Kitabı oku: «Meine Advents- und Weihnachtsgeschichten», sayfa 2
Als ich zurück zu meinem Platz ging und mir mein Geschenk genauer ansah, stutze ich. Wie seltsam, das gleiche Einpackpapier hatte doch vor einigen Tagen auch in unserem Wohnzimmerschrank gelegen – wahrscheinlich liegt es auch jetzt noch dort, oder etwa nicht?
Dann stimmte Onkel Pitt fröhlich das Lied „Nikolaus ist ein guter Mann“ an, das er dann auch am lautesten sang. Wir Kinder sangen – wahrscheinlich aus Erleichterung – ebenfalls aus voller Brust mit.
Zum Abschied erhob der Nikolaus würdevoll seine weiß behandschuhte Hand und mit einem erhabenen Abschiedsgruß verschwand er in der dunklen Winternacht.
Der Knecht Ruprecht konnte es sich jedoch nicht verkneifen, beim Hinausgehen meiner Mutter einen kurzen Hieb mit der Rute zu versetzen. Er hinkte, als er in gebückter Haltung das Zimmer verließ – fast genau so, wie Herr Plum, unser Nachbar im Parterre. Bestimmt hatte das nichts zu bedeuten und war nur ein Zufall.
Einige Fragen beschäftigten mich für den Rest des Abends und nachher noch weiter im Bett. Wieso hatte der Nikolaus meiner Mutter beim Hinausgehen lächelnd mit einem Auge gezwinkert? Kannte er meine Mutter? Und wo war eigentlich mein Vater? Niemand schien ihn vermisst zu haben.
Das angestrengte Nachdenken ließ meine Augen zufallen – vielleicht würde ich dieses Rätsel ja bis zum nächsten Nikolausabend gelöst haben.
Den „echten Hasen” haben meine Eltern einem lieben Nachbarn geschenkt. Meine Mutter hätte das arme Tier nicht anfassen, geschweige denn zubereiten können und keiner von uns hätte auch nur einen Bissen davon gegessen.
Ende
Mein Engel
Es zieht mit Melodien ein Engel durch den Raum.
Und wer ihn einmal hörte, vergisst ihn deshalb kaum.
Er hat noch keine Flügel, der Engel mit Musik,
sonst käme er noch schneller zu allen mit dem Glück.
Das ist dabei sein Kummer, zu allen möchte er gehen,
und das sehr viele Male, das fände er erst schön.
So muss er sich bescheiden, die Flügel sind oft lahm,
doch wer ihn sah und hörte, der merkt ihm das nicht an.
Der Name von dem Engel? Name ist Schall und Rauch!
Gott kennt die Engel alle, und ich kenn ihn auch.
(unbekannter Verfasser)

Der Engel mit den grauen Haaren
Der Rettungswagen raste mit hohem Tempo durch die Straßen in Richtung Krankenhaus. Das Martinshorn schallte in den engen Straßen der Fußgängerzone und das Blaulicht spiegelte sich gespenstisch in den Fensterscheiben der Geschäfte. Die wenigen Passanten, die an diesem späten Sonntagnachmittag in dicke Winterkleidung eingehüllt, durch die Straßen schlenderten, sprangen zur Seite oder wendeten sich von den kunstvollen Dekorationen in den Schaufenstern ab. Betroffen und neugierig schauten sie dem Rettungswagen hinterher. Manche dachten vielleicht:
„Hoffentlich ist es niemand aus unserer Familie oder aus unserem Freundeskreis.“
Doch sobald das Blaulicht und das Martinshorn nicht mehr die Lethargie der Stadtmenschen störte, war der Schrecken vergessen und man widmete sich wieder den Auslagen der Geschäfte oder führte das unsanft unterbrochene Gespräch mit seiner Begleiterin oder seinem Begleiter fort.
Obschon erst am folgenden Sonntag der erste Adventssonntag wäre, war es bereits bitterkalt Viele Menschen hegten daher die Hoffnung, dass es dieses Jahr endlich einmal wieder eine weiße Weihnacht geben würde. Bereits jetzt verbreiteten die glitzernden Sterne der vor einigen Tagen angebrachten Weihnachtsbeleuchtung eine vorweihnachtliche Stimmung. Auch die Geschäftswelt hatte sich wieder einmal früh auf Weihnachten eingestellt und die Schaufenster entsprechend prachtvoll dekoriert.
