Kitabı oku: «Am Tag, als Walter Ulbricht starb», sayfa 4
FÜNF
Juli 1972
HARTMUT hielt es für eine ausgesprochene Schnapsidee, an einem Sonntag in den Sommerferien in den Spreewald zu fahren, dieses Mückenschutzgebiet, wie er sich ausdrückte, in das die Urlauber aus Sachsen und Berlin in hellen Scharen einfielen und sich um die viel zu knappen Gaststättenplätze stritten. Aber Rainer Erkenbrecher hatte nun einmal den Wunsch geäußert, dieses Kleinod märkischer Wasserlandschaft höchstpersönlich in Augenschein zu nehmen – da blieb ihm und Carola keine andere Wahl.
Seit Carola bei einem gemeinsamen Tierparkbesuch ganz beiläufig die Frage gestellt hatte, was er wohl dazu sagen würde, wenn Hartmut und sie versuchen würden, der DDR den Rücken zu kehren, hatte dieses Thema sie zu einer verschworenen Gemeinschaft keineswegs Gleichgesinnter zusammengeschweißt.
Erkenbrecher, am Anfang tief erschrocken über das Vorhaben, hütete sich zuzugeben, dass er dem Sozialismus offensichtlich wesentlich näher stand als die beiden Ostler. Aber er meinte natürlich eine ganz andere Art von Sozialismus, nicht so eine mangelwirtschaftliche Altmännerherrschaft mit nahezu postfaschistischem Grenzregime, das ihm auch an diesem frühen Sonntagvormittag wieder auf die Nerven ging.
Erst gegen halb zehn hatte er ungeschoren die letzte, diesmal unbewacht offenstehende Sperre in Schmöckwitz überwunden und die wartende Cousine samt ihrem Embidel an Hankels Ablage in Zeuthen an Bord seines Westschlittens genommen. Auf Günther Zützers Begleitung hatte er wohlweislich verzichtet.
«Ich dachte, wir kriegen heute mal deine Martina zu sehen», meinte Carola, der Hartmut großzügig den Beifahrersitz überlassen hatte.
Rainer Erkenbrecher murmelte Undeutliches und gab vor, sich auf den Verkehr zu konzentrieren, der aus einem einarmigen Radfahrer und einem knatternden Trabant bestand. «So ein Bonbonpflaster bin ich überhaupt nicht mehr gewohnt», entschuldigte er sich.
Hartmut, die langen Beine im Fond quer ausgestreckt, schwieg vor sich hin. Er hatte noch immer seine Zweifel, ob Rainer der richtige Helfer für ihr gewagtes Unternehmen war. Aber hatte er eine Wahl? Seit dem vagen Nachtgespräch mit Carola war aus dem anfänglich beinahe harmlosen Geplänkel ein fester Entschluss geworden. Für Carola war der Besuch bei ihrer bescheuerten Familie das i-Tüpfelchen gewesen. Sie würden abhauen. Weg aus diesem engstirnigen Mief, der einem die Luft nahm, wo man sich vor einem Plumpsack wie diesem Norbert fürchten musste und einer wie ihr Vater sich als Intelligenzler fühlte.
Nachdem Rainer einmal eingeweiht war, gab es auch bezüglich der Mitwisser kein Zurück mehr. Hoffentlich quatschte der Kerl es nicht auf irgendwelchen maoistischen Versammlungen rum. Vielleicht war er ja auch Trotzkist oder was es da sonst noch für Abarten gab. Hartmut wusste nur, dass derlei Abweichungen im Osten als schlimmste Todsünden galten, schlimmer jedenfalls, als ein einfacher Klassengegner zu sein. Ihm selber hatte Maos Rote Bibel nur ein Achselzucken entlockt.
Rainers und seine Blicke trafen sich im Rückspiegel. Feige war der Kerl bestimmt nicht. Ein bisschen großmäulig vielleicht und reichlich überheblich – aber so waren die im Westen wahrscheinlich alle. Denen fuhr anscheinend nicht bei jeder Gelegenheit irgendein Naseweis übers Maul; seit 1968 heizten dort eher die Jungen den Alten ein. So stellte sich Hartmut eine Revolution vor, wenngleich ihm die studentischen Parolen eher ein müdes Lächeln entlockten. Die hatten vielleicht eine Ahnung vom realen Sozialismus! Obwohl der Dutschke ja selber aus Luckenwalde kam.
