Kitabı oku: «Trost», sayfa 3

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Schicksalsschläge und Katastrophen

ML: Manche Menschen werden vom Leben geschlagen. Ich erinnere mich an eine Frau, die mich konsultierte, weil sie Probleme mit ihrer behinderten Tochter hatte. Wir sprachen über die Probleme, die das Mädchen in der aufkommenden Pubertät hatte. Im Laufe des Gesprächs erfuhr ich mehr über das Schicksal der Frau. Sie hatte schon einmal eine Tochter gehabt, die in dem Alter, in dem sich nun die jetzige befand, auf einem Ferienlager das Opfer eines Mordanschlags geworden war. Genau am ersten Todestag der ersten Tochter wurde die zweite Tochter geboren. Bis zum zweiten Lebensjahr entwickelte sie sich völlig normal, dann trat plötzlich eine Entwicklungseinschränkung auf. Sie ging von Pontius zu Pilatus, kein Arzt konnte ihr sagen, wodurch die Behinderung ausgelöst worden war. Die Ehe der Frau zerbrach, wie so oft, wenn ein behindertes Kind in einer Familie da ist. Es faszinierte mich, wie gelassen und selbstverständlich diese Frau ihr Schicksal trotz der belastenden Geschichte angenommen hat.

Wir verwenden das Wort Schicksal nur, wenn wir die Illusion verwerfen müssen, unser Leben im Griff zu haben. Für diese Illusion sind wir bereit, sehr viel aufzuwenden, auch wenn wir damit letztlich nicht erfolgreich sein können. Vieles ist stärker, als wir es sind. Das Wort Schicksal bedeutet, dass wir dem Leben ausgesetzt sind. Auch wenn es uns nicht bewusst ist – eigentlich sind wir immer dem Leben ausgesetzt.

HG: Wir reden auch nur dann von einem Unglück, wenn etwas Unvorhersehbares passiert, dem wir hilflos gegenüberstehen. Das brutal Hereinbrechende macht uns zu schaffen. Mit einem Schlag ist alles anders. Unglücke melden sich nicht an – Verkehrsunfälle, Krebserkrankungen, Naturkatastrophen, Epidemien und vieles mehr. Blühende Städte und Regionen können plötzlich von Krieg und Terror überrannt und verwüstet werden. Denken wir an Syrien und einige andere Länder nach dem Arabischen Frühling. Plötzlich ist alles anders – im nahen Lebensumfeld und im großen Weltgeschehen. „Wie ein Weber hast du mein Leben zu Ende gewoben. Du schneidest mich ab wie ein fertig gewobenes Tuch.“ Dieser schöne und zugleich traurige Satz war in einer Parte zu finden, Teil eines Gebetes des alttestamentlichen Königs Hiskia (Jes 38,12).

Das Tuch des Lebens ist fertiggewoben, die zur Verfügung stehenden Fäden und Farben sind verbraucht, sind eingewoben in das Tuch, das nun das Leben selbst ist. Um die Qualität einer Handarbeit zu überprüfen,hat meine Mutter die bestickten Tücher oder Decken umgedreht, um die Hinterseite zu betrachten. Für den Laien ist dort nur ein schwacher Abklatsch des schönen Dekors auf der Schauseite zu sehen, viele abgeschnittene Fäden, ein paar ansatzweise erkennbare Muster, einzelne Verknüpfungen, aber mehr nicht. Mir gefällt dieses Bild: Wir sehen in unserem Leben meist ausschließlich die Rückseite von Ereignissen. Ihre mögliche Bedeutung und die Schönheit des Ganzen erkennen wir höchstens im Fragment.

ML: Obwohl wir wissen könnten, dass uns alles, aber auch wirklich alles passieren kann, halten wir viele negative Wendungen des Lebens für nicht möglich. Aber unser Leben besteht aus beidem: aus dem Vorhersehbaren und auch aus dem Nicht-Vorhersehbaren.

