Kitabı oku: «Männerrock», sayfa 2

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02 Mode als soziokulturelle Bekleidungsordnung

1 Gruppenkonformes Verhalten

2 Gesellschaftliche Kategorien und ihre Symbole

3 Sozialisation prägt normatives Verhalten

4 Neue Mode ist nonkonform

Gruppenkonformes Verhalten

Menschen mögen vereinzelt Einzelgänger sein, aber selbst dann leben sie nicht ganz und gar unabhängig von ihren Mitmenschen. Alleine auf sich gestellt ist der Mensch heute nicht überlebensfähig. Zu früheren Zeiten war das nicht anders. In der Steinzeit vom Clan ausgestoßen zu werden, kam einem Todesurteil gleich. Nur durch Kooperation in einer Gruppe ist für Menschen ein Überleben möglich.

Damit Gruppen funktionieren, braucht es Regeln, die als Normen das Zusammenleben organisieren und ordnen. Normen setzen den Wertekanon der mehrheitlichen Gesellschaft oder den des herrschenden Teils der Gesellschaft um. Sie definieren die politischen, religiösen, ökonomischen und erzieherischen Standards, die festlegen, was gedacht und geglaubt werden soll. Sie geben für alle Lebenssituationen vor, wie sich die Gruppenmitglieder verhalten und anziehen sollen. Sie schreiben einem Arzt einen weißen Kittel und einem Mechaniker den Blaumann vor. Je nach Epoche ordnen sie Krawatten den Männern und hohe Absatzschuhe den Frauen zu. Die Regeln können funktional, hierarchisch oder repräsentativ sein. Die Identifikation mit den Normen ist gewünscht. Ihre Befolgung oder Nichtbefolgung wird von der Gesellschaft verfolgt.

Mit der richtigen, konformen Kleidung weist sich der Träger als Mitglied seiner Gemeinschaft aus. Wer dem Dresscode folgt, stimmt seiner Rolle zu. Menschen ordnen sich in ihre Gruppe genauso ein wie auch Wölfe und Elefanten in ihre Rudel und Herden. Das Individuum profitiert von der Gruppe, aber es muss für die Gruppe arbeiten und gegebenfalls individuelle Bedürfnisse zurückstellen. Das Kernmerkmal von Gruppen ist die Kooperation ihrer Mitglieder zum gemeinsamen Vorteil. Dadurch hat sich solidarisches Verhalten gegenüber der Gruppe und ihren Mitgliedern evolutionär durchgesetzt. Es ist in uns angelegt und wird vererbt, wie auch bei Tiergemeinschaften. Die Gemeinschaft ist stärker und erfolgreicher als jedes ihrer Individuen und in der Regel auch stärker als die Summe der Gruppenmitglieder.

Mode als individueller Ausdruck einer Persönlichkeit gibt es nur theoretisch, wenn eine Person sich unabhängig von gesellschaftlichen Vorgaben kleidet. Praktisch gesehen besteht ein individueller Stil darin, eine Auswahl von Bekleidung aus dem Angebot zu treffen, das Hersteller gendergerecht bereitstellen. Deren Angebote sind schon mal gewagt, aber immer noch gesellschaftsfähig.

Überhaupt entstand Individualität erst mit der Erfindung von Kaminen und Schornsteinen, so dass man sich in ein Zimmer zurückziehen konnte. Davor, am offenen Feuer, war Privatsphäre fast unmöglich. Das ganze Leben war öffentlich.

Gesellschaftliche Kategorien und ihre Symbole

Menschliche Gesellschaften haben gegenüber tierischen Gesellschaften ihre eigene Sprache oder ihren eigenen Dialekt, ihre Wertvorstellungen und Ethik sowie ihre geistigen und materiellen Schöpfungen wie Kunst und Kleidung. Wenn die von einer Gesellschaft geteilten und gelebten Werte und Artefakte von Generation zu Generation weitergegeben werden entsteht Kultur. Eine gemeinsame Kultur hat gemeinsame Merkmale, die als Symbole die Menschen einer Gruppe verbindet. Gesellschaften, ihre größten Einheiten sind heutzutage in der Regel Nationen, haben charakteristische Merkmale. Modisch gehört der Kimono zum japanischen und der Sari zum indischen Kulturkreis (1).

Die Vielfalt einer Gesellschaft hängt von der Anzahl der Kategorien ab, die aufgestellt werden ihre Mitglieder einzuteilen. Jede Kategorie hat eigene Symbole, damit die Menschen dieser Untergruppe als deren Mitglieder erkennbar sind. Und es gibt spezifische Richtlinien zur Sozialisation.