Hartmut war in Pensylvanien geboren, was bei Lehrern, Polizisten und anderen Genossen mindestens eine nachdrückliche Rückfrage, bei normalen Leuten ein eher wohlwollendes Staunen hervorrief. Er konnte es anhand seiner Geburtsurkunde beweisen, und die Hebamme war aus Saratoga herbeigeeilt. Sie hätte es auch aus Hampshire oder Ceylon, ja nicht einmal aus Sumatra oder Jamaika viel weiter gehabt. So hießen nun einmal die Häuseransammlungen der Kolonisten im südlichen Warthebruch zwischen Sonnenburg und Költschen. Hartmut unterließ es dennoch gerne, dem klangvollen Pensylvanien (mit nur einem n) den Kreis Oststernberg hinzuzufügen. Den gab es sowieso nicht mehr. Sternberg hieß seit 26 Jahren Torzym. Er war nie dort gewesen und erinnerte sich kaum an seinen Geburtsort, den er als Dreieinhalbjähriger in den kalten Dezembertagen 1944 verlassen hatte.
Aufgewachsen war er in Eichwalde und später zwei Jahre in Königs Wusterhausen zur Schule gegangen, wo sich noch immer ein ehemals königliches Jagdschloss befand. Von welchem Friedrich oder Wilhelm es stammte, wusste Hartmut nicht. Die beiden Jahre auf der dortigen Oberschule hatten ihm fürs Leben gereicht, obwohl ihn seine Mutter so gerne als den ersten Abiturienten in der Familie, die es eigentlich gar nicht gab, und als künftigen Akademiker gesehen hätte. Fachschulingenieur war zwar auch schon was, genügte jedoch den Ansprüchen der zur Neulehrerin ausgebildeten Landarbeiterwitwe nicht.
Neuerdings hatte sie sich mit einem undurchsichtigen Herrn Doktor zusammengetan, der vorgab, leitend in einem mysteriösen Institut in Zeuthen tätig zu sein, und daraus ableitete, auch den Sohn seiner neuen Lebensabschnittsgefährtin bevormunden zu müssen. Ein Grund mehr für Hartmut, Fluchtplanung und Paddeltraining zu intensivieren. Etwas Besseres als die Variante Ostsee war ihnen bis jetzt nicht eingefallen. Nur Carola hoffte, doch noch in Berlin eine Möglichkeit zu entdecken, kannte aber den Grenzverlauf auch nicht genau genug.
«Da ist alles dicht», behauptete Hartmut.
Rainer stimmte ihm zu. «Sonst wären längst welche auf die Idee gekommen …»
Sie rollten jetzt durch Wildau, immer korrekt mit den zugelassenen fünfzig, an die sich Rainer ängstlich hielt wie beinahe jeder Westler. Bloß nicht auffallen und auch noch Strafe in West zahlen! Sie hatten beschlossen, der Landschaft und der Beschaulichkeit wegen über die F 179 gen Lübben zu fahren. Das trübe Wetter schränkte das Vergnügen ein.
«An was für eine Jahreszeit habt ihr denn überhaupt gedacht?», fragte Rainer.
Auch Carola wandte sich um und blickte Hartmut fragend an. Darüber waren sie sich noch nicht einig.
«Am besten wäre wahrscheinlich eine neblige Herbstnacht», sagte Hartmut.
«Da passen sie sicher am meisten auf», wandte Rainer ein. «Man muss immer das machen, was am wenigsten erwartet wird.»
So weit war Hartmut mit seinen Überlegungen auch schon gewesen. Ihm war nur nichts eingefallen, was die Wachsamkeit der Grenzer einschläfern könnte. Während seiner anderthalb Jahre bei der Armee hatte es keinen Tag gegeben, an dem nicht irgendeine besondere politische Situation bestanden hätte und demzufolge nicht mit dem plötzlichen Ansturm der aggressiven Nato-Armeen zu rechnen gewesen wäre. Vor und nach den Staatsfeiertagen, anlässlich von Parteitagen oder sonstigen Höhepunkten, vor allem aber um den 17. Juni herum, während irgendwelcher Nato-Manöver, Bundestagssitzungen in Berlin oder anderer auffälliger Ereignisse im Nachbarland bestanden Urlaubssperre und erhöhte Gefechtsbereitschaft. Da blieb kaum eine Lücke.
«Wir wissen ja nicht mal, wo wir starten wollen», sagte Carola. «Von wo sind eigentlich die Kühns los?»
Es missfiel Hartmut, dass sie den Namen nannte. Er hatte für sich beschlossen, sich im Fall Kühn besser nicht zu regen. Vielleicht war ja auch die Post abgefangen worden.
