Kitabı oku: «Der Lustmörder»
Horst Bosetzky
Der Lustmörder
Kappes sechster Fall
Kriminalroman
Jaron Verlag
Horst Bosetzky alias -ky lebt in Berlin und gilt als «Denkmal der deutschen Kriminalliteratur». Mit einer mehrteiligen Familiensaga sowie zeitgeschichtlichen Spannungsromanen avancierte er zu einem der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Zuletzt erschienen im Jaron Verlag von ihm die biographischen Romane «Kempinski erobert Berlin» (2010) und «Der König vom Feuerland. August Borsigs Aufstieg in Berlin» (2011) sowie die ersten Bände seiner Romanserie «Wie Berlin und Brandenburg wurden, was sie sind: Unglaubliche Geschichten aus dem Mittelalter» (ab 2011). Zu der Krimireihe «Es geschah in Berlin» trug er bereits mehrere Bände bei, zuletzt «Unterm Fallbeil» (2012).
Originalausgabe
2. Auflage 2012
© 2008 Jaron Verlag GmbH, Berlin
1.digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH
Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin
Satz: LVD GmbH, Berlin
ISBN 9783955520052
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titelseite
Impressum
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NACHWORT
Es geschah in Berlin …
EINS
«PASS GUT AUF DICH AUF», sagte Erna Priepert zu ihrem Mann, als der sich aufmachte, mit ihrem Hund die abendliche Runde zu drehen.
«Wer soll mir schon was tun?» Erich Priepert war kräftig gebaut und keineswegs ein Feigling. «Im Gegenteil, das Kroppzeug soll nur aufpassen, dass ich ihm nichts tue!»
Vor einiger Zeit war in seinen Kolonialwarenladen in Tegel eingebrochen worden, und er hatte einen der Diebe so verprügelt, dass der ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Der andere allerdings war ihm entkommen.
«Rüpel, los, ab die Post!» Priepert nahm seinen Dackel an die Leine. «Und wenn mich einer anfällt, dann beißt du ihm ein Bein ab.»
«Und stolpere nicht wieder über die Äste, Erich!»
«Nein, Erna, ich kenne hier jeden Zentimeter.»
«Trotzdem, du weißt ja.»
Am 12. Januar 1920 hatten in Berlin orkanartige Stürme gewütet und an vielen Stellen erhebliche Schäden verursacht. Strom- und Telefonleitungen waren von den Masten gerissen und Bäume entwurzelt worden. Abgerissene Äste blockierten die Wege. Auch zwei Tage später waren die Aufräumarbeiten noch nicht abgeschlossen, denn Berlin war von einer gewaltigen Grippewelle erfasst worden, und überall fehlten die Arbeitskräfte.
Priepert liebte seine abendlichen Spaziergänge. Darauf freute er sich schon seit dem Mittag. Wenn man den ganzen Tag im Laden stehen musste, war Bewegung das A und O, wollte man nicht vorzeitig auf dem Friedhof landen. Ach, wer den Krieg überlebt hatte, der hatte Glück. Doch noch schien nicht alles vorbei zu sein, überall rumorte es. Gestern bei der Demonstration vor dem Reichstagsgebäude wegen der Änderungen im Betriebsrätegesetz hatte die Reichstagswache in die Menge geschossen, 42 Menschen getötet und über 100 verletzt. Schrecklich. Andererseits hatte Berlin auch wieder seinen Opernball gefeiert. Das ließ auf bessere Zeiten hoffen. Ohne Lebensmittelkarten und mit Kunden, die wieder Geld in den Taschen hatten. Erich Priepert überlegte allerdings, ob er nicht ein neues Schild über seinem Laden brauchte. Das Wort «Kolonialwaren» erschien ihm absurd, da Deutschland nun keine Kolonien mehr hatte. Kamerun, Togo, Deutsch-Südwestafrika und Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Neuguinea, Samoa - alles war den Bach runter. Schade.
