauch, Schattenkrieg gegen Hitler. Das Dritte Reich im Visier der amerikanischen Geheimdienste 1941 - 1945, Stuttgart 1999, und Petra Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen über Deutschland 1942 – 1949, München 1995.

2

Vgl. die beiden Standardwerke zur Geschichte des Instituts für Sozialforschung: Martin Jay, Dialektische Phantasie, Frankfurt 1976, und Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, München 1986. Jays noch nahe an den Intentionen Horkheimers orientierte Darstellung gewinnt für den Leser von heute nachträglich im Vergleich zu Wiggershaus’ etwas freihändigen Interpretationen seines an sich großartigen und reichhaltigen Materials an Wert.

3

Vgl. Detlev Claussen, Spuren der Befreiung – Herbert Marcuse. Ein Materialienbuch zur Einführung in sein politisches Denken, Darmstadt und Neuwied 1981

4

Nach Söllner, a.a. O., Bd. 2, S. 57.

5

Max Horkheimer an Salka Viertel, 29. 6. 1940, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 16, Frankfurt a. M. 1995, S. 726.

6

Zu Unrecht ist nach seinem Tod Herbert Marcuse als politisch optimistischer Mensch gegen den pessimistischen Theoretiker Adorno ausgespielt worden. Noch in seiner letzten öffentlichen Rede hat er im Mai 1979 in Frankfurt am Main »jede veröffentlichte Erinnerung, die nicht die Erinnerung an Auschwitz festhält« als »Flucht, Ausflucht« bezeichnet.

7

In Erinnerung an seinen 1954 bei einem Autounfall umgekommenen Freund Franz Neumann nennt Marcuse 1956 die »Erfahrung der faschistischen und nachfaschistischen Ära« eine »Wunde, die niemals heilte« (in: Franz Neumann, Demokratischer und Autoritärer Staat. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a. M. 1967, S. 7).

8

Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 17, S. 213.

9

Ebda., Bd. 5, S. 288.

10

Ebda., Bd. 17, S. 721.

11

Max Horkheimer an Herbert Marcuse, 29. 12. 1948, in: Gesammelte Schriften, Bd. 17, Frankfurt am Main 1996, S. 1050.

Abbildungen


Der siebenjährige Herbert Marcuse, seine vier Jahre jüngere Schwester Else und Mutter Gertrude Marcuse, geb. Kreslawsky, beim Sonntagsspaziergang in Berlin Charlottenburg. Marcuses Mutter wurde 1864 in Landsberg an der Warthe geboren, Marcuses Vater Carl 1864 in Greiffenhagen. Er starb 1948 in London.


Herbert und Sophie Marcuse (geb. Wertheim) 1935 in ihrer Wohnung in New York.


Seite 1 des Manuskripts von The New German Mentality.


Der Brief bezieht sich auf einen Text, den Marcuse zu Beginn seiner Arbeit beim OSS eingereicht hatte. Einige Thesen des zusammen mit Hans Meyerhoff und Franz Neumann für das OSS verfaßten und wohl im September 1943 fertiggestellten Textes hatte Marcuse bereits in den Arbeiten Die neue deutsche Mentalität und Darstellung des Feindes dargelegt. Der Originaltext Private Morale befindet sich nicht im Marcuse Archiv.


Herbert, Sophie und Sohn Peter Marcuse 1941 vor ihrem Haus in Santa Monica, Kalifornien, 218 - 18th Street.


Marcuses Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin.


Aufgrund von Marcuses Arbeit beim OSS entstand Ende der sechziger Jahre das Gerücht, er sei ein »Agent der CIA« gewesen. An der publizistischen Hetzkampagne beteiligten sich zahlreiche Zeitschriften und Tageszeitungen, darunter auch der Spiegel. Marcuses zweite Ehefrau, Inge Marcuse, sandte daraufhin den hier abgedruckten Brief an die Redaktion des Spiegel.