«Vom Darß aus», sagte er nur. «Seid bloß vorsichtig mit euren äußerungen.» Und an Rainer gewandt: «Diese Fluchthilfeorganisationen bei euch sind alle von der Stasi unterwandert.»
Rainer warf einen schnellen Blick nach hinten.
«Meinst du wirklich?»
«Da kannst du ganz sicher sein.»
«Okay. Aber eine günstige Startposition ist natürlich wichtig. An der Lübecker Bucht passen sie wahrscheinlich am besten auf.»
Hartmut ärgerte es, dass der andere das zu wissen glaubte. «Das müssen wir alles noch erkunden. Bis jetzt habe ich nur herausgefunden, dass es von der gesamten Ostseeküste keine wirklich genauen Karten gibt.»
Rainer hob die Hände vom Lenkrad. «Das dürfte das geringste Problem sein. So was kann man bei uns alles kaufen oder kopieren. Sogar die alten Messtischblätter aus der NS-Zeit.»
Hartmut war skeptisch. «Und die willst du mitbringen?»
«Na klar!», sagte Rainer, aber mulmig wurde ihm doch, als er daran dachte, dass ihn die Grenzer schon mal die Türverkleidung seines Wagens hatten abbauen lassen. «Ich werde schon ein Versteck finden», versicherte er trotzdem. «Es gibt auch richtige Seekarten mit allen Angaben. Ihr müsst euch nur was einfallen lassen, wie ihr die Richtung haltet. Da braucht man mindestens einen guten Kompass, und in so einem Faltboot …»
Carola unterbrach ihn. «Zuerst brauchen wir mal ein Faltboot!», stellte sie fest. Das war augenblicklich einer der Schwachpunkte ihrer Planung.
«Im Winter gibt’s vielleicht eher welche», meinte Hartmut hoffnungsvoll. Im Augenblick gab es jedenfalls keine. Und wenn er an seine Early Bird dachte, wurde ihm beinahe schlecht. Dass der Kahn nach einer ersten großen Liebe kurzzeitig Eva geheißen hatte, spielte dabei die geringste Rolle. Das Boot war einfach seine erste größere Anschaffung gewesen, die ihn drei seiner damaligen Gehälter gekostet hatte. Glücklicherweise verdiente er ein bisschen was mit seiner Musik. Und das war der nächste Schrecken, der vor ihm lag: Er musste sich nicht nur von der Bird, sondern auch von seinem Bass trennen. Und – beinahe ebenso schlimm – von der Schallplattensammlung. Die war für westliche Verhältnisse eher bescheiden, obwohl ein halbes Ost-Vermögen darin steckte. Das meiste davon würde sich im Westen ohne Schwierigkeiten wiederbeschaffen lassen. Ob er hingegen ein bezahlbares, gut klingendes Instrument auftreiben würde, stand in den Sternen. Eine Band zu finden war sicher leichter.
Eine Zeitlang hatte er die Illusion genährt, die Jolly Stompers, bei denen er den Bass zupfte und manchmal auch sang, würden einmal erfolgreich genug sein, um im Ausland spielen zu dürfen. Es blieb ein Traum. Bis jetzt hatte es nicht mal für das Dresdener Dixieland-Festival gereicht. An Hartmut lag es gewiss nicht.
Inzwischen hatten sie Märkisch Buchholz durchfahren. Die Straße zog sich durch ein großes Waldgebiet. Hin und wieder parkte ein Trabant in einem Waldweg.
«Pilzsucher», erläuterte Hartmut.
«Tatsächlich? Auf die Idee würde bei uns gar keiner kommen.»
«Wo denn auch?», fragte Carola. «Im Grunewald tretet ihr euch vermutlich am Wochenende gegenseitig tot.»
«Keine Ahnung. Ich bin am Wochenende meistens mit dem Motorboot draußen.»
Hartmut wurde hellhörig. Bis jetzt hatte er geglaubt, Rainers Hilfe allenfalls für die logistische Vorbereitung und später für die erste Phase der Eingewöhnung nutzen zu können. Motorboot aber klang ausgesprochen verheißungsvoll. «Wie groß und wie schnell ist denn der Kutter?», fragte er.
Rainer winkte ab. «Nichts, um eure Grenzer damit abzuhängen. Eher so eine kleine Familiengondel.» Er blickte sich zu Hartmut um. «Außerdem nicht seetüchtig, wenn du das meinst.»
«Schade.»