Das und vieles andere ging Priepert durch den Kopf, als er mit Rüpel die Forststraße entlangging, den südlichsten Ausläufer Hermsdorfs. Links von ihm lag das Fließtal im silbernen Licht des Mondes, dort schlängelte sich das Tegeler Fließ - mal sich zu einem kleinen See erweiternd, mal nur ein etwas breiterer Bach - von Lübars kommend durch Waidmannslust hindurch und an Hermsdorf vorbei nach Tegel.
Über ein Straßenstück, das den Namen Schöne Aussicht trug, erreichte Priepert die Bismarckstraße, die später den Namen Hermsdorfer Damm tragen sollte. Drüben ging ein Soldat. Mit schnellen Schritten strebte er in Richtung Tegel. Hoffentlich ging das nicht schon wieder los mit dem Bürgerkrieg. Es wurde ja so manches gemunkelt. Dass viele Soldaten es nicht hinnehmen wollten, nutzlos zu sein.
Priepert überlegte kurz, welchen Weg er nun einschlagen sollte. Zum Fließ hinunter? Nein, da war es zu morastig. Links gegenüber in den Wald hinein? Nein, da war es zu dunkel, und man stolperte andauernd über Wurzeln und Äste. Geradeaus über die Straße hinweg und in die kleine Siedlung hinein, die sich zwischen der Bismarckstraße und der Revierförsterei gebildet hatte? Da war es nicht gerade spannend. Also nach Hause zurück? Doch am nicht eben warmen Ofen zu sitzen, hatte er noch keine rechte Lust.
Er überlegte noch, als plötzlich auf der anderen Straßenseite etwas Dunkles aus dem Unterholz brach. Im ersten Augenblick hielt er es für einen Hirsch, dann sah er, dass es sich um einen Menschen handelte. Der Hund begann zu kläffen und riss wie wild an der Leine.
«Hilfe!», schrie der Mann. «Hilfe, ich kann nicht mehr …» Priepert sah ihn zusammenbrechen und lief, vom Hund gezogen, über die Fahrbahn.
Der Mann war schwer verletzt, Gesicht und Hände waren blutüberströmt. Das konnte Priepert sogar im matten Licht der Gaslaterne erkennen. Er beugte sich hinunter.
«Was ist denn passiert?»
«Ich bin überfallen worden, als ich …» Der Mann röchelte, konnte nicht mehr.
«Als Sie was?»
«Da hat einer ein Liebespaar überfallen, und als ich zu Hilfe kommen wollte, da hat er mich … Polizei!»
Damit verlor der Mann das Bewusstsein. Priepert war sich sicher, dass er gestorben wäre, bevor ein Arzt zur Stelle sein könnte. Die Polizei musste herbeigerufen werden. Er hetzte zum ersten Haus an der Forststraße und klingelte Sturm.
ZWEI
GESCHIEHT EIN MORD im tiefsten Frieden, so sind die Bürger ungemein erschrocken und reagieren mit Abscheu und Empörung, wird aber einer von ihnen mitten im Krieg ermordet, zudem noch im bis dahin blutigsten seit Menschengedenken, dann sind sie zu erschöpft, um sich darum zu kümmern. Auch sind in Behörden, die als nicht kriegswichtig gelten, die Bureaus nur dünn besetzt, weil die Männer in den Schützengräben hocken. So kam es, dass die Liebespaarmorde im Berliner Norden von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurden. Bis zum Januar 1920 waren es immerhin vier Taten, die zu Protokoll genommen werden mussten. Der modus operandi war immer derselbe, so dass auf ein und denselben Täter geschlossen werden konnte: Erst beobachtete er ein Liebespaar, das gerade zur Sache kommen wollte, dann erschoss er den Mann, verging sich an der Frau und tötete schließlich auch diese.
Im Mai 1917 wurde im Tegeler Forst, Nähe Schulzendorf, genauer gesagt am Fuße des Bahndamms auf Höhe des Apolloberges, ein Liebespaar ermordet.
Im Juni 1918 gab es die zweite Tat, und zwar im Wald bei Hermsdorf, in der Nähe der Kneippstraße.