Die Unterseite des Lebens, von der du sprichst, ist der geheime Webplan unseres Lebens, den wir nicht kennen können, der sich – wenn überhaupt – nur indirekt aus unseren Lebenserfahrungen erschließt. Nehmen wir unsere Lebenserfahrungen ernst? Wie oft sind wir über Verhaltensweisen von nahen Menschen immer und immer wieder empört, obwohl wir es schon wissen könnten! Wie oft essen oder trinken wir das Falsche, vielleicht zu viel, obwohl es uns jedes Mal im Magen liegt? Wir könnten unseren geheimen Webplan kennen, wenn wir unsere Erfahrungen ernst nehmen würden. So würden wir gegen vieles, was uns immer wieder schicksalshaft begegnet, gerüstet sein. Die eigenen Erfahrungen zu ignorieren heißt, im Blindflug durchs Leben zu reisen.

HG: Ich möchte nochmals das Buch Ijob erwähnen. Es gehört zu den großen Schätzen der Weltliteratur. Schonungslos wirft der Leidende sein Unverständnis und seinen Schmerz auf Gott zurück: „Den Kreis meiner Freunde hast du mir zerstört. Du hast mich gepackt. Mein Verfall erhebt sich und tritt als Zeuge gegen mich auf.“ (Ijob 16,7f.) Das sind keine frommen Worte, aber gerade darin liegt der Durchbruch zu einer inneren Freiheit. Durch diese ehrliche Passage hindurch, ohne Schönrederei und Verharmlosung des Schmerzes, tut sich ein Korridor der Zuversicht auf.

ML: Wirkliche Katastrophen ziehen uns den Boden unter den Füßen weg. Ich habe noch eine andere Metapher für mich selbst formuliert: Ich stelle mir mein eigenes Selbst als Haus vor, das tragende Wände hat, aber auch Wände, die bloß zur internen Abgrenzung dienen und veränderbar sind. Es gibt negative Ereignisse, die mir zwar wehtun und mich verletzen, die mich aber nicht nachhaltig beeinträchtigen. Sie betreffen die nichttragenden Mauern, die die Hüter meiner Intimsphäre sind. Wenn aber die tragenden Mauern von einem Ereignis in Mitleidenschaft gezogen werden, dann bin ich insgesamt infrage gestellt. Mein Lebensraum ist bedroht, ich kann mich in diesem Haus nicht mehr finden, habe die Heimat verloren. Ein Gefühl tiefgehender Verlorenheit stellt sich ein.

HG: Lebensentwürfe liegen in Scherben. Ist es möglich, mit dem Leidenden eine solche, existentiell bedrohliche Verlorenheit auszuhalten – manchmal bis hin zum Punkt der Gottverlassenheit, an dem jeder „unerschütterliche“ Optimismus verdächtig wird? In diesen Momenten stützt mich der Blick auf Jesus, der dieser tiefsten Verlassenheit nicht ausgewichen ist. Bei seinem Tod am Kreuz hat er sie durchlitten. Eli, Eli, lema sabachtani?, das heißt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46) Mit diesem Vers aus dem Psalm 22 hat Jesus nach seinem Vater geschrien und mit diesem Schrei alle Abgründe menschlicher Verlassenheit berührt. In äußerster Verzweiflung hat er sich durch alle Mauern der Einsamkeit hindurch an ein Du gerichtet. Der zitierte Psalm endet mit Zuversicht. Für uns bedeutet die geheimnisvolle Gottverlassenheit Jesu am Kreuz, dass auch in der letzten Einsamkeit eine Berührung mit Gott möglich ist …

ML: … eine letzte Geborgenheit. Wie tröstlich für den, der dazu einen Zugang hat! Wir müssen uns offenbar in die Verletzungen hineinbegeben, um sie zu überwinden. Ich denke an einen Freund, der keine Partnerin hat und sehr darunter leidet. Er klagt darüber, dass er niemanden hat, der ihn begrüßt, wenn er nach Hause kommt. Er fürchtet die Einsamkeit. Er schafft es nicht, sie zu ertragen, obwohl er ihr nicht entkommt. So bleibt die Einsamkeit für ihn ein bedrohliches Monster. Solche bedrohlichen Monster sind immer projizierte Ungeheuer, die wir uns möglichst vom Leib halten wollen und gerade dadurch in paradoxer Weise an uns binden. So wird mein Freund seine Einsamkeit nie los.

Es ist wirklich so: Wir müssen uns unseren Verletzungen stellen und quasi Freunde von ihnen werden, um sie zu überwinden.