«Klar. Sonst würde ich euch auf der Ostsee damit entgegenkommen …» Er schwieg. Ihm war ein Gedanke gekommen, den er besser nicht aussprach.
Doch Carola hatte schon begriffen und erkundigte sich arglos: «Lässt sich nicht irgendwo ein seetüchtiges Motorboot auftreiben?»
Rainer sah sie von der Seite an, wie sie da in ihrem Sitz lehnte, die ansehnlichen Beine bequem ausgestreckt, die Knie durch keinen zu langen Rock verdeckt, die dünne Bluse unter der leichten Jacke ziemlich weit offen stehend. Dieser Hartmut war ein ausgemachter Glückspilz. Wie sollte man zu einer solchen Frau einfach nein sagen, selbst wenn es die eigene Cousine war? Es war nicht zu leugnen, dass Rainer noch immer für sie schwärmte, mochte sie auch einen halben Kopf größer sein als er. Ganz was anderes als Martina. An die dachte er am wenigsten in diesem Moment, als er die Hand auf Carolas nacktes Knie legte und feierlich erklärte: «I’ll do my very best!»
«Du», sagte Hartmut von hinten, «das ist hier kein neunzigster Geburtstag, sondern leider eine todernste Angelegenheit. Wenn du so was versprichst, dann müssen wir uns auch hundertprozentig darauf verlassen können.»
Das hatte er nun davon! Andererseits gefiel ihm der Gedanke, ganz persönlich den Retter auf hoher See zu spielen, nicht einmal schlecht. Eine gewisse Presse würde sich der Sache gewiss gerne annehmen, und ein besonders hohes Risiko ging er eigentlich auch nicht ein, solange er wässer nicht verließ.
«Kein Problem!», sagte er. «In Dänemark kann ich jederzeit ein Boot mieten. Wenn wir uns das nächste Mal treffen, bringe ich die Karten mit, und wir legen eure Route fest. Einverstanden?»
Carola gab ihm einen feuchten Kuss auf die Wange.
«Du bist ein Schatz!»
«Für dich immer …» Rainer war so angetörnt, dass er in Leibsch beinahe die Abzweigung in den Unterspreewald verpasst hätte.
SECHS
Juli 1972
DIE FREIE UNIVERSITÄT draußen in Dahlem war ein echtes Kind West-Berlins und eines seiner wichtigsten Symbole. Sie stand für die Freiheit von Lehre und Forschung und für den Widerstand gegen das kommunistische Terrorregime. Unvergessen waren die Zeiten, in denen junge Männer und Frauen, mit Schlapphüten und Kopftüchern verkleidet, in der alten Friedrich-Wilhelms-Universität Unter den Linden den Aufstand gegen die kommunistischen Herren geprobt hatten. Die einen waren nach Bautzen gekommen, die anderen hatten im Winter 1948 in West-Berlin die FU gegründet. Es geht um die Errichtung einer freien Universität, die der Wahrheit um ihrer selbst dient. Jeder Studierende soll wissen, dass er sich dort im Sinne echter Demokratie frei zur Persönlichkeit entfalten kann und nicht zum Objekt einseitiger Propaganda wird.
Nun, mit der studentischen Protestbewegung, für die sich das Kürzel «die 68er» durchsetzen sollte, mit den dauernden Sit-ins und Streiks und den höhnischen Attacken auf die Professoren – «Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren» – hatte die FU jedoch bei ehrbaren Bürgern und insbesondere den Wählern der CDU viel an Kredit verloren und galt als ideologisch verbohrte rote Kaderschmiede. Doch allmählich normalisierte sich das Leben auf dem Campus wieder.
Rainer Erkenbrecher parkte seinen Wagen in der Nähe des Henry-Ford-Baus und holte die Marx-Engels-Bände, die ihm Carola in der DDR besorgt hatte, aus dem Kofferraum. Mit ihnen unterm Arm lief er die Garystraße hinunter zum langgestreckten Bau des OSI, der zwischen der Ihnestraße und dem U-Bahn-Graben gelegen war. Vom Trubel des Sommersemesters war nichts mehr zu spüren, wie ausgestorben lag der Campus im milden Schein der Morgensonne. Gediegen, ja nobel war die Ruhe hier draußen im alten Villenviertel, und er hatte das Gefühl, irgendwo auf dem Gelände einer amerikanischen Oststaaten-Uni zu sein, in Massachusetts vielleicht, Vermont oder Maryland. Er wollte erst nach der Olympiade im September nach Griechenland reisen und die Zeit vorher nutzen, um mit seiner Dissertation voranzukommen. Diese hatte das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold zum Thema und wurde noch von Otto Stammer betreut. Der war zwar schon seit Jahren emeritiert, hatte sich aber gern bereit erklärt, als Doktorvater zur Verfügung zu stehen – aus Interesse am Thema, aber auch, weil ihm das Wohl seiner Studenten am Herzen lag. Außerdem zählte Ernest Erkenbrecher zu seinem weiteren Freundeskreis.