Die neue deutsche Mentalität

Memorandum zu einer Untersuchung über die psychologischen Grundlagen des Nationalsozialismus und die Möglichkeiten ihrer Zerstörung

Das Manuskript »New German Mentality« trägt den Untertitel »Memorandum on a Study in the Psychological Foundations of National Socialism and the Chances for their Destruction«. Es ist datiert vom Juni 1942 und das maschinengeschriebene Originalmanuskript umfaßt 63 Seiten. Marcuse beendete diese Arbeit noch vor seinem Eintritt in das Office of War Information (OWI) und das Office of Strategic Services (OSS), beide Nebenstellen des amerikanischen Geheimdienstes. Aus dem Briefwechsel mit Horkheimer geht hervor, daß Marcuse noch im Dezember 1942 überlegte, ob er die Stelle beim OSS annehmen solle oder nicht. Doch am 18. April 1943 schrieb Marcuse an Horkheimer: »Sie werden gehört haben, ich habe mich entschieden, zum OSS zu gehen«. Dort arbeiteten zahlreiche aus Nazi-Deutschland vertriebene und in die USA emigrierte Wissenschaftler. Aus dem Kreis des Instituts für Sozialforschung waren das neben Herbert Marcuse der Politologe Franz L. Neumann und der Staatsrechtler Otto Kirchheimer. Als Angestellte der amerikanischen Regierung analysierte die Gruppe der »friendly enemy aliens« die nationalsozialistische Gesellschaft. Das OSS wurde 1946 wieder aufgelöst. Bis 1954 arbeitete Marcuse in mehreren Projekten mit dem State Departement zusammen. Die vorliegende Arbeit befand sich in derselben Mappe wie »Presentation of the Enemy« und »On Psychological Neutrality«.

INHALT

1. Die beiden Schichten der neuen deutschen Mentalität

2. Die Merkmale der neuen deutschen Mentalität

3. Die gesellschaftliche Funktion der neuen deutschen Mentalität

4. Die neue Dimension der Logik und Sprache im Nationalsozialismus

5. Die psychologischen Grundlagen der neuen deutschen Mentalität

›Antibürgerlich‹? – Der deutsche Protest gegen die Zivilisation – Die ausgebliebene Revolution der Mittelschichten – Das Bündnis zwischen dem ›Unbehagen an der Zivilisation‹ und der völkischen Bewegung – Enttäuschungen und ihre Kompensation

6. Die Abschaffung des Glaubens

7. Die Transformation von Moral in Technologie

8. Drei Stadien der Gegenpropaganda

1. Die Sprache der Tatsachen – 2. Die Sprache der Erinnerung – 3. Die Sprache der Umerziehung

9. Differenzierungen innerhalb der Gegenpropaganda

Anhang

Anmerkungen

1. Die beiden Schichten der neuen deutschen Mentalität

Der Nationalsozialismus hat die Denk- und Verhaltensmuster des deutschen Volkes dermaßen verändert, daß sich die traditionellen Methoden der Gegenpropaganda und Umerziehung als unzulänglich erweisen. Die Deutschen orientieren sich gegenwärtig an gänzlich anderen Werten und Maßstäben, und sie sprechen eine Sprache, die sich von den Ausdrucksformen der westlichen Zivilisation wie auch von denen der einstigen deutschen Kultur grundlegend unterscheidet. Um eine wirksame psychologische und ideologische Offensive gegen den Nationalsozialismus lancieren zu können, müssen wir die neue Mentalität und die neue Sprache eingehend untersuchen.

Wir können innerhalb dieser neuen Mentalität zwei Schichten unterscheiden: 1. die pragmatische Schicht (Sachlichkeit, das Denken in den Kategorien von Effizienz und Erfolg, von Mechanisierung und Rationalisierung), 2. die mythologische Schicht (Heidentum, Rassismus, Sozialdarwinismus). Diese beiden Schichten sind zwei Ausprägungen ein und desselben Phänomens.