Im August 1919 registrierte man die dritte Tat, diesmal traf es ein Paar im Wald bei Heiligensee, das sich im Gebüsch hinter dem Elchdamm scheinbar unbeobachtet gewähnt hatte.
Im Oktober 1919 schlug der Lustmörder, wie man ihn nun schon nannte, zum vierten Mal zu, diesmal am Hermsdorfer See bei Waidmannslust, Nähe Tonstichweg.
Man hatte in diesen Zeiten anderes zu tun, als die Bevölkerung zu warnen, und wo die Leute wirklich von den Mordtaten gehört hatten, war der Trieb stärker als die Angst, zum nächsten Opfer zu werden. Die Wohnverhältnisse waren so schlecht, und man hockte so dicht aufeinander, dass einem oft nichts weiter übrigblieb, als es im Walde und auf der Heide miteinander zu treiben.
Die Gemeinden Lübars, Frohnau, Heiligensee, Schulzendorf, Hermsdorf und Tegel gehörten zum Landkreis Niederbarnim und sollten erst am 1. Oktober 1920 mit dem Inkrafttreten des Groß-Berlin-Gesetzes Teil Berlins werden, zusammengefasst im Bezirk Reinickendorf.
Was also tun, wenn im Landkreis Niederbarnim ein Serientäter am Werke ist, den zu ergreifen die örtlichen Kräfte bei weitem nicht ausreichen? Charlottenburg und Rixdorf, die größten angrenzenden Städte, hatten sich schon im Jahre 1900 mit Berlin zu einem einheitlichen Landespolizeibezirk zusammengeschlossen, nicht aber die oben genannten Gemeinden im Landkreis Niederbarnim. Da sich dessen Verwaltung aber ohnehin in Berlin befand – eine eigene Kreisstadt gab es nicht –, lag es für den zuständigen Landrat nahe, den Lustmörder von der Berliner Kriminalpolizei jagen zu lassen, und über den Regierungspräsidenten und den Oberpräsidenten der Provinz Brandenburg landete der Vorgang auch tatsächlich bei der höchsten politischen Instanz, dem Preußischen Minister des Innern. Dort entschied man, die Mordfälle im Norden Berlins vom Alexanderplatz aufklären zu lassen, wo die größte Kompetenz angesiedelt war. Der Fall lege eine zentrale Bearbeitung nahe, es gelte nicht das Orts-, sondern das Täterprinzip, und zudem sei die aufgebrachte Bevölkerung vor Ort am ehesten zu beruhigen, wenn man ihr mitteilte, die erfahrenen Berliner Beamten würden die Sache in die Hand nehmen. In der Presse erregte dieser Vorgang keinerlei Aufsehen, nahm doch der Alexanderplatz schon seit Jahren faktisch weit über Berlin hinaus die Funktionen eines Landeskriminalpolizeiamtes wahr.
Hermann Kappe merkte täglich, dass ihm seine Frau immer fremder wurde, seit die kleine Margarete auf der Welt war. Sie war Klaras Ein und Alles, er selbst kam irgendwo unter «ferner liefen …». Wie sollte es auch zu einer aufregenden Liebesnacht kommen, wenn die Kleine schon beim geringsten Geräusch aufwachte und zu schreien begann? Sofort schüttelte Klara ihn ab, um aufzuspringen und nach dem Würmchen zu sehen. Sie fürchtete bei jedem Laut, Margarete würde ersticken. So wie die Dinge lagen, wollte Kappe kaum glauben, dass Klara abermals schwanger war. Es musste bei einem Besuch in Wendisch Rietz passiert sein, als die Tochter bei der Fischer-Oma im Bett geschlafen hatte.
Vorgestern nun war Kappes Mutter für ein paar Tage nach Berlin gekommen, um abends auf Margarete aufzupassen, und Kappe und Klara konnten endlich wieder einmal zusammen ins Restaurant, ins Kino oder ins Theater gehen.
«Wie wär’s mal wieder mit Kempinski in der Leipziger Straße?»
«Ja, gerne!»