Nur noch eine rote Fahne wehte an der Fensterfront, von einem Kollegen aus einem roten Bettbezug gefertigt.
Erkenbrecher betrat sein Büro und freute sich, alles leer und verlassen zu vorzufinden. So lieb und nett die anderen Assistenten und die Professoren auch waren – traf man sich, wurde stundenlang über alles und jedes geredet, denn der Diskurs galt, seit Jürgen Habermas auf den Plan getreten war, als heilige Sache. Man lernte viel dabei und entwickelte seine rhetorischen Fähigkeiten ganz ungemein, nur zum Arbeiten kam man nicht. Nun war es zwar bei den Geisteswissenschaftlern der FU Berlin sehr unwahrscheinlich, dass eine Diplomarbeit oder eine Dissertation schlechter als mit einer Zwei benotet wurde, aber trotzdem musste sie erst einmal geschrieben und abgegeben werden.
Erkenbrecher drapierte die Marx-Engels-Bände in vorderster Reihe auf Augenhöhe auf seinem Bücherregal, so dass sie allen sofort ins Auge fallen mussten. Sie am OSI zu präsentieren war essentiell, und Zützer spottete immer, was für den Christen die Bibel und den Moslem der Koran, sei für den westdeutschen Politologen die MEGA, die Marx-Engels-Gesamtausgabe.
Die Bilder ihrer Spreewaldtour zogen vor seinem inneren Auge vorüber, und Erkenbrecher verfluchte sich dafür, nicht dezidiert nein gesagt zu haben. Ihn grauste es davor, nachts allein mit einem Motorboot über die Ostsee zu fahren. Er schimpfte leise vor sich hin, denn das ganze Unternehmen lenkte ihn ab, und er kam nicht zum Arbeiten.
Um zwölf Uhr war er mit Otto Stammer verabredet, und bis dahin wollte er noch viel geschafft haben. Doch kaum hatte sich Erkenbrecher in die erste Monographie zum Thema vertieft, schrillte das Telefon. Es war sein Doktorvater, der ihm mitteilte, dass es ihm heute nicht gutgehe und sie ihr Treffen in seine Wohnung verlegen müssten.
Also machte sich Erkenbrecher zwanzig Minuten vor zwölf auf nach Wilmersdorf in die Markobrunner Straße, die gleich hinter dem Breitenbachplatz ihren Anfang nahm. Das war von der FU aus mit dem Wagen ein Katzensprung.
Als er vor dem unauffälligen Neubaublock angekommen war, staunte Erkenbrecher, dass ein Mann wie Otto Stammer so bescheiden lebte. Stammer war 1900 in Leipzig auf die Welt gekommen, hatte dort auch studiert und 1924 mit einer Dissertation Der Staat bei Karl Marx und Friedrich Engels zum Dr. phil. promoviert. Zunächst arbeitete er als Journalist und in der Erwachsenenpädagogik, bis er 1932 das Bildungssekretariat des SPD-Bezirks Mittelschlesien übernahm. Er hatte einen Sitz im Reichstag bereits vor Augen, doch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 war seine Karriere erst einmal zu Ende. Er wurde vorübergehend inhaftiert und musste sich dann als Arbeitsloser und als Angestellter in der pharmazeutischen Industrie durchs Leben schlagen. Nach Kriegsende war er zunächst als Redakteur und Dozent in Leipzig tätig, ging dann aber in den Westen und habilitierte 1949 an der FU Berlin, wo er 1954 zum Ordentlichen Professor für Soziologie und Politische Wissenschaft berufen wurde. Von 1959 bis 1963 war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.
Als Erkenbrecher oben vor der Wohnungstür stand und klingelte, ging ihm unwillkürlich ein Vers aus dem Faust durch den Kopf: Ich bin allhier erst kurze Zeit, / Und komme voll Ergebenheit, / Einen Mann zu sprechen und zu kennen, / Den alle mir mit Ehrfurcht nennen. Mochte die Verehrung für seinen Doktorvater auch ziemlich anachronistisch sein und sein Freund Günther Zützer noch so sehr darüber lästern, er bekannte sich zu ihr.