Dies alles konnte die Patientin im Rettungswagen nicht wahrnehmen. Wie gerne hätte sie sich in Weihnachtsstimmung versetzen lassen. Aber das Schicksal schien andere Pläne mit ihr zu haben. Für sie ging es zunächst um Leben und Tod. Vor dem geöffneten Rolltor der Notfallambulanz endete die waghalsige Fahrt dieses Notfalleinsatzes. Die Rettungssanitäter und der Notarzt sprangen aus dem Wagen und öffneten die hintere Flügeltür. Mit sicheren Handgriffen zogen sie die Trage heraus. Ein Krankenhausarzt, gefolgt von einer Krankenschwester und zwei Pflegern, übernahm die Patientin.
„Rachel-Seraphina Schmitz, 84 Jahre, vermutlich Gehirnschlag“, war der knappe Kommentar des Notarztes vom Rettungswagen.
„Ungewöhnlicher Name“, kommentierte der Krankenhausarzt und beugte sich über die Patientin.
„Na ja, ungewöhnlich? Ich weiß nicht so recht. Schmitz ist doch rheinischer Adel und nicht ungewöhnlich“, konnte sich der Rettungssanitäter, der neben dem Krankenhausarzt stand, nicht verkneifen leise zu bemerken.
„Natürlich die Vornamen … Rachel, Seraphina“, entgegnete der Krankenhausarzt dem altklugen Sanitäter mit einem tadelnden Seitenblick.
Die beiden Krankenpfleger übernahmen den weiteren Transport und brachten Rachel-Seraphina Schmitz im Laufschritt schnell ins warme Krankenhaus, denn in ihren weißen Kitteln hatten sie nicht viel der Kälte entgegenzusetzen.
*
Wo bin ich, dachte Oma Schmitz. Sie hatte das Gefühl, sich in einem Berg weißer Federn zu befinden. Tatsächlich lag sie nur in einem normalen, weißen Krankenhausbett, und war zugedeckt mit einer weichen Bettdecke. Sie versuchte umherzuschauen – nichts. Sie konnte nichts erkennen. Es umgab sie eine gleichförmig, starke Helligkeit. Weit entfernt vernahm sie Gemurmel. Die Verursacher dieser menschlichen Laute konnte sie ebenfalls nicht ausmachen.
Sie besann sich auf ihren Körper und probierte ihre Gliedmaßen zu bewegen. Nichts geschah. Jetzt das andere Bein, die rechte Hand, die linke Hand und zuletzt den Kopf. Nichts konnte sie bewegen.
Sie lag in Federn gepackt im gleißenden Licht und konnte sich nicht rühren.
Dann will ich mal jemanden rufen, der mir erklären kann, was mit mir los ist, dachte sie ärgerlich. So sehr sie sich auch bemühte, ihre Lippen, ihre Zunge und ihre Stimmbänder gehorchten ihr nicht mehr. Was war bloß mit ihr geschehen?
Na ja, hab` ein wenig Geduld – das wird schon wieder. Vielleicht träume ich nur und wenn ich aufwache, ist alles vergessen und wieder in Ordnung. So leicht lässt sich eine Rachel-Seraphina nicht unterkriegen, dachte sie.
*
Als ihre Eltern ihr die Namen Rachel und Seraphina gegeben hatten, geschah das nicht unbedacht. Ihr Vater war ein äußerst gläubiger Mensch. Während der Schwangerschaft ihrer Mutter hatten ihre Eltern nie über einen möglichen Namen gesprochen. Sie wollten zuerst abwarten, ob ihr erstes Kind ein Junge oder ein Mädchen war.
„Ist sie nicht ein Engel!“, rief ihr Vater nach der Geburt voller Stolz.
„Sie soll auch den Namen eines Engel erhalten“, entschied er spontan.
Ihre Mutter wagte nicht zu widersprechen, obschon sie nicht so stark mit dem Glauben verbunden war und sich eher einen weltlichen Namen für ihre Tochter gewünscht hätte.
„Rachel, soll sie heißen. Das ist der Name eines Engels der dritten Hierarchie. Also ein Engel der letzten Ordnung, der den Menschen am Nächsten steht. Gewissermaßen ein Schutzengel“, beschloss ihr Vater, wobei auf seinem Gesicht ein verklärtes Lächeln lag.
Ihrer Mutter war bewusst, dass dies für ihren Mann ein Kompromiss ihr gegenüber war, denn der Engelsname Rachel kam einem weltlichen Namen sehr nahe.