Eine kritische Analyse der neuen Mentalität ist notwendig, um die geeignetsten Instrumente für ihre Zerstörung zu finden. Für die Analyse stehen uns in der Hauptsache zwei Quellen zur Verfügung:

1. die tatsächliche Organisation der nationalsozialistisch beherrschten Gesellschaft. Wir können die neue psychische Verfassung der Menschen aus den gesellschaftlichen und politischen Institutionen erschließen, die zu ihrer Beherrschung errichtet wurden;

2. die nationalsozialistische Ideologie, d. h. die Weltanschauung, mittels derer die Nazis die neuen Institutionen und Verhältnisse erklären und begründen. Diese Ideologie kann jedoch nur im Zusammenhang mit der tatsächlichen Organisation der nationalsozialistisch beherrschten Gesellschaft verstanden werden.

2. Die Merkmale der neuen deutschen Mentalität

Wir können die neue deutsche Mentalität unter folgenden Überschriften zusammenfassen:

1. Uneingeschränkte Politisierung. Die Tatsachen sind wohlbekannt, aber eine angemessene Interpretation ihrer Reichweite und ihrer Konsequenzen fehlt noch immer. Im jetzigen Deutschland sind alle auf das individuelle Leben bezogenen Motive, Probleme und Interessen mehr oder weniger direkt politischer Natur, und ihre Verwirklichung ist ebenfalls eine unmittelbar politische Handlung. Gesellschaftliche und private Existenz, Arbeit und Freizeit sind gleichermaßen politische Aktivitäten. Die traditionellen Schranken zwischen Individuum und Gesellschaft sowie zwischen Gesellschaft und Staat sind gefallen. Aber es wäre ganz falsch, in dieser Politisierung den Höhepunkt deutscher Staatsvergötzung, Autoritätsgläubigkeit oder antiindividualistischer Tendenzen zu sehen. Vielmehr stellt die nationalsozialistische Politisierung aller Lebensbereiche eine Wiederbelebung bestimmter Formen jener terroristischen Politisierung dar, die für die Revolution der Mittelschichten in den westeuropäischen Ländern typisch waren. Dabei wurde der ›Bourgeois‹ zum politischen Bürger, zum Citoyen, dessen Leben darin besteht, Geschäfte zu machen, eine Tätigkeit, die ihrerseits eine politische Angelegenheit darstellt.

2. Uneingeschränkte Desillusonierung. Das Nazisystem hat die Deutschen dazu erzogen, all das, was sich nicht durch Fakten bestätigen läßt, als ideologisches Manöver zu betrachten, das nur dem Ziel dient, die wirklichen Fronten und Kräfte im Kampf nach innen und nach außen zu verschleiern. Dieser Prozeß macht vor der Weltanschauung der Nazis selbst keineswegs Halt: der Zynismus, der diese Weltanschauung durchdringt, hat auch diejenigen ergriffen, von denen man annimmt, daß sie an das glauben, was ihre Führer ihnen erzählen. Die Deutschen glauben an diese Weltanschauung nur insoweit, als sie in ihr eine wirksame Angriffs- und Verteidigungswaffe sehen. Mit Ausnahme der ganz jungen und ganz alten Anhänger des Nationalsozialismus weiß jeder, der an die nationalsozialistische Weltanschauung glaubt, daß es sich dabei um eine Ideologie handelt.1

3. Zynische Sachlichkeit. Als der Nationalsozialismus die deutsche Gesellschaft durchorganisierte, um sie auf den totalen Eroberungskrieg vorzubereiten, hat er die dergestalt mobilisierte Bevölkerung mit einer Rationalität durchtränkt, die alles an den Kriterien von Effizienz, Erfolg und Nützlichkeit mißt. Der deutsche ›Träumer‹ und ›Idealist‹ ist zum brutalsten ›Pragmatiker‹ geworden, den die Welt je gesehen hat. Er betrachtet auch das totalitäre Regime einzig unter dem Gesichtspunkt des eigenen direkten materiellen Vorteils. Er hat seine Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen an die vom Nationalsozialismus zu einer machtvollen Eroberungswaffe geschmiedete technologische Rationalität angepaßt. Er denkt in quantitativen Verhältnissen: in den Kategorien von Geschwindigkeit, Geschicklichkeit, Energie, Organisation, Masse. Der Terror, der ihn unablässig bedroht, befördert diese Mentalität: er hat gelernt, mißtrauisch und gewitzt zu sein, jeden Schritt sofort und blitzschnell abzuwägen, seine Gedanken und Ziele zu verbergen, seine Handlungen und Reaktionen zu automatisieren und dem Rhythmus der alles durchdringenden Reglementierung anzupassen. – Diese Sachlichkeit bildet das eigentliche Zentrum der nationalsozialistischen Mentalität und das psychologische Ferment des Nazisystems.2