Otto Stammer öffnete ihm und begrüßte ihn herzlich. Man merkte Stammer an, dass er es sich aus Überzeugung zur Lebensaufgabe gemacht hatte, junge Menschen zu fördern. Martha, seine Frau, hatte schon Kaffee gekocht, und so konnten sie sich bald an die Arbeit machen.
«Wie Sie Ihre Dissertation angelegt haben, gefällt mir», sagte Stammer, nachdem er eine Weile in seinen Unterlagen geblättert hatte. «Erstens: Aufbau und Gliederung, zweitens: Der Kampf um die Republik 1930–33, drittens: Reichsbanner-Mitglieder im Widerstand. Sehr schön. Aber vielleicht sollten Sie noch ein Kapitel einbauen, das sozusagen etwas Literarisches ist, ich meine damit, dass Sie die Biographien einiger prominenter Reichsbanner-Mitglieder schildern sollten, ihren Kampf gegen das NS-Regime, ihren Alltag. Nehmen Sie bei der SPD Otto Braun, Wilhelm Hoegner, Waldemar von Knoeringen, Heinz Kühn, Julius Leber, Paul Löbe, Philipp Scheidemann, Otto Wels, Kurt Schumacher oder Georg August Zinn, von der Deutschen Demokratischen Partei Thomas Dehler, Theodor Heuss, Otto Nuschke oder Ernst Lemmer und vom Zentrum Heinrich Krone. Nach dem Krieg ist ja aus allen etwas geworden. Aber greifen Sie sich auch einzelne Arbeiter und Angestellte heraus, die im Reichsbanner für die Republik gekämpft und gelitten haben. Als Sozialwissenschaftler müssen wir die große abstrakte Geschichte als Konglomerat kleiner persönlicher Geschichten verstehen lernen. Die sind das Fleisch, das an den Knochen gehört.»
Erkenbrecher bedankte sich und machte sich gleich auf den Weg zur Gedenkstätte Deutscher Widerstand in der Stauffenbergstraße, um zu sehen, was man dort an Material gesammelt hatte.
Weit kam er dort nicht, denn um siebzehn Uhr war er mit Martina verabredet. Einmal in der Woche spielten sie Tennis am Flinsberger Platz. Was sein musste, das musste halt sein.
Martina Grabow stand auf dem Tennisplatz und wartete auf Rainer Erkenbrecher. Er kam aus Prinzip immer zu spät, weil er Pünktlichkeit für eine Charakterschwäche hielt. Nur Kleingeister waren pünktlich. In ihren Augen war es genau umgekehrt.
Während sie alleine Aufschläge übte, ging ihr Blick hinüber zum expressionistischen Bau der Kreuzkirche am Hohenzollerndamm, der außen verblendet war mit Oldenburger Eisenklinker. Lange hatte sie davon geträumt, einmal als Braut ganz in weiß durch den Portalvorbau zu schreiten, der mit seiner blauglasierten Keramik und seinen Pagoden an Ostasien erinnern sollte.
Hatte … Denn inzwischen wusste sie nicht mehr so genau, ob sie das wirklich träumen sollte. Zwischen ihr und Rainer lagen Welten. Im Feuer der ersten Monate war das nicht sehr ins Gewicht gefallen, nun aber, da ihr Sex langsam Routine wurde, war nicht mehr zu übersehen, dass sie nur schlecht zueinander passten. Sie liebte das gemächliche Leben, während es für ihn gar nicht turbulent genug sein konnte. Wie sollte das auf Dauer gutgehen? Andererseits: Einen Mann mit so großen Karrierechancen fand sie so schnell nicht wieder, und eines Tages war er womöglich Senatsdirektor, Stadtrat und Senator. Die Villa im Grünen wäre ihr sicher, wenn sie an seiner Seite lebte, und er dann als Manager in die Wirtschaft oder zur Bundesbahn ginge, konnten sie sich sogar ein Häuschen in der Toskana leisten.
Da kam er und entschuldigte sich wortreich. In der Gedenkstätte Deutscher Widerstand hätte es länger gedauert als vorausberechnet, und dass er ihr Zeit gelassen habe, Aufschläge zu üben, sei ja etwas Positives. «Los, fangen wir an! Gleich mit einem Match. Ich muss bei dir ins Einzelfeld treffen, du kannst bei mir das Doppelfeld nutzen.»