„Rachel ist einer der großen Engel des Humors und des Selbstvertrauens. Schau nur wie sie lacht. Später wird sie bestimmt Humor und Selbstvertrauen haben. Der Engel Rachel sorgt dafür, dass wir Mäßigung und Leichtigkeit haben, mit der wir alle negativen Ereignisse in unserem Leben ertragen können und uns davon nicht einschüchtern lassen“, erklärte er seiner Frau.
Ihr Vater sollte Recht behalten. Die Eigenschaften des Engels Rachel spiegelten sich im Laufe des Lebens in Gemüt und Charakter seiner Tochter wieder.
Rachel hatte kurz nach dem Krieg einmal zu ihrem Vater gesagt, als dieser verwundet aus der Gefangenschaft heimgekommen war: „Es gibt Dinge im Leben, die einfach unaufgefordert kommen und nicht angenehm für uns sind. Wir sollten sie annehmen, so wie sie sind, denn wir können sicher sein, das alles seinen Sinn hat.“
Aus diesen beiden Sätzen erkannte ihr Vater ihre große Stärke, negative Ereignisse so zu ertragen, dass sie sie nicht zerbrechen würden. Wenn er bisher noch Zweifel gehabt hätte, den richtigen Namen gewählt zu haben, jetzt war er überzeugt, dass er für seine Tochter mit Rachel keinen besseren Namen hätte wählen können.
Der Name Rachel allein war ihrem Vater aber nicht genug. Nur ein Name als ein großzügiges Entgegenkommen gegenüber seiner Frau reichte ihm nicht aus. Es sollte noch ein zweiter Name her, und der musste es in sich haben.
„Seraphina soll ihr zweiter Vorname sein. Ein Engel der ersten Engelshierarchie. Ein sechsflügeliger Engel an Gottes Thron. Die Wahl dieses Namens soll der Dank an Gott für die Geburt einer gesunden Tochter sein.“
So wurde es entschieden von ihrem Vater. Eine Widerrede oder der Versuch, vielleicht einen weiteren Kompromiss herbeizuführen, war ausgeschlossen.
*
„Frau Schmitz lächeln Sie bitte einmal“, drang eine männliche Stimme, wahrscheinlich die eines Arztes, an das Ohr von Oma Rachel-Seraphina Schmitz und riss sie aus ihren Gedanken.
Keine Zelle meines Körpers kann ich bewegen und jetzt soll ich auch noch lachen. Das kann auch nur ein Mann verlangen, der überhaupt kein Einfühlungsvermögen hat, dachte sie. Ich werde dem etwas husten. Keine Mine werde ich verziehen.
„Typisches Symptom eines Gehirnschlags. Kein beidseitiges Lächeln“, sagte die männliche Stimme.
Weder ein beidseitiges noch ein einseitiges Lächeln werde ich dir zeigen, entschied Oma Schmitz, obschon ihr keine der beiden Varianten möglich war.
„… Koma … Gehirnstammschädigung …“
Als diese Worte an ihre Ohren drangen, war ihre bis dahin unerschütterliche Leichtigkeit mit einem Male dahin.
Es schien, als ob doch etwas Schlimmeres mit mir geschehen sei. Vielleicht schlägt bald mein letztes Stündlein, dachte sie mit einem innerlichen, zufriedenen Grinsen. Habe ich doch ein langes, erfülltes Leben gehabt. Eine Tochter geboren, die ich liebe und die mich liebt. Mit Jan und Lea habe ich zwei reizende kleine Enkelkinder. Was will ich mehr? Nein, beklagen kann ich mich nicht. Und schließlich geht es irgendwann mit Jedem einmal zu Ende.
Mit diesen Gedanken war sie wieder dem Engel Rachel sehr ähnlich, der die Leichtigkeit besitzt, schwere Schicksalsschläge im Leben mit Würde zu ertragen – und sei es sogar der eigene Tod.
In den nächsten Stunden war sie geistig abwesend. Sie nahm nicht mehr wahr, was die Ärzte mit ihr anstellten und was um sie herum vor sich ging. Nicht einmal ihren Gedanken ging sie nach. Sie hatte sich mit ihrem Schicksal abgefunden, so wie es war. Sie war zufrieden und wartete – auf das Ende.
*
„Oma wieso liegst du hier im Bett?“, tönte die piepsige Stimme eines kleinen Mädchens durch das Krankenzimmer.
„Mama, wieso liegt Oma hier und sagt nichts?“
„Sei still, wir sind schließlich hier im Krankenhaus und Oma ist krank.“
„Ja, aber wieso sagt sie denn nichts? Sie schaut mich auch gar nicht an. Was hat sie denn?“, fragte jetzt auch ihr etwas älterer Bruder.