Vom alten Glanz fehlte dort noch immer eine ganze Menge. Die Tischwäsche ließ viel zu wünschen übrig, die im Krieg gefallenen guten Köche konnten noch nicht vollständig ersetzt werden, ebenso - wie überall - das in langen Jahre geschulte Personal. Es mangelte an Glühbirnen, Toilettenpapier, Gläsern, Töpfen und Kasserolen. Die Gasherde konnten wegen der Sperren nur stundenweise benutzt werden, und für die anderen Herde hatte man zu wenig Kohle.
Dazu kam, dass das Publikum ein anderes geworden war. Militär und Adel hatten ihre dominierende Stellung eingebüßt, und alles, was am Hofe gedient hatte oder zum Antichambrieren nach Berlin gekommen war, konnte als potentieller Gast vergessen werden. An diese Stelle traten die Neureichen, die Raffkes. Auch die Flüchtlinge aus Russland waren nicht alle mittellos nach Deutschland gekommen.
Kempinskis Weinkarte konnte sich schon wieder sehen lassen, aber Kappe hielt sich zurück, denn er hatte Bereitschaftsdienst, musste zwar nicht im Bureau sitzen, aber angeben, wo man ihn im Falle eines Falles sofort ans Telefon rufen konnte.
Und so unlieb wäre ihm ein Anruf gar nicht einmal gewesen, denn Klara fing, kaum hatten sie an einem kleinen Tisch einander gegenüber Platz genommen, sofort wieder an, von einer neuen Wohnung zu reden.
«Bei deinen vornehmen Verwandten, bei den Börnickes, zerreißen sie sich schon das Maul über uns, weil wir noch immer nicht in eine bessere Gegend gezogen sind», sagte Klara.
Kappe fiel nichts Besseres ein als der abgedroschene Spruch, dass auch in der kleinsten Hütte Platz sei für ein glückliches Paar.
«Und wenn ich befördert werde, ziehen wir auch um.»
«Außer mit der Straßenbahn wirst du doch nicht mehr befördert», brummte Klara. «Wenn das zweite Kind kommt, brauchen wir Platz, und meine Kinder sollen nicht in einer Armeleutegegend aufwachsen.»
Kappe ging es zunehmend auf die Nerven, dass sie nur immer höher hinaus wollte. «Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, ich hätte an die Front gemusst und wäre gefallen. Dann hättest du dir einen anderen Mann suchen können, einen Akademiker, einen Assessor oder Professor.»
Klara wurde nun richtiggehend böse. «Irgendwann verliere ich mal die Geduld!»
«Nein, bitte nicht!» Kappe legte, um sie zu beschwichtigen, seine Hände auf die ihren. «Du weißt doch: Ohne dich kann ich nicht sein.»
«Mit mir und Margarete aber auch nicht - oder?»
«Doch, doch.» Zu neunzig Prozent stimmte das, aber die restlichen zehn Prozent, die Bedenken, waren nicht zu leugnen.
Auch heute wieder scheute er davor zurück, sich bindend auf den Tag eines Umzugs in eine bessere Gegend festzulegen, und hoffte darauf, ans Telefon gerufen zu werden. Er konnte aber schwerlich beten: «Herr, bitte lass einen Mord geschehen …» Ärzte und Hebammen hatten es in dieser Beziehung besser als er.
Nun, er wurde auf andere Weise gerettet: In diesem Augenblick betrat Pola Negri das Restaurant, und Klara war nun vollauf mit der Frage beschäftigt, ob sie es wagen konnte, die Diva um ein Autogramm zu bitten, oder nicht. Sie wusste alles über sie …
Als Barbara Apolonia Chalupiec war die Negri 1894 in Polen geboren worden und in ärmlichen Verhältnissen in Warschau aufgewachsen. Ihre Ballettausbildung hatte sie wegen einer Tuberkulose unterbrechen müssen und war zum Schauspiel gewechselt. Gerade erst siebzehn Jahre alt, wurde sie der Star des Warschauer Theaters, mit dem Ausbruch des Krieges aber war ihre Karriere schon wieder zu Ende, und ihr und ihrer Mutter ging es schlecht. Das änderte sich erst, als sie der polnische Regisseur David Ordynski für die polnische Premiere von Max Reinhardts Stück Sumurun engagierte. Es dauerte nicht mehr lange, da hatte Deutschland sie entdeckt, und Ernst Lubitsch drehte mit ihr in schneller Folge die Stummfilme Carmen, Madame Dubarry, Sumurun und Anna Boleyn.