Perfekt sein müssen

HG: Zu hohe Ansprüche und Träume von Perfektion können enormen Stress verursachen. Denken wir etwa an Szenen, die sich am Heiligen Abend abspielen. Alles wird perfekt arrangiert, um der ersehnten harmonischen Idylle Genüge zu tun. Es scheint jedoch wie vorprogrammiert, dass diese Inszenierung platzen wird. Vielleicht sind es nur ein paar nervige Aktionen der Nachbarn oder Kinder, die nicht „mitspielen“. Schon allein der emotionale Druck kann etwas an die Oberfläche bringen, das bereits längere Zeit gegoren und in einer Beziehung nicht mehr gestimmt hat. Weniger Show und dafür mehr ehrliche Begegnungen könnten einiges an Streit und Enttäuschungen vermeiden helfen. Einfach ausprobieren: weniger Hochglanz, dafür mehr Zeit füreinander. Vielleicht auch ein Wort der Entschuldigung, wenn man sich gegenseitig überfordert hat.

ML: Mehr Gelassenheit wäre gut. Sie ist teilweise auch erlernbar. Außerdem gilt für jede Familie und jedes System: Ein Perfektionsanspruch macht verletzlicher und ist störungsanfälliger als eine dynamische Ordnung, in der Fehler und mangelhafte Zustände sein dürfen. Im Nicht-Perfekten, manchmal sogar im Chaos gibt es mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Ein sicherer Weg in die Trostlosigkeit ist der Wunsch, es allen recht zu machen.

HG: Menschen arbeiten bis zum Umfallen, bleiben bis spät in die Nacht im Büro oder in der Firma. Wird das wirklich erwartet? Mit einem bewussten Weniger würden viele sich selbst und ihrem unmittelbaren Lebensumfeld wohl gerechter werden. Dahinter kann auch eine „Programmierung“ stecken. Vielleicht haben Eltern versucht, ihre ehrgeizigen Ziele, die sie selbst nicht erreichen konnten, mithilfe ihrer Kinder zu realisieren. Diesen wurde vermittelt, dass sie nur mit einem bestimmten Grad von Perfektion liebenswürdig seien. Meist wird jedoch gerade dadurch eine kreative Entfaltung der subjektiven Begabungen verhindert.

ML: Die Hemmung der Kreativität zeigt sich auch in dem verzweifelten Gefühl, nie den eigenen Ansprüchen zu genügen. Wenn du einen Perfektionisten fragst, was eigentlich „perfekt“ ist, wird er es nicht sagen können. Sein Verhalten mutet zwanghaft an. Er kann nicht, wie es die Daoisten so schön ausdrücken, mit dem großen Wasser fließen, sondern möchte das Leben in seine vorgefertigte Fassung hineinzwängen. Damit verunmöglicht er jeden Entwicklungsspielraum.

HG: Zum Leben gehören Störungen und Fehler – die vielen täglichen Ereignisse, die uns aufbauen, aber auch verletzen können. Wir sind Verursacher und Opfer unzähliger „Verwundungen“, und niemand geht ohne Schrammen und Verletzungen durchs Leben. Manche davon heilen wieder, andere bleiben unserer Seele eingeschrieben. Sie gehören zu unserer Biografie und machen unser ganz persönliches Profil aus. Sie anzunehmen macht uns menschlicher. Ich habe immer das Bild des auferstandenen Christus vor Augen, der den verängstigten Jüngern seine Wundmale zeigt. Genau daran haben sie ihn erkannt. Vor ihnen stand kein göttlicher Sunnyboy, der selbstherrlich über die Erde schwebt. Die sichtbaren Wunden, die ihm bei der Kreuzigung zugefügt wurden, haben ihr Vertrauen geweckt. Vielen ist die Diskussion rund um den „nackten Christus“ des Tiroler Bildhauers Rudi Wach bekannt. Die scheinbar provokante Kreuzesdarstellung auf der Innsbrucker Innbrücke hat jahrzehntelang für Wirbel gesorgt hat. Vordergründig haben sich die Leute an der Nacktheit gestoßen. Für mich schwer nachvollziehbar. Der eigentliche Skandal dieser Darstellung ist für mich das Fehlen der Wundmale. Ein Gekreuzigter ohne Wunden ist eine esoterische Lichtgestalt, die mit uns Menschen letztlich nichts zu tun hat. Von einem glattpolierten, „perfekten“ Christus geht kein Trost aus.