Männlichen Babys werden blaue Strampler angezogen, weibliche Babys bekommen Strampler in Rosa oder mit rosa Verzierungen. Die Farben sind geschlechtlich zugeordnet und fungieren als Symbole, die dazu auffordern das männliche Baby nach den Standards für männliche Kleinkinder und das weibliche Baby nach den Standards für weibliche Kleinkinder zu behandeln. Deswegen schenken Onkel und Tanten traditionell dem Jungen z. B. einen Plüschtiger, und das Mädchen bekommt oft eine Stoffpuppe (2).

Kategorien legen ganz spezifische Sozialisationen fest. Sie stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen die Entwicklung einer Identität erfolgen darf. So definieren Kategorien die Subgruppen einer Gesellschaft. Das sind die Schubladen, in die die Menschen gesteckt werden. Das geschieht nach den Prinzipien, die sich von den Ideen und Werten philosophischer, ideologischer oder religiöser Grundsätze ableiten und Maximen der Gesellschaft sind.

In einer Kultur als gesellschaftlicher Einheit können Subkulturen entstehen. Sie repräsentieren Bedürfnisse, die nicht oder nur unzureichend von der Mehrheitsgesellschaft berücksichtigt werden. Sie sind deswegen Gegenbewegungen zum Mainstream mit eigenen Ansichten und Normen. Meist haben sie einen bestimmten kulturellen Kristallisationspunkt. Bei den Beatniks der 1960er Jahre war es Literatur. Bei den Punks ist es Musik. Bei den Skateboardern und Surfern ist es Sport (3).

Wegen der Oppositionshaltung von Subkulturen werden sie oft vom Establishment stigmatisiert und ausgegrenzt. Aus Enttäuschung und Frust über die gesellschaftliche Ignoranz ihrer Anliegen ziehen Subkulturen den Graben zwischen sich und der Gesellschaft noch tiefer. Nach dem Motto „jetzt erst recht“ werden in einer Art Trotzreaktion die Symbole der Ausgrenzung extra verstärkt.

Mit unserer Kleidung zeigen wir, wie wir zur Gesellschaft stehen, welchen Rang und Status wir darin einnehmen und welchem Geschlecht wir zuzuordnen sind. Weil Kategorien unser Prestige und unsere Privilegien festlegen, regelte die spätmittelalterliche Ständeordnung des 12.-14. Jahrhunderts bei den damals bei den Männern beliebten kurzen Röcken, wie weit und A-Linien-förmig, d. h. glockenförmig diese sein durften. Vermögende Kaufleute maßten sich trotz ihrer bürgerlichen Herkunft an, A-Linien Röcke mit vielen Falten zu tragen, was prinzipiell dem Adel vorbehalten war. Also wurde schriftlich per Verordnung für jede Standesgruppe genau festgelegt, wie viele Gehren in den Rock genäht werden durften. Gehren waren keilförmige Stoffstücke, die als lange gleichschenkelige Dreiecke - ähnlich heutigen Godets oder Zwickeln - in Einschnitte rechtwinkelig zum Saum genäht wurden. Je mehr Gehren verwendet wurden, umso mehr Falten warf der Rock. Das war beim Reiten sehr praktisch, aber natürlich ging es primär um die optische Wirkung, denn Männer wollten damals noch prächtig wirken, weil das ihre Wichtigkeit, also ihr Prestige unterstrich (4).

Jeden Morgen, wenn wir uns konform anziehen, signalisieren wir damit unsere Zustimmung zu unserer gesellschaftlich zugewiesenen Rolle. Durch die tägliche Wiederholung schleift sich unser Rollenbewußtsein ein. Wir lernen zu sein, was wir sein sollen. Wir sind, was wir sind, dadurch, dass wir tun, was wir sollen. Das Repetieren konditioniert uns. Irgendwann können wir uns gar nicht mehr anders verhalten.

Als früher europäische Landarbeiterinnen, anders als beispielsweise in China, selbst für die Feldarbeit unbequeme lange Röcke statt Hosen anziehen mussten, hat ihnen das jeden Tag bewusst gemacht, dass sie „nur“ Frauen einer unteren Klasse waren, die in einem Patriarchat lebten, wo andere die Hosen und die Macht hatten. In dem sie nicht rebellierten, sondern jeden Tag aufs Neue brav den Rock als Symbol der Unterordnung anzogen, zeigten sie die Zustimmung zu ihrem Rang in der Gesellschaft. Der Rock war ein Symbol. Ihn anzuziehen war eine Geste der Unterwerfung.