„Wenn ihr jetzt nicht augenblicklich den Mund haltet, werdet ihr draußen im Auto auf uns warten und Fernsehen ist gestrichen“, drohte eine tiefe Männerstimme.
Zuerst begann das Mädchen zu weinen und verbarg ihr Gesicht im Wintermantel ihrer Mutter. Dann machte der Junge ein beleidigtes Gesicht und verzog sich an den Besuchertisch in der Ecke des Zimmers.
„Wieso muss du auch immer so streng und unfreundlich zu den Kindern sein? Was muss meine Mutter von uns denken, wenn sie dich hört?“, schalt die Frau ihren Mann mit gedämpfter Stimme.
„Ach, was soll`s. Sie hört uns doch sowieso nicht. Der Arzt hat doch gesagt, sie läge im Koma“, erwiderte ihr Mann schroff.
Die Bewegung, die er dabei mit seinem Kopf machte, drückte die Verachtung aus, die er für seine Schwiegermutter empfand.
„Sprich doch nicht so laut, die Kinder! Außerdem kannst du gar nicht sicher sein, ob Oma nichts mitbekommt“, flüsterte seine Frau und machte dabei ein so besorgtes Gesicht, dass ihre kleine Tochter, die gerade ihre Mutter ansah, das Schluchzen vor Schreck einstellte.
„Siehst du, die Kinder bekommen alles mit“, warf sie ihrem Mann vor, und drückte ihre Tochter fest an sich.
„Wenn sie etwas mitbekäme, würde sie doch reagieren.“
„Ja, ja, mag sein“, lenkte seine Frau ein und schaute besorgt das versteinerte Gesicht ihrer Mutter an.
„Ach, Karl. Wie soll das bloß weitergehen?“, stöhnte sie.
„Keine Ahnung. Auf jeden Fall hat sie dafür gesorgt, dass unser Weihnachtsfest dahin ist. Womöglich stirbt sie noch vorher, dann können wir alles vergessen“, regte sich ihr Mann auf und warf seine Arme unkontrolliert in die Luft.
„Ja, aber da kann sie doch nichts dafür“, entgegnete seine Frau vorwurfsvoll.
„Natürlich kann sie dafür. Wieso verhält sie sich nicht, wie es sich für eine alte Dame gehört. Immer nur mit Freundinnen unterwegs, die viel jünger sind als sie. Immer nur Feiern und Partys. Dann kann ein Schlaganfall in diesem Alter doch nicht ausbleiben.“
Er schnaufte laut und vernehmlich.
„Hätte sie sich ruhig verhalten, wie andere Frauen in ihrem Alter, könnten wir jetzt unbeschwert Weihnachten feiern.“
„Du bis ungerecht, wie immer. Wieso soll sie keinen Spaß mehr im Leben haben? Sie ist doch noch so rüstig.“
„Na klar, rüstig. Das sehe ich.“
Karl ging aufgeregt vor dem Bett seiner Schwiegermutter auf und ab.
„Voriges Jahr wollte sie nicht zu uns kommen. Da hatte sie etwas Wichtigeres mit ihrer Freundin vor. Wir waren ihr sicherlich nicht unterhaltsam genug. Und dieses Jahr kann sie nicht kommen, weil sie sich wahrscheinlich übernommen hat und jetzt hier liegt.“
Wenn Karl anfangs nur schlechte Laune gehabt hatte, so hatte er sich jetzt in Rage geredet.
„Komm, wir gehen. Was sollen wir noch hier? Ich glaube, die Kinder wollen auch nach Hause.“
„Du bist lieblos und hast keinerlei Gefühl – wie auch mir gegenüber“, klagte die Frau und Tränen standen ihr in den Augen.
Eva war unglücklich. Sie warf ihrer Mutter einen letzten, kurzen Blick zu, schüttelte leicht den Kopf und folgte ihrem Mann, der bereits die Kinder vor sich her aus dem Zimmer schob.
„Papa, Papa wir müssen doch der Oma noch auf Wiedersehen sagen!“, protestierten beide Kinder.
Aber sie hatten keinen Erfolg. Ihr Vater schob sie unerbittlich weiter.
Die Zimmertüre fiel laut ins Schloss und Ruhe breitete sich wieder in Oma Rachels Krankenzimmer aus.
Die Zufriedenheit, die sich bei Rachel-Seraphina vor dem Besuch ihrer Kinder und Enkel ausgebreitet hatte, war dahin. Bereits als sie die vertrauten Stimmen ihrer Enkel vernahm, war ihre Apathie wie weggewischt und ihre Wachsamkeit voll vorhanden.