ML: Wunden zu verneinen ist eine Verdrängung von wichtiger Lebensrealität – und manchmal auch ein Schutz. Für den Perfektionisten sind Wunden inakzeptabel. Er möchte seine Vorstellungen durchsetzen, weil seine Ängste es ihm befehlen. Der Perfektionist hat etwas Autoritäres. Das ist meistens ziemlich abstoßend und in seiner Kälte trostlos.

HG: Ist es nicht gerade das Nicht-Perfekte, das uns offener, zugänglicher und verständnisvoller macht? Durch eine persönliche Schwäche, an der man leidet, kann eine innere Verbundenheit mit jemandem entstehen, der dasselbe Problem hat oder mit demselben Versagen kämpft. Durch eine persönliche „Verwundung“ kann es möglich werden, Menschen in ähnlichen Situationen und mit ähnlich schmerzvollen Erfahrungen besser zu verstehen. Wer Vergleichbares kennt, wird anders trösten können.

Selbst eine offenbar schwerwiegende Sünde kann in diesem Sinne ein Türöffner für ein Plus an Verständnis, Barmherzigkeit und Solidarität sein. Man könnte sogar sagen: Gott braucht diese Türöffner, diese Ritzen in der Wand, um uns menschlicher zu machen. Leonard Cohen singt in einem berühmten Lied genau von dieser heilsamen Bruchstelle: Forget your perfect offering. There is a crack in everything. That’s how the light gets in. Übersetzt: „Vergiss dein perfektes Opfer. Es gibt eine Bruchstelle in allem. So kann das Licht hereinfallen.“ Verständlicherweise wollen wir Bruchstellen vermeiden oder genieren uns dafür. Aber genau durch diese „undichten Stellen“, wie du es einmal formuliert hast, kann uns Gott erreichen – und das Leben neu gelingen.

ML: Ja, genau die Schwachstellen sind die Vernetzungspunkte, die Kontaktpunkte zwischen uns und den anderen, der Welt, sogar mit dem Göttlichen. In der Tat geben einem gerade die Schwächen einer Person das Gefühl, sie besser zu kennen.

Es fehlt Perfektionisten häufig an Empathie. Dahinter steht oft mangelnde Selbstliebe. Sie sind sich selbst nie genug, müssen daher immer besser werden. Wie gesagt, ein verzweifelter Versuch! Wer seine ganze Energie dafür benützt, sich selbst zu optimieren, hat meist die Hände nicht mehr frei für die Welt. Und der Perfektionist hat oft wenig Verständnis für die Schwächen anderer, da er auch den eigenen Schwächen gegenüber gnadenlos ist. Es ist grauenhaft anzusehen, wie sich eine solche Weltsicht gegen alles Lebendige stellt. Indem wir das Lebendige in der Welt nicht würdigen, entwürdigen wir uns selbst. Das ist trostlos.

Der Wahnsinn der Optimierung

ML: In vielen Unternehmen gehört es zum guten Ton, sich als Mitarbeiter ständig verbessern zu wollen. Wer sich nicht optimiert, gilt als unprofessionell. Mir wird immer wieder berichtet, dass Mitarbeiter in Gesprächen mit ihren Vorgesetzten sehr forsch und kränkend auf „Optimierungspotenziale“ hingewiesen werden.

HG: „Hat diese Person Potenzial?“ Eine scheinbar logische Frage, wenn es um verfügbare „Humanressourcen“ geht – und doch so verletzend, eigentlich entwürdigend. Sprechen wir so von Menschen? Womit rechtfertigt sich dieser durchaus übliche Optimierungsdruck, der sich auf eine fast ausschließlich ökonomische Bewertung von Personen richtet? Ausschöpfen, ausreizen, optimieren – ein irrationaler Wille zur permanenten Steigerung scheint uns anzutreiben. Glück gibt es in dieser Konzeption nur im Immer-Mehr, Immer-Besser, Immer-Schneller und Immer-Erfolgreicher. Paradoxerweise gilt gleichzeitig aber auch ein Immer-Entspannter und Immer-Cooler als maßgebliches Lebensdiktat.