Kleidungsstücke fungieren als Symbole, die für unsere Einstellungen sprechen. Kleidung ist nonverbale Kommunikation. What you see is what you get. So zeigt ein schwarzer Anzug als Uniform der Angestellten in einem Bewerbungsgespräch, dass der Bewerber bereit ist, sich in einem Unternehmen in das Kollektiv der Mitarbeiter ein- und unterzuordnen. Wir leben die Kultur, in der wir leben, indem wir ihre Symbole wahrnehmen und durch Kleidung und Verhalten kopieren bzw. interpretieren (5/6).

Kleidung ist Kommunikation. Wer die Bekleidungsregeln verletzt, kann bestraft werden. Es gibt Fälle, wo die falsche Kleidung bei einem Gerichtstermin vom Richter als Missachtung des Gerichts geahndet wurde. Die Betroffenen mögen widersprochen haben, weil sie doch gar nichts Abfälliges gesagt hätten. „Richtig“, mag darauf der Richter erwidert haben: „Mit Worten haben sie nichts Abfälliges gesagt, aber durch die Symbole ihres Auftretens. Die sprechen für sich (7).“

Menschen fühlen sich durchaus genötigt, Normen zu befolgen. Die optische Zustimmung durch Kleidung ist dann nur vorgeschoben. Manche äußere Erscheinung ist eine Mogelpackung. Auch Trickbetrüger und Bauernfänger nutzen gerne die Symbolik eines formalen und seriös wirkenden Outfits für unseriöse Absichten. Diese Diskrepanz zwischen innerem Sein und äußerem Schein bringt die Hauptrolle des Transvestiten Frank-N-Furter in der Travestie-Komödie „The Rocky Horror Picture Show“ wunderbar auf den Punkt, wenn er über sich sagt: „Don’t judge a book by its cover“.

Statistisch gesehen stimmt aber das innere Bild mit dem äußeren Bild häufig überein. In diesen Fällen ist die Symbolsprache der korrekten Kleidung so wichtig, weil sie den ersten Eindruck bei einer Begegnung bestimmt. Das heißt, unser Gegenüber hat bereits einen Eindruck von uns, noch bevor er uns näher kennenlernt. Dieser Macht der Kleider sollten wir uns immer bewusst sein. Wir wirken immer, ob wir es wollen oder nicht, durch unsere Kleidung auf andere (8). Kleider machen Leute. Bei einem Urteil über andere werden unsere Überlegungen immer beeinflusst durch eine automatische Bewertung unseres Unterbewusstseins. Je flüchtiger ein Kontakt ist, desto höher ist der Anteil unseres Unterbewusstseins an einer Bewertung.

Das automatische Taxieren nach optischen Eindrücken ist uns angeboren. Es konnte in der Frühzeit der Menschheit gefährlich sein, mit einer Entscheidung, ob sich da Freund oder Feind näherte, zu warten, bis sich weitere Eindrücke ergaben. Also hat man sich, auch auf die Gefahr hin, unzureichend informiert zu sein, ganz präventiv vorzeitig festgelegt. In solchen Situationen war der Mensch mit einem Vorurteil statistisch auf der sicheren Seite.

Sozialisation prägt normatives Verhalten

Kinder lernen das Regelwerk, in dem sie Erwachsene imitieren. Sie spielen mit Autos oder Puppen. Sie kopieren Verhaltensweisen, wenn sie Vater-Mutter-Kind spielen. Die Erwachsenen dienen als Vorbilder. Beim Federballspiel stellten sich in meiner Jugend die Jungs vor, sie seien Boris Becker und die Mädchen taten, als seien sie Steffi Graf. Durch Imitation übten wir unsere zukünftige Rolle.

Mit begleitenden erzieherischen Maßnahmen lernen Heranwachsende, sich gruppenkonform zu verhalten. Richtiges Verhalten wird belohnt. Falsches Verhalten wird sanktioniert. Wenn ich als Kind auf dem Dachboden in die alten Kleider meiner Oma schlüpfte und dazu die Pumps meiner Mutter anzog, dann durfte ich so nicht auf die Straße gehen, denn ich verhielt mich für einen Jungen, auch wenn das Ganze nur ein Spaß war, nicht normgerecht. Die Mädchen hingegen durften sich dazu auch noch die Fingernägel lackieren. Als ich es einmal tat, setzte es Hiebe.