4. Neuheidentum. Der pragmatische Zynismus, mit dem die im Nationalsozialismus verbreitete Sachlichkeit durchtränkt ist, wurde zu einer Revolte gegen die Grundsätze der christlichen Zivilisation zugespitzt. Für das deutsche Volk konkretisierten sich diese Grundsätze zuletzt in der Weimarer Republik und der Arbeiterbewegung. Die Nazis haben die Arbeiterbewegung von Anbeginn mit den Ideen des Christentums in Verbindung gebracht: Humanismus, Menschenrechte, Demokratie und Sozialismus wurden in der Nazi-Ideologie zu Elementen einer Gesamtheit.3 Dieses seltsame Gemisch konnte zustandekommen, weil die deutsche Arbeiterbewegung seit dem Ersten Weltkrieg integraler Bestandteil der demokratischen Kultur geworden war. Folglich teilte die Arbeiterbewegung auch das Schicksal dieser Kultur; und die Nazis nutzten die Tatsache, daß die Weimarer Republik ihre Versprechungen nicht erfüllen konnte, um Mißtrauen und Haß gegen die höchsten Ideen der christlichen Zivilisation schlechthin zu schüren, wobei sie in breiten Schichten der deutschen Bevölkerung auf Zustimmung stießen. Die Nazis brauchten dabei nur an das tiefsitzende Gefühl der Enttäuschung zu appellieren, das aus den Erfahrungen seit dem Ende des Ersten Weltkriegs erwachsen war. Der Aufstand gegen die christliche Zivilisation reflektiert eher den neuen Geist der Ernüchterung als den der ›deutschen Metaphysik‹.

Dieser Aufstand äußert sich auf unterschiedliche Weise: als Antisemitismus, Terrorismus, Sozialdarwinismus, Antiintellektualismus, Naturalismus. Sie alle sind Ausdruck einer Rebellion gegen die schrankensetzenden, transzendentalen Prinzipien der christlichen Morallehre – gegen die Freiheit und Gleichheit der Menschen, gegen die Unterordnung der Macht unter das Recht, gegen die Idee einer universalistischen Ethik. Diese Rebellion hat in Deutschland Tradition und wirkte in allen typisch deutschen Bewegungen: in Luthers Protestantismus, in den ›faustischen‹ Elementen der deutschen Literatur, Philosophie und Musik, in den Aufständen der Befreiungskriege, bei Nietzsche und in der Jugendbewegung. Aber der Nationalsozialismus hat die metaphysischen Implikationen dieser Rebellion zerstört und die Rebellion selbst zu einem Instrument seiner totalitären Bestrebungen gemacht.

5. Verschiebung tradierter Tabus. Um diese Rebellion für ihre Zwecke nutzen zu können, mußten die Nazis einige der Tabus angreifen, die die christliche Zivilisation im privaten und gesellschaftlichen Leben errichtet hatte. Am augenfälligsten ist dabei der Angriff gegen bestimmte sexuelle, familiäre und moralische Tabus.4 Wir werden allerdings sehen, daß sie nicht abgeschafft, sondern nur verschoben worden sind. Die daraus resultierenden Konzessionen sind ebenso trügerisch wie die Emanzipation von der christlichen Moral, denn zugleich sind die Tabus im Hinblick auf andere, besser geschützte Verhältnisse und Institutionen verstärkt worden.