Wie gerne hätte sie es gehabt, wenn ihre Familie sie in die Arme genommen hätte. Noch viel lieber hätte sie ihrem Schwiegersohn einige passende Worte gesagt oder zumindest hätte sie gerne mit einem Fuß aus Wut kräftig gegen das Bettgestell getreten.
Aber nichts war möglich. Sie konnte ja noch nicht einmal ein Auge öffnen, damit sie die Besucher sehen konnte. Jetzt weinte sie in Gedanken, ohne tatsächlich eine Träne vergießen zu können.
Was war nur mit ihrer Familie geschehen. Keine Liebe mehr ihr gegenüber – aber schienen die Eheleute keine Liebe mehr gegenseitig zu empfinden.
Wieso hatte sie das bisher nie bemerkt? Das war doch nicht erst so, seitdem sie hier lag. Sie hatte sich das Weihnachtsfest schön, friedlich und harmonisch im Kreise der Familie vorgestellt.
Was waren das immer für ein schöne Weihnachtsfeste, als ihre Tochter noch ein Kind war, oder die ersten Jahre, als ihre beiden Enkelkinder noch klein waren. Als die kleine Lea um den Tannenbaum krabbelte und der kleine, schmächtige Jan aufgeregt durchs Zimmer lief.
Sicher, auch sie hatte Fehler gemacht. Wie konnte sie nur letztes Jahr Weihnachten ihre Freundin vorziehen und mit ihr den Heiligen Abend verbringen, obschon ihre Tochter sie am dritten Adventssonntag ebenfalls eingeladen hatte? Natürlich, ihre Freundin wäre ganz allein gewesen und sie hatte Mitleid mit ihr. Natürlich, die Einladung ihrer Tochter kam spät. Aber auch eine große Portion Sturheit, ihre getroffene Entscheidung zu ändern, war Schuld an dem Streit danach. Ihre Familie hatte damals ihre Entscheidung nicht billigen können. Sie wiederum hatte kein Verständnis für die Verärgerung ihrer Familie aufbringen können. Die Entscheidung des anderen zu respektieren oder gar zu verzeihen, dazu war keine Seite bereit. Niemand hatte ein klärendes Gespräch gesucht. Die Gespräche verliefen danach meist einsilbig. Mit der Zeit ließen die gegenseitigen Besuche nach, bis sie irgendwann ganz aufhörten. Aus Trotz traf sie sich immer öfter mit irgendwelchen, angeblichen Freundinnen und genoss das Leben. Sie hatte nie überlegt, wie ihr Verhalten bei ihrer Familie ankam. Es war ein schwerwiegender Bruch entstanden, besonders zu ihrem Schwiegersohn. Ein Bruch, der bisher nicht gekittet worden war. Dass sich die Eheleute immer öfter stritten, auch ihretwegen, hatte sie nicht mitbekommen.
Und jetzt? In einer ruhigen Stunde, als sie den Trubel mit ihren Freundinnen leid war und der Verlust ihrer Familie sie immer mehr schmerzte, besann sie sich. Sie wollte dieses Jahr zu Weihnachten alles besser machen und das gut machen, was sie im vergangen Jahr verbockt hatte.
Was war aus diesem Vorsatz geworden? – Nichts!
Sie lag hier und konnte nichts tun. Sie liebte ihre Tochter, ihren Schwiegersohn und ihre Enkel über Alles und sie wusste, dass diese Liebe grundsätzlich erwidert wurde. Es benötigte nur einen Anstoß oder ein offenes Wort und es wäre wieder gut.
Womöglich würde sie sterben, ohne noch einmal ihre Familie in den Arm genommen und sich zu versöhnt zu haben.
*
Oma Rachel-Seraphina wurde geplagt von einer zunehmenden inneren Unruhe. Ihr gesundheitlicher Zustand hatte sich verschlechtert. Die Ärzte hatten sie bereits vor vielen Tagen mit Schläuchen an Maschinen angeschlossen, die sie am Leben erhielten. Ihr Rücken schmerzte und nach wie vor konnte sie kein Glied bewegen oder sich auf irgendeine Art bemerkbar machen.
Sie wusste nicht, wie viele Tage oder Wochen sie schon in diesem Bett lag. Vermutlich würde bald Weihnachten sein.