So wird normatives Verhalten antrainiert, um sich gemäß den gesellschaftlichen Normen zu sozialisieren. Wir lernen unsere Rollen, so wie ein Schauspieler eine Theater- oder Filmrolle lernt. Der große Unterschied liegt darin, dass wir unsere Rolle ein Leben lang spielen sollen. Wir lernen unsere Rolle so gut, weil unser Gehirn im Gegensatz zu dem im ersten Kapitel beschriebenen Gazellenkitz noch weitgehend unbeschrieben ist. Wir können uns leicht an jede vorgegebene Kultur anpassen. Dass die Anpassungen sich neuronal manifestieren, macht die gelernte Rolle so prägend. Bei Kindern funktioniert das besonders gut. Sie wissen noch nichts und müssen sehr viel lernen. Sie nehmen alles unkritisch auf, was Erwachsene ihnen bei-bringen. Durch die permanente Wiederholung verbunden mit Lob und Tadel schleifen sich die gelernten Verhaltensmuster ein und bilden eine, der Kultur, in der sie leben, entsprechende Identität (9).

Die Sozialisation ist ein lebenslanger, interaktiver Prozess, der alle kulturellen Aspekte verarbeitet. Sie kennzeichnet die permanente Wechselwirkung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. Die Sozialisation bestimmt unsere Identität, unser Selbstwertgefühl und unsere Fähigkeiten (10). Wenn individuelle Interessen nicht gefördert werden, weil sie gesellschaftlich nur für einen anderen Stand oder ein anderes Geschlecht als wichtig angesehen werden, dann können die mit einem Interesse verbundenen Potentiale auch nicht entwickelt werden.

Mädchen sind noch heute in einigen Gesellschaften nicht des Lesens und Schreibens mächtig, nicht weil sie dümmer sind als Jungs, sondern weil die Jungs vorzugsweise Schulen besuchen und die Mädchen stattdessen früh verheiratet werden.

Wie viele große Denkerinnen mögen der Welt entgangen sein, weil die gesellschaftlichen Kategorien in den meist patriarchalen Gesellschaften Mädchen keine Chance gaben, ihr Potential zu entwickeln? Wie viele große DenkerIinnen mögen unentdeckt geblieben sein, weil Arbeiterkinder, gemäß den Standesregeln, der soziale Aufstieg unmöglich war?

Wir sind, was wir sind, durch die Gesellschaft und ihre Kultur. Wir nutzen ihre Artefakte und werden durch sie bewertet. Unsere Identität und unser Verhalten werden dadurch bestimmt, wie wir gesehen und eingestuft werden.

Weil das Votum unserer Umwelt so wichtig ist, neigen wir dazu, die Mode zu mögen, die auch unsere Freunde und Bekannten gut finden. Unser Urteil ist nie objektiv. Wir bewerten immer unter dem Einfluss unserer Sozialisation.

Als meine Mutter Ende der 1950er Jahre Hosen anziehen wollte, war ihre Mutter strikt dagegen. Sie sagte, Frauen sähen in Hosen wie gerupfte Hühner aus. Nur unanständige Frauen würden Hosen anziehen. Hosen, sagte sie, passen einfach nur Männern. Für Frauen hat Gott den Rock gemacht.

Wenn jemand mit einem Dresscode bricht, dann wird das schnell als unästhetisch empfunden. Die Leute meinen dann, objektiv ihren Geschmack zu äußern. Tatsächlich beurteilen wir durch die Brille unserer Prägungen, die fest in uns verankert sind. Deswegen stehen wir allem Neuen eher skeptisch gegenüber. Menschen empfinden häufiger konservativ als progressiv.

Neue Mode ist nonkonform

Wenn die Brüche mit einer Konvention aber zunehmen, kann sich ein neuer Trend entwickeln. In der Folge entsteht dann aus anfänglicher Ablehnung durchaus Zustimmung. Und so war auch meine Oma einige Jahre später der Meinung, dass die Caprihosen, mit denen meine Mutter vom Urlaub in Italien zurückkam, toll waren. Unsere scheinbar objektive und individuelle Meinung folgt insgeheim der kulturellen Norm, ändert sich die, dann ändert sich auch unsere Einstellung. Dass die Meinung in beiden Fällen beeinflusst war, bleibt uns unbewusst. Wir denken weiterhin, eigentlich immer schon so gedacht zu haben, wie wir gerade denken.