6. Mit dem Fortgang des Krieges wird die deutsche Bevölkerung in zunehmendem Maße von einem katastrophischen Fatalismus beherrscht, der die Stellung des nationalsozialistischen Regimes eher festigt als schwächt. Die Deutschen scheinen die Vernichtung des Hitlerreichs mit der Vernichtung an sich, das heißt, mit der endgültigen Zerstörung Deutschlands als Nation und Staat, mit dem endgültigen Verlust jeglicher Sicherheit, mit dem Absinken des Lebensstandards unter die Inflationsrate zu identifizieren. Diese Angst vor der Katastrophe ist eine der stärksten Bindungen zwischen den Massen und dem Regime.5

Wir wollen nun die Elemente der neuen deutschen Mentalität im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Formierung der Gesellschaft – jedoch lediglich unter dem Aspekt der Zerstörung dieser Mentalität – interpretieren.6

3. Die gesellschaftliche Funktion der neuen deutschen Mentalität

Der Nationalsozialismus kann als typisch deutsche Form der ›Technokratie‹, d. h. als die nationalspezifische Anpassung der Gesellschaft an die Erfordernisse der Großindustrie begriffen werden. Weitergehend ließe sich sogar behaupten, daß der Nationalsozialismus die erste und einzige ›Revolution der Mittelschichten‹ in Deutschland gewesen ist. Da diese Revolution mit der Entwicklung der Großindustrie einherging, hat sie vorangegangene Entwicklungsstufen übersprungen oder in sich zusammengefaßt. Der Nationalsozialismus hat die Reste des Feudalismus beseitigt. Die Tatsache, daß er die Konzentration des Großgrundbesitzes mit allen Mitteln gefördert hat, steht dazu nur scheinbar in Widerspruch, denn diese Konzentration ist weniger ein feudalistischer als ein kapitalistischer Vorgang. Darüber hinaus hat der Nationalsozialismus die relativ unabhängige Stellung all jener Gruppen zunichte gemacht, die der Entwicklung zum Großunternehmen hinterherhinkten. Betroffen sind vor allem kleine und mittlere Unternehmen sowie der Handels- und Finanzbereich. Hier ist der freie Markt überall staatlicher Reglementierung unterworfen worden. Der Nationalsozialismus hat die Arbeiterschaft in den Herrschaftsbereich der Industrie eingegliedert, die Hindernisse, welche die Sozialgesetzgebung einer solchen Eingliederung in den Weg gestellt hatte, beseitigt und statt dessen direkte politische Kontrollmöglichkeiten geschaffen. Die gesetzmäßige Verfaßtheit der Organe von Arbeitnehmern und Arbeitgebern wurde ebenso abgeschafft wie das Recht auf die freie Aushandlung von Verträgen und zur politischen Vertretung. Der Nationalsozialismus hat industrielle, ministerielle und halboffizielle (Partei-)Bürokratie miteinander verschmolzen und den Staat somit an die Erfordernisse des industriellen Apparats angepaßt. Durch die Politik einer europaweiten imperialistischen Expansion ist dieser Apparat zu seiner vollen Leistungsfähigkeit aufgelaufen. Diese umfassende Anpassung der gesellschaftlichen Institutionen und Verhältnisse hatte eine ebenso umfassende Anpassung der individuellen wie der kollektiven Moral und Psychologie zur Folge. Noch in ihren irrationalsten Ausprägungen ist die neue Mentalität das Ergebnis einer totalitären ›Rationalisierung‹, die alles, was der rücksichtslosen wirtschaftlichen und politischen Ausbeutung in Gestalt moralischer Hemmnisse, Vergeudung und Ineffizienz im Wege steht, beseitigt.

Die Analyse der neuen Mentalität wird zeigen, daß a) diese Mentalität Ausdruck nicht etwa einer abstrusen Philosophie, sondern einer hoch rationalisierten gesellschaftlichen Organisationsform ist, b) die Schlußfolgerung, die neue Mentalität werde zusammen mit dem Nationalsozialismus verschwinden, voreilig ist. Diese Mentalität entspricht nämlich einer gesellschaftlichen Organisationsform, die mit dem Nazisystem nicht identisch ist, auch wenn dieses ihre aggressivste Ausdrucksform darstellt.