Ihre Tochter, ihren Schwiegersohn und ihre Enkel hatten sie nach dem ersten Besuch nicht mehr gesehen. Vielleicht hatten sie auch keine Zeit, redete sie sich ein. Gerade in der Vorweihnachtszeit gab es doch immer so viel zu erledigen. Womöglich kommen sie vor Weihnachten noch einmal vorbei – bestimmt aber an einem der Weihnachtstage. Bis dahin würde sie wohl noch durchhalten.
Für Rachel-Seraphina ging wieder ein Tag zu Ende, obschon sie nicht wahrnahm, ob es Tag oder Nacht war. Für Sie war jeder Tag, jede Nacht, jede Stunde und jede Minute gleich. Geschlafen hatte sie schon lange nicht mehr.
Manchmal galoppierten ihre Fiktionen davon, weit zurück in die Vergangenheit und manchmal in die unbekannte, dunkle Zukunft. Zuweilen versuchte sie, ihre Gedanken in die Bahnen zu lenken, die ihr angenehm erschienen. Sie wollte sich dann friedliche, liebevolle und positive Gedanken machen – sie wollte einfach nur zufrieden und glücklich sein. Aber warum war es nur so schwer, das eigene Gehirn zu kontrollieren?
Sobald ihre Konzentration nachließ, machten sich ihre Grübeleien wieder selbstständig und sie haderte wieder mit sich, weil sie die Zeit nicht genutzt hatte, sich mit ihrer Familie auszusöhnen. Sie zwang sich dann, sich nicht von den negativen Gedanken ins Bodenlose ziehen zu lassen.
Was war nur los mit ihr? Sie fühlte sich ihrer Gedankenwelt beinahe ausgeliefert! Wie war das möglich? Ließ ihre mentale Kraft immer mehr nach? Ging es womöglich zu Ende mit ihr?
Sie fröstelte seelisch, wogegen sie körperliche Wärme und Kälte nicht mehr empfand.
Was war das? Es fühlte sich wie ein Windzug an und riss sie aus ihrer Grübelei und ihrer Kopfarbeit.
Eine schwarz gekleidete Gestalt stand am Fußende ihres Bettes. Wie war das möglich, dass sie das plötzlich sehen konnte? Sie hatte doch bisher nichts in ihrer Umgebung erkennen können.
Um den fleischlosen Schädel der Gestalt spannte sich eine schwarze Kapuze. Das Gewand, das von seinen Schultern herabfiel, war ebenfalls tiefschwarz. Anstelle der Augen und der Nase hatte das Wesen sich schwarze Löcher und der Anblick der gelben, zusammengebissenen Zähne ließen Rachel-Seraphina schaudern.
Langsam hob die Gestalt den rechten Arm und eine knochige Hand reckte sich aus dem Ärmel seines Umhangs in ihre Richtung. Der Zeigefinger krümmte sich und Rachel meinte, das Knacken und Krachen der Knochen zu vernehmen.
„Rachel-Seraphina es ist Zeit. Ich bin gekommen, dich zu holen.“
Die Worte kamen fast flüsternd aus dem Mund, ohne dass sich die gelben Zähne auseinander bewegten.
„Aber ich muss doch noch einmal mit meiner Familie reden“, sagte Rachel-Seraphina in weinerlichem Tonfall.
Sie war gar nicht erstaunt darüber, dass sie plötzlich reden konnte. Auch überraschte es sie nicht, dass sich ihr Körper straffte und sie mit fester Stimme sagte: „Du kommst zu früh! Ich kann jetzt noch nicht mit dir gehen. Komm später noch einmal, dann bin ich vielleicht bereit.“
„Aber Rachel, du kannst mir keine Anweisung erteilen. Ich habe einen klaren Auftrag, den ich erfüllen muss.“
„Steht in deinem Auftrag auch ein Datum?“, fragte Oma dreist.
Die Gestalt kratzte sich verlegen an ihrem knochigen Schädel.
„Nein, das nicht, aber …“
„Kein aber. Ich mache dir einen Vorschlag: Ich gehe heute noch nicht mit dir. In ein paar Tagen ist bestimmt Weihnachten, danach kannst du nochmals vorbeischauen und dann werde ich dir ohne Zögern folgen.“
Mit leiser Stimme fügte sie hinzu: „Ich hoffe, ich habe mich bis dahin mit meiner Familie versöhnt.“
„Du willst mit mir handeln? Na ja, so einfach geht das aber nicht. Aber nun gut, ich bin ausnahmsweise einverstanden, weil wir in wenigen Tagen die Geburt des Herrn feiern. Ich gebe dir bis zum Ende des Weihnachtsfestes Zeit. Nutze diese Zeit, und kläre, , was du zu klären hast. Eine Fristverlängerung kann ich dir dann nicht mehr geben. Diese Frist ist endgültig. Es wird dich noch heute jemand abholen und am Ende des Weihnachtsfestes ist endgültig D-Day.“
So plötzlich, wie die Gestalt erschienen war, war sie auch wieder verschwunden. Lediglich ein Windzug strich über Rachel-Seraphinas Haut. Aus der Ferne hörte sie noch den Satz: „Und nutze die dir gewährte Zeit gut!“
Dann war es wieder still in ihrem Krankenzimmer und sie war allein.