Trotz dieser Vorgabe schaffte sie es kaum, einen Punkt zu machen. Sie war einfach zu langsam und nicht pfiffig genug. Keinen seiner raffinierten Stoppbälle erreichte sie, und auch seinen Lobs lief sie hoffnungslos hinterher. Es wurmte sie mächtig, dass er sie derart vorführte. War es denn so schwer für ihn, sie auch einmal gewinnen zu lassen?
Nach dem Match, das sie 2 : 6, 0 : 6 und 4 : 6 verloren hatte, gingen sie zum Italiener. Während sie auf das Essen warteten, sprachen sie über seinen Ausflug in den Spreewald und die Ost-Verwandten.
«Nach dem, was du erzählst, habe ich beinahe das Gefühl, deine Cousine und ihr Hartmut wollen in den Westen …» Es war eine Vermutung.
Erkenbrecher zuckte mit den Schultern. «Was weiß ich … Millionen von DDR-Bürgern träumen davon, in den Westen zu gehen.»
«Du traust mir nicht?»
Er lenkte ab und berlinerte: «Ick bin keen Standesbeamta, ick kann dir ja nich trauen.»
Es kränkte sie, dass er kein Vertrauen zu ihr hatte.
«Ist mir auch egal, aber ich kann nicht verstehen, dass einer aus der DDR weg will. Da tun sie eine Menge für die Kinder, und jeder hat seine Sicherheit.»
«Ja, seine Staatssicherheit», brummte Erkenbrecher. Martina Grabow war eine durch und durch biedermeierliche und gänzlich unpolitische Person. Die DDR erschien ihr als durchaus lebenswerter Staat. So widersprach sie Erkenbrecher: «Du, wer sich hier im Westen gegen unser System auflehnt, der wird auch nicht gerade hofiert.» Das bezog sich auf den Radikalenerlass, den die Bundesregierung im Januar beschlossen hatte und der bei bestimmten politischen Betätigungen ein Berufsverbot für Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes zur Folge hatte.
Erkenbrecher grinste, als er ihr mit der Plattitüde aus dem Volke kam: «Dann geh doch rüber!»
«Mach ich auch, wenn wir beide nicht …» Weiter kam sie nicht, denn der Ober war neben ihnen aufgetaucht, um ihre Bestellung aufzunehmen.
Nachdem er wieder abgezogen war, wechselte Erkenbrecher das Thema und kam auf die neueste Serie aus den USA zu sprechen, Raumschiff Enterprise.
Sie schwärmte von Captain Kirk.
«Ich liebe Mr. Spock», erklärte Erkenbrecher, «den Halbvulkanier mit seinen spitzen Ohren. Wenn ich mal homoerotisch werde, dann will ich nur ihn.»
«Ich denke, du willst Angela Davis?» Die Bürgerrechtlerin und Kommunistin aus den USA war gerade vom Mordverdacht freigesprochen worden.
Erkenbrecher lachte. «Die auch, bi ist ja in.»
«Hoffentlich findest du dazwischen noch mal Zeit, mich zu heiraten.» Es trieb sie, dieses Thema zur Sprache zu bringen. Irgendwann musste die Entscheidung fallen.
«Wenn ich mit meiner Dissertation fertig bin.»
«Ja», höhnte sie. «Und nach der Dissertation ist es dann die Habililation.»
«Was ist denn das: eine Habililation?»
Da verlor sie jede Selbstbeherrschung, sprang auf, zerknüllte ihre Serviette und warf sie ihm auf den Teller. «Steck dir doch deine ganzen Titel und Ehren sonst wohin!»
Damit stürzte sie aus dem Restaurant.
Ernest Erkenbrecher hatte die Ehre und das Vergnügen, die Vernissage in der Leibnizstraße zu eröffnen. Alles, was in der Berliner Kulturszene Rang und Namen hatte, war gekommen, denn der SFB wollte in seiner Abendschauetwas bringen, und auch der Regierende Bürgermeister hatte versprochen, im Laufe des Abends vorbeizuschauen, denn Damian Schwaderlapp war mächtig im Kommen, und sein Zyklus Eskapismus Indienhatte alle Chancen, das Feuilleton der Republik in helles Entzücken zu versetzen.