Gesellschaftliche Regeln wie auch Bekleidungsvorschriften können sich im Laufe der Zeit verändern oder gar umkehren. Das Kopftuch für Frauen ist in vielen islamischen Ländern gesetzliche Pflicht. In einigen europäischen Ländern ist das Tragen eines Kopftuches hingegen verboten. Zuwiderhandlungen werden mit einem Bußgeld geahndet. In Deutschland haben Frauen vor allem auf dem Land bis in die 1960er Jahre ein Kopftuch getragen. Auf dem Bauernhof meines Onkels habe ich meine Tante bei der Arbeit im Stall oder beim sonntäglichen Kirchgang immer mit Kopftuch erlebt. Ich konnte gar nicht sagen, ob sie darunter kurze oder lange Haare hatte. Anständige Frauen, so sagte sie mir als kleinem Jungen, tragen Kopftücher, um in den Himmel zu kommen.

Die Halbwertszeit von Regeln hängt von den jeweiligen kulturellen Strukturen ab. Moden haben einen Lebenszyklus. Wenn Normen religiös begründet werden, dann ist es ein Tabu, sich anders zu verhalten oder anzuziehen. Eine diesbezügliche Regel kann sich erst ändern, wenn sich das Verständnis bzw. die Interpretation religiöser Texte ändert. Es kann sehr schwer werden, von Regeln abzuweichen, wenn die Meinung vertreten wird, dass eine Regel gottgewollt ist.

Grundsätzlich ist jede Änderung und jede Innovation wegen der strukturellen Hindernisse schwierig durchzusetzen. Normen fordern ihre Umsetzung. Sie sind gesellschaftlicher Konsens. Das tägliche Leben von Rollen konditioniert uns auf die Rolle. Es fällt uns schwer, ein anderes Verhalten zu zeigen, als das, was wir gewohnt sind und das uns geprägt hat.

Ein Mann mag die Idee haben, im Sommer statt einer Hose, die schnell verschwitzt an den Beinen klebt, einen dünnen weiten Rock zu tragen. Das heißt aber noch lange nicht, dass er es auch tut.

Oft stehen wir Veränderungen selbst im Wege, wenn wir uns im vorauseilenden Gehorsam selbst sanktionieren. Wir haben Angst vor den Reaktionen der anderen, wenn wir uns abweichend zeigen. Was sagen die Freunde und Kollegen? Wir fürchten Kritik und Widerspruch. Viele Menschen verhalten sich regelkonform, gerade weil sie nicht sozial geächtet werden wollen. Die Angst vor negativen Sanktionen ist verbreitet und bei vielen Menschen so stark, dass sie von einem abweichenden Verhalten absehen, nach dem Motto: „Das gibt eh nur Ärger.“

Ich habe vor Jahren in Ägypten ein Beduinendorf besucht. Alle Teilnehmer der Exkursion bekamen vor der Abfahrt eine Dschallabija (Abb. 36). Das ist der ägyptische Kaftan, der anders als die gerade geschnittene saudische Thobe (Thawb) viel weiter ist und im unteren Schoßteil Falten wirft. Alle Teilnehmer des Ausflugs in die Wüste fanden das Kleid extrem bequem. Ich fühlte mich darin wie nackt, weil das Gefühl von dünnem Stoff, der den Körper flüchtig umspielt, so neu und erfrischend war. In der Wüstenhitze, das war die einstimmige Meinung, war der Kaftan durch seine Luftigkeit jeder Hose überlegen. Deswegen wusch ich am Abend das Kleid und zog es am nächsten Tag im Hotel am Frühstücksbuffett wieder an. Diesmal waren die Reaktionen ganz anders. Man wies mich lächelnd darauf hin, dass die Exkursion vorbei sei, und warum ich das noch nicht bemerkt habe. Andere Touristen fragten ironisch, ob ich zum Islamisten konvertiert sei. Niemand im Hotel konnte meine Kleiderwahl akzeptieren, obwohl alle am Tag davor in der Wüste die gleiche Kleidung anhatten. Man war halt wieder zurück im eigenen Kulturkreis, und da ist der Kaftan ein No-Go. Praktische Argumente, wie die Luftigkeit, die von allen geschätzt worden war, zählten nicht mehr. Man hatte wieder den gewohnten Normen zu folgen und riet dringend davon ab, beim Rückflug die Dschallabija anzuziehen, wenn ich nicht den Verdacht erwecken wolle, ein islamistischer Fundamentalist zu sein.