Überdies ist es angesichts der gesellschaftlichen Funktion dieser Mentalität höchst unwahrscheinlich, daß sie einfach auf den Status quo ante zurückgeschraubt werden kann, denn sie ist dem neuesten Stand von Technologie, Großindustrie und Konzernorganisation so perfekt angepaßt, daß jeder Rückfall hinter diesen Stand dem allgemeinen Trend der internationalen Entwicklung widersprechen und zu einer Quelle ständig wiederkehrender Krisen und Konflikte werden müßte. Die uneingeschränkte Politisierung begleitet den innerhalb eines tradierten gesellschaftlichen Rahmens sich vollziehenden Übergang zu einer Planwirtschaft, während Desillusionierung, zynische Sachlichkeit und die Verschiebung überkommener Tabus die spezifisch deutschen Züge der technologischen Rationalität bilden. Das Neuheidentum schließlich hat die Aufgabe, die psychischen und emotionalen Widerstandskräfte gegen die rücksichtslose imperialistische Eroberungspolitik zu brechen. Die ganze Mentalität ist die des Zuspätgekommenen, der mit terroristischen Methoden in das verbunkerte Machtsystem einzudringen versucht.

Es gibt noch andere Gründe, die gegen eine Rückkehr zum Status quo ante sprechen. Sie liegen in der neuen Mentalität selbst. Die heutzutage in Deutschland herrschende Haltung der Sachlichkeit, die jeder Bewertung zugrundeliegt, läßt Hitler immer noch in milderem Lichte erscheinen als die Weimarer Republik. Die deutsche Bevölkerung betrachtet mehrheitlich Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte dort, wo diese Ideen sich nicht in materieller Sicherheit und einem angemessenen Lebensstandard niederschlagen, als reine Ideologie. Die Weimarer Republik konnte diese Ideen nicht verwirklichen, und solange die deutschen Massen selbst nicht von ihnen profitieren, interessiert es sie nicht, was in den anderen Demokratien geschieht.7 In Nazideutschland herrscht Vollbeschäftigung, und die Massen leiden noch keinen Hunger. Natürlich werden die zunehmenden kriegsbedingten Entbehrungen und die schrecklichen Verluste das Naziregime immer unpopulärer machen – doch nicht zugunsten des Status quo ante. Auch hier ist die Bewertung ganz und gar pragmatisch: Der Krieg ist der deutschen Bevölkerung als geschäftliches Unternehmen geschildert worden, als hohe und mit furchtbaren Risiken behaftete Investition, zu der es indes keine Alternative gibt und deren Anfangserfolge vielversprechend sind.8 Mittlerweile sind ganze Nationen der Ausbeutung durch die Nazis unterworfen worden, und auch der Mann auf der Straße profitiert von der Beute. Darüber hinaus hat es den Anschein, als würde der technische Charakter der modernen Kriegsführung das Gewicht des moralischen Faktors vermindern und eine Fortsetzung der Operationen auch bei stark gesunkenem ›Kampfgeist‹ erlauben.

Die Macht des Naziregimes über das deutsche Volk beruht auf seiner effektiven und erfolgreichen Kriegsführung. Folglich muß man, um diese Macht zu brechen, die Nazis militärisch besiegen. Aber es gibt nicht die geringste Garantie dafür, daß der Sturz des Regimes die Wurzeln jener nationalsozialistischen Mentalität beseitigt, aus denen das Regime seine Lebensfähigkeit bezieht. Diese Mentalität wird erst dann verschwinden, wenn die Vorherrschaft der mit dem Regime und, mehr noch, mit dessen Motiven und Zielen auf Gedeih und Verderb verbundenen Gruppen beseitigt wird. Sie wird, anders gesagt, erst verschwinden, wenn die Errungenschaften des Naziregimes (Vollbeschäftigung und materielle Sicherheit) in einer wahrhaft demokratischen Gesellschaftsordnung aufgehoben sind. Um den Boden dafür vorzubereiten, ließe sich die neue Mentalität vielleicht durch die Nutzbarmachung jener Elemente beeinflussen, die über die nationalsozialistische Form ihrer Realisierung hinausweisen. Dabei handelt es sich in erster Linie um die pragmatische Sachlichkeit und die uneingeschränkte Politisierung. Das heißt natürlich nicht, daß die nationalsozialistische Weltanschauung und Propaganda kopiert oder an andere Inhalte angepaßt werden sollten. Jedes Zugeständnis in diese Richtung würde als Zeichen der Schwäche erscheinen und den Glauben an die Überlegenheit des Naziregimes stärken. Vielmehr muß gezeigt werden, daß der Nationalsozialismus selbst die Motive und Impulse, aus denen die neue Mentalität erwächst, notwendigerweise unbefriedigt läßt, daß er jene Mächte der Unterdrückung, die besiegt zu haben er vorgibt, selber verkörpert und daß die Befreiung jenseits der neuen Ordnung und zugleich jenseits des Status quo ante liegt. Eine wirkungsvolle Gegenpropaganda muß eigene Inhalte und eine eigene Sprache finden und darf keine Anleihen bei der neuen Ordnung oder dem Status quo ante machen. Die Gegenpropaganda muß auf die neue Mentalität antworten, ohne ihr zu entsprechen.