Die damit ständig vermittelte Mangelerfahrung drängt zu einem Entwicklungs-, Erlebnis- und Konsumimperativ. Ein gnadenloses „Du musst!“ Der einzelne Mensch findet sich in einem trostlosen Optimierungsstress wieder, der alle Lebensbereiche erfasst, selbstverständlich auch die Freizeit. Selbst Kinder bleiben davon nicht verschont – ihre Zeit ist nahezu systematisch verplant: Fußball, Ballettunterricht, Schach, Chinesisch lernen, Gymnastik, Klavier, reiten … Diese Überfrachtung nimmt ihnen die heilsamen Momente des Alleinseins und des Leerlaufs.

ML: Die Eigen- und Fremdausbeutung ist in allen Bereichen präsent. Wir machen uns auf diese Weise zum Objekt. Sich selbst oder andere zum Objekt zu machen bedeutet immer, sich und anderen Gewalt anzutun. So einfach ist das. Faktum ist, dass kein Mensch eine „eierlegende Wollmilchsau“ ist. Das bedeutet, dass keiner auf jedem Gebiet gut sein kann. Die Energie, die wir zur Optimierung nützen, fehlt uns möglicherweise in anderen Bereichen.

Die Optimierung ist der Feind des Optimalen. Sie ist die Karotte vor der Nase, die man nie erreicht. Es ist naheliegend, dass man Menschen leicht in Abhängigkeit bringen kann, wenn man ihnen vermittelt, dass das, was sie machen, nie optimal ist, sondern stets optimiert werden müsse. So versklavt man freie Menschen und kann sie für die eigenen Ziele missbrauchen und manipulieren. Die Optimierung ist ein subtiles Folterinstrument und repräsentiert die dunkle Seite des Kapitalismus.

HG: Die permanente Optimierung der Karriere gehört hier dazu – muss doch die eigene Biografie eine Erfolgsgeschichte sein! Dem Diktat der Selbstoptimierung wird nicht selten auch der private und intimste Lebensbereich unterworfen. Zuerst trifft es meist den Körper – er muss optimal sportlich, durchtrainiert, attraktiv und sexy sein. Für viele ist es selbstverständlich, den eigenen Body zu schinden, bis die optimale Form erreicht ist. Ja, der vielfältige Körperkult verlangt seine Opfer. Dieses Diktat der Selbstoptimierung macht auch vor dem Spirituellen nicht halt – manche Meditationstechniken sind einem subtilen Leistungsdenken verpflichtet. Das Versprechen lautet, dass sich durch entsprechende spirituelle Praxis und Übung ein höheres Maß an Zufriedenheit und beruflichem Erfolg einstellen würde.

ML: Grundsätzlich ist bei aller berechtigten Kritik, die wir vorgebracht haben, gegen die Selbstoptimierung nichts zu sagen, finde ich. Es ist durchaus positiv, wenn Menschen etwas aus sich machen wollen. Sich und anderen Anreize zu setzen, um sich zu entwickeln, ist keineswegs verwerflich, ganz im Gegenteil. Was aber auffällt, ist die hemmungslose Neigung zur Selbstinstrumentalisierung, die dadurch zu entstehen droht. Der optimierte Mensch macht sich selbst zum Werkzeug, mit dem er seine Ziele verfolgt. Nicht die Selbstoptimierung als solche, sondern die Verstrickung ist das Problem. Wir verlieren in der Selbstoptimierung den eigenen Kompass.

HG: Du hast Recht. Ich möchte mit meiner Kritik am Optimierungswahn auch nicht einer bloßen Bequemlichkeit das Wort reden. Es ist in jedem Fall notwendig, an sich zu arbeiten und sich selbst zu fordern, um das Beste geben zu können. Einen unbeteiligten Schongang möchte ich nicht heiligsprechen. Dennoch sehnen wir uns nach dem Punkt, wo wir uns nicht mehr krampfhaft selbst erfinden und vor anderen präsentieren müssen.