Ich war sehr beeindruckt, wie krass der Unterschied zwischen einer praktischen Intention und der gesellschaftlichen Wahrnehmung war, die hier ja total neben den Fakten lag. Wie konnte ich so missverstanden werden?

Mode ist, wie bereits erwähnt, nonverbale Kommunikation. Sie arbeitet mit kodierter Symbolik. Wenn ein Kleidungsstück aus anderen Gründen als den ihm zugeordneten benutzt wird, dann kommt es zwangsläufig zu Fehlinterpretationen. Und da Dresscodes jede Gesellschaft beherrschen, mag niemand an ein unschuldiges Verhalten wegen des heißen Sommerwetters denken.

Es gibt keine gesellschaftlichen Normen ohne ein System von Maßnahmen, um unerwünschten Dresscode-Abweichungen entgegenzuwirken. Jede Gesellschaft ist selbsterhaltend strukturiert und setzt Restriktionen mit Sanktionen um. Soziale Ausgrenzung, Stigmatisierung, Mobbing, Kündigung des Arbeitsplatzes oder körperliche Angriffe sind möglich. Wer etwas verändern will, sollte das beachten und an allen Stellschrauben der Struktur drehen.

Veränderungen geschehen selten spektakulär oder gar revolutionär. Starke Brüche schrecken ab, weil sie zu sehr neben dem liegen, was uns geprägt hat. Veränderungen haben bessere Chancen sich durchzusetzen, wenn sie sich einschleichen als Variation von Bekanntem und nicht wirklich mit Gewohnheiten brechen, sondern es lediglich verfeinern oder erweitern.

Bei jugendlichen Subkulturen kann der Bruch massiver sein, wenn er auf angestaute Unzufriedenheit zurückzuführen ist, die unterdrückt wurde. Die Menschen haben lange versucht sich konform zu verhalten, obwohl ihre Bedürfnisse und gesellschaftlichen Visionen weiterhin keine angemessene Beachtung fanden. Die enorme junge Energie, die Gesellschaft zu verändern, ist schwer kontrollierbar. Das gilt besonders, wenn sie als progressive Kraft auf eine konservative Gesellschaft trifft, die ihre Grundsätze vehement verteidigt.

Wenn die Rollen, die wir öffentlich in der Schule, im Job, in der Familie, unter Freunden und anderswo spielen, stark von unserem privaten, inneren Ich abweichen, kann das unser Rollenspiel beeinflussen. Wenn es nachlässig wird und unsere Rolle nicht mehr überzeugt, kommt es zu negativen Bewertungen. Wiederholt sich der Eindruck über uns, führen die negativen Bewertungen zu Stigmatisierung.

Gesellschaften stehen Veränderungen im Allgemeinen skeptisch gegenüber. Das macht sie grundlegend konservativ. Man weiß nicht sicher, ob das Neue auch zu etwas Gutem führt. Da wird dann lieber auf Bewährtes vertraut, denn da weiß man was man hat. Da gibt es keine Risiken. Außerdem werden neue Forderungen junger Leute schnell als Angriff auf den Status Quo gewachsener Standards und seiner Autoritäten gesehen. Darauf reagieren die Vertreter der Ordnung sehr empfindlich.

Trotzdem sind Verhaltensänderungen nicht zwangsläufig ein Angriff auf bestehende Wertvorstellungen. Eine US-amerikanische Studie zeigte, dass es zwischen gepiercten und nichtgepiercten Personen keine Unterschiede in Bezug auf ihre Religiosität, ausgedrückt in Kirchgängen und täglichen Gebeten, gab (11). Eine weitere Studie konnte auch keine Unterschiede in der Häufigkeit von Depressionen, Angststörungen, Psychopathologie, Vitalität, und Selbstbewusstsein belegen (12). Aber je jünger die Gepiercten waren, desto stärker war das Motiv zu einer bestimmten Subkultur und ihren Werten zu gehören (13).

Der Lebenszyklus einer Mode beginnt, wenn innovative Menschen sich anders kleiden und diese Änderungen um sich greifen, weil progressive Menschen darauf aufmerksam werden und das Verhalten kopieren. Wenn diese beiden Gruppen, die im Marketing Early Innovators und Early Adaptors genannt werden, eine nennenswerte Präsenz erreichen, die statistisch je nach Produkt und Markt bei etwa 15 % Marktanteil liegt, dann erst traut sich auch die skeptische Masse nachzuziehen. Der sogenannte Tipping Point von 15 % löst ein dynamisches Verhalten aus, das aus einem Trend Mode machen kann Die meisten Menschen sind eher konservativ eingestellt. Sie wollen nicht der „Vorturner“ sein. Sie warten ab, wie sich eine Sache entwickelt, und erst wenn diese um sich greift, legen sie ihre Skepsis gegenüber dem Neuen ab. Trends sind kurzlebig, wenn sie nicht den kritischen Wendepunkt erreichen, an dem die neugierige aber skeptische Mehrheit zu kaufen beginnt. Zuerst muss die innovative Kraft eines Streetstyles ausreichend sein, so dass Mode- und Jugendmagazine regelmäßig darüber berichten. Dann erst folgt den Trendsettern die Mehrheit und es entsteht eine neue Mode (14).