Um auch von allen gesehen und gehört zu werden, stieg Ernest Erkenbrecher auf einen Stuhl. Tagelang hatte er an seiner Rede gefeilt und sie schließlich auswendig gelernt. Seine ganz besondere Kunst bestand nun darin, alle glauben zu machen, er hätte nichts vorbereitet und sei ein Meister der Improvisation. Festredner, die alles vom Manuskript ablasen, konnten seines Spottes sicher sein. Ihn selbst sah man nie mit einem Papier am Rednerpult. Nachdem er alle begrüßt und mit seiner wohltönenden Stimme eingewickelt hatte, wie Zützer das nannte, brannte er nun ein Feuerwerk der Gesellschaftsanalyse ab. Der Kameramann konzentrierte sich auf ihn.
«Damian Schwaderlapp hält uns in seinen einzigartigen Bildern einen Spiegel vor: Wie ich zum Willkürgott meiner selbst werde, wie meine Einzigkeit der romantisch verzauberte Zufall meiner Entscheidungen wird. Wir haben es in unserer Zeit mit dem modernen Paradoxon der kopierbaren Individualität zu tun. Um anders zu sein als die anderen, kopiere ich die Andersartigen und merke gar nicht, dass das, was ich für eine Maßanfertigung halte, auch nur Massenware ist. Die Konformität wird als Abweichung begriffen. Die Selbstverwirklichung wird zur Autosuggestion, das Selbst entsteht als dramatischer Effekt des Alltagstheaters. Das große Heilsversprechen der Individualität und der Selbstverwirklichung besteht darin, uns die Flucht aus der Wirklichkeit zu ermöglichen. Das alles zeigt uns Damian Schwaderlapp in seinen Bildern. Jeder konstruiert sich seine eigene Wichtigkeit, fremde Größe wird nicht mehr anerkannt. Ich bin unverwechselbar ich, und mag jemand noch so viele Goldmedaillen und Nobelpreise einheimsen, er ist ein Nichts gegen mich, denn meine 4,51 Meter im Weitsprung sind mehr wert als seine 8,90 Meter, weil sie mir mehr wert sind, und ich alleine bin es, der für mich zählt. Ich und kein anderer konstruiert meine eigene Wichtigkeit. Mein Leben inszeniert sich selbst und erfindet meine Identität. Ich bin der Größte, und mir kann keiner was. Sehen Sie sich dieses Bild da drüben an: Der Schraubenverkäufer. Wie der Mann mit seinem IQ von bestenfalls neunzig den hochverehrten wie hochgelehrten Literaturprofessor, der nicht weiß, was ein Innenkopf-Kubusschlüssel ist, als Deppen dastehen lässt – das, lieber Damian Schwaderlapp, ist so meisterhaft eingefangen, dass ich Ihnen, könnte ich, wie ich wollte, noch an diesem Abend alle Kultur- und Kunstpreise dieser Welt überreichen würde.»
So ging es noch ein Weilchen weiter, und alle berauschten sich an Ernest Erkenbrecher. Wer ihn verstand, wusste, dass er zur deutschen Elite gehörte, und genau das war es, was man wollte.
Sein Sohn Rainer verstand nicht viel von Kunst, und Schwaderlapps Bilder waren für ihn nichts anderes als kindliche Schmierereien, aber er sah keinen Grund, bei diesem Spielchen der oberen Zehntausend nicht mitzumachen. Wenn sie in dem fürchterlichen Farbgemansche indische Götter und Sagengestalten wie Aditi, Vishnu und Vishvakarma zu erkennen glaubten, dann war das ihre Sache, seit Andersens Des Kaisers neue Kleiderwusste man ja, wie diese Mechanismen funktionierten.
Er quetschte sich durch die Menge auf der Suche nach jemandem, mit dem sich heiter plaudern ließ. Die Kamera erfasste ihn. Er fluchte leise vor sich hin, denn die Berliner Abendschau galt als spießbürgerlich und verstaubt, und wenn ihn jemand vom Institut auf dem Bildschirm sah, wurde er wieder kritisiert und verspottet. Er hatte schon an der Last seines sozialdemokratischen Vaters schwer zu tragen.
Ah, ganz hinten in der Nähe des kalten Büfetts stand Dr. Gutbier, ein Senatsdirigent. «Dirigiert der den Senat?», hatte ihn einmal ein Student gefragt, der besonders witzig sein wollte, aber das war keine Scherzfrage, sondern wurde bei Soziologen und Politologen heiß diskutiert. Die herrschende Lehrmeinung war, dass die Beamten, wenn sie äußerst sachkundig waren, alle Tricks beherrschten und oft jahrzehntelang im Amt waren, ihre Senatoren, die andauernd wechselten und oft ahnungslos waren, fest im Griff hatten und sie nach ihrem Willen wie Marionetten tanzen ließen.
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