Das letzte Gemälde Rembrandts, das sich bei seinem Tod 1669 fast fertig auf der Staffelei befand, trägt den Titel „Simeon und das Jesuskind“. Rembrandt war müde und erschöpft von der Misere seiner letzten Jahre. 1642 starb seine geliebte Frau Saskia. Das Einzige, was ihm blieb, war sein geliebter Sohn Titus, der jedoch 1668 mit 27 Jahren verstarb. Auf dem Bild liegt ein Baby auf den Armen des greisen Simeon, dessen Hände jedoch unter dem Kind hindurch nach etwas anderem zu greifen scheinen. Offensichtlich hat sich Rembrandt mit diesem Gemälde auf seinen eigenen Tod vorbereitet. Er hat in seiner Zeit die Möglichkeiten der Malerei unablässig optimiert und mit einer höchst erfolgreichen Werkstätte neue Maßstäbe künstlerischer Produktion gesetzt. In bitterer Armut beendet er sein Leben, aber reflektiert es mit dem biblischen Ereignis der „Darstellung des Herrn“. Er sieht sich im Bild des greisen Simeon, der sein Leben lang auf diese entscheidende Begegnung mit dem Messias gewartet hat: „Nun lässt du, Herr, deinen Knecht in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du allen bereitet hast, ein Licht, das alle erleuchtet.“ (Lk 1,29f.) Ein lichtvoller Abschied, nicht wahr?

ML: Ähnlich habe ich die ungeheure Erleichterung von Menschen erlebt, die endlich aus der Optimierungsnotwendigkeit aussteigen konnten. In erster Linie sind es Menschen, die gegen den Tod angekämpft haben und die, als sie erkannten, dass es keinen Sinn mehr hatte, nicht verzweifelt, sondern erstaunlich gelöst wirkten. Aber auch jenseits einer solch existenziellen Situation gibt es ähnliche Phänomene: Mir kommen zwei Personen vor das geistige Auge, die beide in ihren Firmen von Vorgesetzten gequält wurden, beide Führungskräfte, die den Optimierungsansprüchen ihrer Chefs kaum standhalten konnten. Als sie schließlich ihre Arbeit verloren, wirkten sie trotz der objektiv misslichen Situation entspannt und erleichtert.

HG: Erleichtert, obwohl sie ein Opfer der üblichen Optimierungslogik wurden. Vielleicht ist gerade diese Niederlage für sie zur Chance geworden. Was zählt denn letztlich? Wir kennen allzu gut die Versuchung einer vorschnellen Abrechnung, einer „endgültigen“ Lebensbilanz. Sie ist gefährlich, denn sie fällt entweder übertrieben selbstherrlich aus oder ist durchwachsen von Vorwürfen gegenüber Personen und Institutionen, die uns aus unserer Sicht um einen optimalen Erfolg gebracht haben. Die anderen sind schuld, dass es nicht optimal gelaufen ist. Auch eine übertriebene Selbstanklage kann Resultat einer eigenmächtigen Lebensbilanz sein. Was bleibt, ist eine bittere Trostlosigkeit. „Alles umsonst!“ Der selbsterrechnete Saldo ist nicht zufriedenstellend. Darf ich ein typisches Beispiel aus dem Tiroler Umfeld nennen? Ein für heutige Ansprüche optimaler Tourismusbetrieb wurde mit höchstem Einsatz aufgebaut, aber niemand von der Nachkommenschaft hat Lust, ihn weiterzuführen. Die neue Generation setzt ihre eigenen Prioritäten. Ist deshalb alles umsonst?

Das lateinische Wort für „umsonst“ lautet frustra. Frustrierte sind immer in Gefahr, entweder in ihrer selbstverliebten oder in ihrer selbstvernichtenden Bilanz stecken zu bleiben. Die wirklich relevante Lebensbilanz wird jedoch Gott ziehen. Das ist meine Überzeugung. In seiner nachhaltigen „Ökonomie“ geht nichts verloren. Nichts von dem, was wir an Herzblut und Lebensmühe investiert haben, war umsonst. Hundertprozentig wird sich „auszahlen“, was wir ohne Fixierung auf einen sichtbaren und sofort nachweisbaren Erfolg mit einer guten und ehrlichen Intention ausgesät und „investiert“ haben. Wie diese Lebenssaat letztlich aufgeht und die Früchte aussehen werden, wissen wir nicht.

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