Wir haben diese Mentalität bislang als einheitliches Phänomen behandelt; wir haben vom ›deutschen Volk‹ ohne Berücksichtigung seiner schichtspezifischen Differenzierung gesprochen. Das ist eine allzu grobe Vereinfachung, und bei der Entwicklung der Gegenpropaganda muß man unbedingt die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten und ihre jeweiligen Interessen bedenken. Wir werden eine solche Differenzierung später vornehmen. Allerdings ist es gerechtfertigt, sie im Rahmen einer Gesamtskizze zunächst zu vernachlässigen. Die reglementierte Rationalisierung der deutschen Gesellschaft ist auch insofern totalitär, als sie die Denk- und Verhaltensmuster aller Gesellschaftsschichten einander angleicht, die sich mittlerweile im Hinblick auf ihre Interessen nicht mehr voneinander unterscheiden. Ausgenommen von dieser Entwicklung ist nur der aktive Widerstand. Zudem hat der Nationalsozialismus die sozialen Gegensätze in einem solchen Ausmaß ›vereinheitlicht‹, daß die große Mehrheit der Bevölkerung der kleinen Führungsclique aus Industriellen und Regierungsmitgliedern gegenübersteht.9 Außerhalb dieser Clique sind alle derselben autoritären Organisation unterworfen, von der ihr Leben abhängt, gleichgültig, ob sie in der Fabrik arbeiten oder im Laden, im Büro oder auf dem Lande, ob sie zu Hause sind oder im Rathaus, im Verein oder im Theater, im Krankenhaus oder im Konzentrationslager. Allerdings folgt aus dieser Zweiteilung in Führungsclique und übrige Bevölkerung nicht, daß letztere grundsätzlich oppositionell eingestellt wäre. Die Dinge liegen etwas komplizierter. Es gibt nämlich kaum eine gesellschaftliche Gruppe, die nicht über ihr materielles Interesse auf die eine oder andere Weise mit dem Funktionieren des System verbunden wäre, und wo diese Bindungen sich lockern, werden sie durch nackte Gewalt ersetzt. Vielmehr bezeichnet die Dichotomie die beiden Pole der Machtverteilung: Die Politik wird von der herrschenden Clique bestimmt, die die internen Interessenkonflikte ausficht und Kompromisse beschließt, während alle anderen Gruppen zu einer umfassenden Gesamtorganisation zusammengeschlossen werden, die die Ausführung dieser Politik garantiert. Innerhalb dieser reglementierten Massen ist der aktive Widerstand (d. h. jene Kräfte, die das System und nicht nur die mehr oder weniger zufällige Zusammensetzung seiner Führungsschicht bekämpfen) über die Fabriken und Werften, Baukolonnen und Arbeitslager, Berufsschulen und Gefängnisse verstreut. Diese Widerstandsgruppen brauchen keine ›Propaganda‹; entsprechende Bemühungen werden sie über die gleichgeschaltete Masse der Bevölkerung ohnehin erreichen.

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Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
236 s. 11 illüstrasyon
ISBN:
9783866743526
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