Im Rahmen ihrer Marktforschung nutzen Modehersteller Trendscouts, um Anregungen von der Straße und aus Jugendszenen aufzuspüren. Das digitale Trendscouting bedient sich der Nutzerdaten, die soziale Netzwerke und Suchmaschinen zur Verfügung stellen.

Die meisten neuen Moden werden von Modemachern entworfen. Wenn Prominente sich darin kleiden, wirkt das stilbildend, weil die Kaufbereitschaft weiterer Menschen wächst. So haben Marlene Dietrich und Katharine Hepburn wesentlich dazu beigetragen, dass der Hosenanzug für Frauen ein Trend wurde. Yves Saint Laurent hat ihn dann stärker auf die weibliche Anatomie zugeschnitten, ohne dem Anzug seine Sachlichkeit zu nehmen. Die Feminisierung des Schnitts unter Beibehaltung der formalen Sachlichkeit war der Kompromiss, der die Brücke zu den Traditionalisten schlug. So gelang dem Hosenanzug langsam der Durchbruch.

Immer mehr Frauen kauften die Anzüge, obwohl es ihnen anfangs bei vielen Gelegenheiten verboten war, Hosen zu tragen. Der Sängerin Esther Ofarim wurde 1966 der Zutritt im Hosenanzug zur Bar des Atlantic-Hotels in Hamburg verweigert. Der Frau des englischen Fliegerstars Townsend wurde 1969 der Zutritt in Hosen zur Filmpremiere „Die Luftschlacht um England“ im Londoner Ritz verwehrt. Bundestagsvizepräsident Richard Jäger (CSU) drohte 1970 öffentlich, jede Abgeordnete in Hosen des Saals zu verweisen. Noch im gleichen Jahr war es ein Skandal, als die SPD-Politikerin Lenelotte von Bothmer im deutschen Bundestag eine Rede im Hosenanzug hielt (15). Trotz der Widerstände wurde aus dem Trend eine Mode. Die wachsende Zahl der Frauen, die sich nicht einschüchtern ließen, machte den Hosenanzug gesellschaftsfähig. Dadurch ist Frauen das möglich geworden, was ihnen vorher unmöglich war. Sie konnten fortan zu formalen Anlässen statt eines Kostüms Hosen tragen. Viele Frauen in Führungspositionen, aber auch Politikerinnen wie die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen oder die US-amerikanische Vizepräsidentin Kamalla Harris treten ganz überwiegend öffentlich im Hosenanzug auf. Heute ist das selbstverständlich, früher war es ein Tabu. Seit 2012 dürfen auch die Polizistinnen der Royal Canadian Mounted Police zu allen Uniformen Hosen und Stiefel tragen. In Frankreich wurde 2013 ein altes Gesetz abgeschafft, das von Frauen, die zum Reiten oder Radfahren Hosen tragen wollten, verlangte, eine entsprechende Genehmigung zu beantragen (16).

Wenn Abweichungen von modischen Standards Tabus berühren, kann das zu Sanktionen führen. Die US-amerikanische Frauenrechtlerin Amelia Bloomer versuchte in den 1850er Jahren, eine Reformkleidung für Frauen mit mehr Beweglichkeit und Bequemlichkeit zu etablieren. Ihr Bekleidungsvorschlag war nicht rockfrei. Das Bloomer-Kostüm (Abb. 01) bestand aus einer Pluderhose mit einem verkürzten etwa wadenlangen Rock. Trotzdem erregte ihr Entwurf heftigen Widerstand. Ihre Frauenhose mit Rock wurde in den Medien lächerlich gemacht. Frauen, die darin auf die Straße gingen, wurden belästigt. Der Widerstand war so massiv, dass Amelia Bloomer ihre Bemühungen nach einigen Jahren aufgab (17).