Rachel-Seraphina überlegte angestrengt: D-Day, was soll das heißen? Egal, er hatte offensichtlich ihren Vorschlag angenommen. Wer sollte mich wohl abholen? Und wohin soll ich mitgehen? Doch vor Allem, wie kann ich mich mit meiner Familie aussöhnen, wenn ich hier im Bett liege und kein Körperteil bewegen kann?
*
Im Nachhinein vermochte Rachel-Seraphina nicht einzuschätzen, wie lange sie wieder regungslos und apathisch in ihrem Bett gelegen hatte.
Plötzlich zupfte jemand an ihrer Bettdecke. Erschrocken drehte sie ihren Kopf zu der entsprechenden Seite. Zuerst konnte sie niemanden ausmachen. Bis erneut ein Zupfen an ihrer Bettdecke sie veranlasste, ihren Blick etwas zu senken.
Neben ihr, auf der rechten Seite des Bettes, stand ein kleiner Junge, nur bekleidet mit einem weißen Lendenschurz. Er war von schmächtiger Gestalt und lange, blond-gelockte Haare fielen fast bis auf seine schmalen Schultern. Seine Augen waren wunderschön himmelblau. Sie waren so faszinierend, dass Rachel-Seraphina nicht aufhören konnte sie anzustarren.
„Guten Abend, Rachel“, sagte der Junge mit hoher Kinderstimme.
Die kindliche, freundliche Stimme bewirkte, dass sie zusammenzuckte und sich ihr Blick von den Augen abwandte. Sofort fiel ihr auf, dass der Junge sie nicht mit ihrem vollen Vornamen ansprach, sondern den Vornamen verwendete, mit dem auch ihre Familie sie ansprach und der ihr vertraut war.
„Ja, wer bist du denn?“, fragte Rachel-Seraphina erstaunt.
„Ich bin Gabriel der 62.“
„Gabriel der 62.?“
„Ja, Gabriel der 62.“, wiederholte der Junge und lächelte.
„Was bedeutet „der 62.?“, fragte Rachel-Seraphina neugierig.
„Gabriel der 62. bedeutet, dass ich der 62. Erzengel mit dem Namen Gabriel bin, der in diesem Jahr in den Himmel eingezogen ist.“
„Und wieso kommst du zu mir und sprichst mich nur mit meinem ersten Vornamen Rachel an?“
„Du weiß doch, die Namen aller Erzengel enden auf „el“, was so viel wie „strahlen“ bedeutet, und sobald du das Licht des Himmels erblickst, wirst du einer von uns werden.“
Oma Rachel sah den kleinen Erzengel Gabriel den 62. ernst an.
„Ich frage dich: Was willst du von mir oder was kann ich für dich tun?“
„Du hast mit „Ihm“ eine Vereinbarung getroffen. Du sollst dir deinen größten Wunsch erfüllen, und versuchen, dich mit deiner Familie zu versöhnen. Ich werde dir dabei helfen.„Er” lässt dir bis zum Ende des Weihnachtsfestes Zeit. Dann wird „Er“ dich holen.“
Oma Rachel, der designierte Erzengel, erinnerte sich und nickte.
„Man hat mir den Auftrag gegeben, dich heute abzuholen. Komm, Rachel“, sagte der Engel und streckte die Hand nach Rachel aus.
„Wer hat dir diesen verrückten Auftrag gegeben?“
„Nun, ich denke der Auftrag ist nicht verrückt. Die Schutzengel von Eva deiner Tochter, von Karl deinem Schwiegersohn und die Schutzengel deiner Enkel Jan und Lea haben mich beauftragt und unser Chef hat dem zugestimmt.“
„Und wie soll das gehen?“, fragte Rachel ungläubig und schluckte, als sie die Namen ihrer Lieben vernahm.