Abb. 01: Bloomer-Kostüm


Hosen waren damals das Privileg der Männer. Sie waren das Symbol ihrer Herrschaft. Gott hatte Adam erschaffen. Eva war ein Produkt aus ihm. Sie war aus einer Rippe Adams gemacht. Außerdem steht in Martin Luthers Übersetzung des Altem Testaments, dem Wort Gottes, bei 5. Moses 22,5: „Ein Weib soll nicht Mannsgewand tragen, und ein Mann nicht Weiberkleider antun, denn wer solches tut, der ist dem Herrn, deinem Gott, ein Greuel.”

Zum einen war das Mannsgewand der alten Israeliten keine Hose, sondern ein Kleid, wie z. B. bei 2. Moses 28, 2 nachzulesen ist: Und sollst Aaron, deinen Bruder, heilige Kleider machen, die herrlich und schön seien.” Und zum anderen wollte Amelia Bloomer gar nicht die Hosen der Männer bei den Frauen einführen. Sie hatte doch eine eigene Pluderhose, die von Männern nicht getragen wurde, entworfen und diese auch noch mit einem Rock kombiniert. Der Unterschied zwischen ihrem Bloomer-Kostüm und den Herrenhosen ihrer Zeit war sicherlich markanter, als zwischen den Kleidern der Frauen und Männer der alten Israeliten. Das von allen Hebräern getragene Hemdgewand Kthoneth unterschied sich nicht im Schnitt. Unterschiede gab es nur bei den Farben, Verzierungen, Drapierungen und Gürteln.

Trotzdem wurde die Frauenhose der Feministin als Angriff auf die patriarchalische wie göttliche Ordnung empfunden. Das konnten gläubige Männer auf keinen Fall hinnehmen. Interessant ist, dass die Auslegung der Bibel sich in über 100 Jahren geändert hat. Heute tragen sogar katholische Nonnen gelegentlich Hosen. Dazu gehören auch Jeans, die vom Schnitt her nicht anders sind als genau die Jeans, die ursprünglich Männern vorbehalten waren. Offensichtlich war Amelia Bloomer ihrer Zeit weit voraus.

Eine Gesellschaft reagiert auf Normabweichler mit Sanktionen, weil unterstellt wird, dass der Abweichler nicht hinter den Werten der Gesellschaft steht. Man sieht sein Verhalten als zersetzend an. Es bestehen Bedenken, dass, wenn das Verhalten Nachahmer findet, gesellschaftliche Standards unterlaufen und aufgelöst werden könnten. Veränderungen des gesellschaftlichen Gefüges können das Zusammenspiel einer Gemeinschaft beeinträchtigen. Das kann sich zum Ungunsten einer Teilgruppe auswirken. So entstehen durch Veränderungen Interessenskonflikte, die immer auch Machtkonflikte sind (18).

Leider wird selten geprüft, ob die Unterstellungen gegenüber Abweichlern auch zutreffend sind. Oft sind es schiere Vorurteile. Schon bei den oben erwähnten Studien zu gepiercten Personen konnte gezeigt werden, dass es zwischen der Normabweichung beim Körperschmuck und der Persönlichkeit keinen signifikanten Zusammenhang gibt. Kein Manager, der bei heißem Wetter die Krawatte ablegt, ist faul und verliert damit seine Fachkompetenz. Und auch das Interesse an Röcken für Männer muss eben nicht in Zusammenhang mit einer sexuellen Identität oder Orientierung stehen, sondern kann einfach nur praktischen oder ästhetischen Motiven geschuldet sein.

Trotzdem werden Männer in Röcken denunziert und stigmatisiert. Daran beteiligt sind auch einige Christen, obwohl Gott im ersten Buch Moses Adam und Eva nach deren Sündenfall in Röcke kleidete. Im dritten Kapitel der Lutherübersetzung lautet der Vers 21: Und Gott der Herr machte Adam und seinem Weibe Röcke von Fellen und kleidete sie.” Selbst wenn Martin Luther mit Röcken den mittelhochdeutschen (mhd.) Begriff roc gemeint haben sollte, wäre das keine Hose, sondern nach damaligem Standard ein einer Tunika ähnliches Schlupfkleid. In der neuen evangelistischen Übersetzung wurde der Begriff Röcke gegen Gewänder ausgetauscht. An anderen Bibelstellen wurde der Begriff Rock gegen Hemd ausgetauscht. Sollen damit Assoziationen vermieden werden, die den heutzutage weiblich konnotierten Rock mit der biblischen Männermode feminisierend verbinden könnten?

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