„Ganz einfach. Du gibst mir deine Hand und schließt die Augen. Alles andere musst du nicht wissen. Wenn du später bei uns bist, wirst du verstehen, was geschehen ist.“
Oma Rachel konnte nicht so ganz glauben, was hier geschah. Trotzdem reichte sie dem kleinen Engel wie in Trance ihre Hand und schloss ganz fest die Augen. Gabriels Hand fühlte sich wohlig warm an. Mit ihrer viel größeren Hand umschloss sie die Hand des kleinen Engels und hielt sie ganz fest. Ihr Körper fühlte sich mit einem Male vollkommen leicht an, als würde sie schweben.
„Du kannst die Augen wieder öffnen“, drang die helle Stimme von Gabriel dem 62. plötzlich an ihr Ohr.
Rachel öffnete die Augen und sah sich um. Gabriel hatte ihre Hand losgelassen.Träumte sie? Wo war sie?
Sie stand in einem riesigen Raum. Nein, ein Raum im herkömmlichen Sinne war das nicht. Es sah aus, als seien die Wände aus weicher, flauschiger Watte. Nach oben schien der Raum keine Begrenzung zu haben. Sie blickte in die unendlichen weiß-blauen Weiten des Firmaments. So etwas Wunderbares hatte sie noch nie gesehen.
Vor ihr stand ein alter Mann, in einem bis zum Boden reichenden weißen, glatten Gewand. Sein Gesicht war von Falten durchfurcht und sein kurzes Haare war grau. Der Mann wirkte direkt sympathisch auf sie. Nicht nur, weil sein Äußeres dem ihren sehr glich. Nein, das war es nicht allein. Seine Augen waren es. Sie strahlten die gleiche Faszination aus, wie die Augen von Gabriel: stahlblau, freundlich und neugierig mit eigenartigem Schalk.
„Ich begrüße dich im Reich der Erz- und Schutzengel, Rachel“, sagte der alte Mann mit freundlicher Stimme.
Rachel sagte nichts. Sie war zu beeindruckt von all dem, was sie sah.
„Schau, ein kleiner Teil unserer Engel möchte dich bei uns begrüßen. Es sind nur wenige Engel hier. Alle anderen sind im Einsatz bei euch Menschen. Du kannst dir sicher vorstellen warum: Weihnachtsarbeit und Weihnachtsstress.“
Der Mann lächelte und wies mit dem Arm zur Seite.
Rachel folgte der Geste und schaute in die Richtung, in die der Mann zeigte.
Da standen Sie, eine Schar junger Frauen, wahrscheinlich Engel – aufgereiht und gekleidet in kurze, weiße Gewändern, sie winkten Rachel zu. Alle hatten gelocktes, goldenes Haar, das bis zur Schulter reichte. Die glatten, weißen Gewänder endeten weit über ihren Knien und gaben wohlgeformte, lange, hübsche Beine preis. Von der Gruppe der Engel ging ein merkwürdiges Strahlen aus, das wie eine Glocke über ihnen lag.
„Alle einmal aufgepasst. Das hier ist Rachel – eine Praktikantin. Sie wird bis zum Ende des Weihnachtsfestes bei uns sein.“
„Sei gelobt und willkommen“, sangen die Engel mit ihren hellen Stimmen und lächelten ihr herzlich zu.
Trotzdem war Rachel geschockt. Sie – eine Praktikantin mit 84 Jahren! Ihr fehlten die Worte, um etwas zu ihrer Vorstellung zu sagen oder auch nur den herzlichen Gruß der Engel zu erwidern.
Als sie den Glanz der Engel sah, erinnerte sie sich in welchem Aufzug sie war, als der Erzengel Gabriel der 62. sie abholte. Langsam, fast schüchtern, blickte sie an sich herab. Sie stand da in ihrem blass-blauen Krankenhaushemd. Ihr biologisches Alter hatte Spuren an ihren Beinen hinterlassen, die sie jetzt im Vergleich mit den Engeln schmerzhaft bemerkte.
Sie hob einen ihrer nackten Füße und rieb ihn verlegen an der Wade des anderen Beins. Sie kannte ihr Spiegelbild und wusste, dass ihr Haar so grau wie das Haar des Mannes vor ihr war. Sollte sie sich als grauhaariger Engel um die Belange der Senioren auf der Erde kümmern? Sie war sich sicher, hier fehl am Platz zu sein.
„Du musst dich nicht schämen. Die Engel dort drüben sahen genau so aus, als sie zu uns kamen“, sagte der alte Mann, der Rachels Unbehagen bemerkte.
„Komm mit mir. Ich möchte dich mit einigen besonderen Engeln bekannt machen.“
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.