Klara hatte keine ihrer Filme verpasst, besonders gern dachte sie an die Carmen -Premiere. Einer der Kunden des Kaufhauses Rudolph Hertzog, in dem sie seit Jahren als Verkäuferin tätig war, hatte ihr eine Karte für das Uraufführungstheater der UFA am Kurfürstendamm geschenkt. Am 17. Dezember 1918 war das gewesen, ein Tag, den sie nie vergessen würde. Im September 1919 hatte sie dann Madame Dubarry gesehen, diesmal nicht mit Harry Liedke, sondern mit Emil Jannings als Partner von Pola Negri.
Hermann Kappe ging wohl auch gern ins Theater, wenn es denn nicht zu hochgestochen war, genauso wie ins Kino. Er entwickelte dabei aber keine Art Sucht wie seine Frau.
Klara sah zu Pola Negri hinüber. Eine Schar bedeutsam aussehender Männer und stark kapriziöser Frauen umgab sie wie ein Festungswall.
«Da kann ich doch nicht so einfach hingehen und sie fragen …» Klara zögerte noch immer.
«Soll ich es für dich tun?», fragte Kappe, der wusste, dass sie sich über ein Autogramm der Negri mehr freuen würde als über eine goldene Kette.
«Das würdest du tun?»
«Ja.»
Damit stand er auf und machte sich auf den Weg zum Tisch, den die Künstlertruppe besetzt hatte. Er wusste, dass er mit einer schüchtern vorgetragenen Bitte kaum eine Chance hatte, ans Ziel zu kommen, da musste er sich schon etwas einfallen lassen. Er überlegte einen Augenblick, dann hatte er’s. Seine Kripo-Marke trug er ja bei sich. Ein Disziplinarverfahren würden die Herrschaften ja nicht gleich anstrengen wollen.
Mit ein paar Schritten stand er hinter der Gruppe, die Marke gezückt.
«Entschuldigung, meine Damen und Herren, eigentlich müsste ich Sie alle festnehmen lassen, Sie werden schon wissen, warum, aber wenn die gnädige Frau hier meiner Frau ein Autogramm gibt, kann ich’s auch vergessen …» Damit hielt er der Diva eine Speisekarte hin.
«Mach es!», rief einer, der Ernst Lubitsch hätte sein können.
«Ich habe es immer gern, wenn Frechheit siegt.»
So kam Hermann Kappe zu seinem Autogramm, merkte aber schnell, dass er damit nur ein Eigentor geschossen hatte, denn Klara wusste nun umso mehr, was sie an ihm hatte, und kam erneut auf den anstehenden Umzug zu sprechen.
«Der Krieg ist aus und vorbei.» Den hatte er immer vorgeschoben, um sich nicht auf die Wohnungssuche machen zu müssen. «Und es geht wieder aufwärts mit Deutschland, da kann man’s wagen.»
«Das Jahr ist ja noch lang», sagte Kappe. «Wir haben ja gerade erst Mitte Januar.»
«Lass uns jetzt den Tag festlegen.»
Kappe suchte Zeit zu gewinnen. «Wo willst du denn am liebsten hinziehen?»
«Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.»
«Siehste.» Er freute sich, dass das Ablenkungsmanöver so gut gelungen war. Jetzt erschien auch noch der Ober, um die Bestellung aufzunehmen. «Einen Augenblick bitte noch …»
Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment lief ein Boy durch den Raum und hielt ein Schild mit Kappes Namen hoch. Das hieß, dass er am Telefon verlangt wurde.
«Entschuldige bitte, Schatz.» Er sprang auf und eilte zum Tresen, wo ihm der Buffetier den Hörer hinhielt.
«Hier Galgenberg. Doppelmord am Tegeler Forst, Dohnensteig, det Liebespaar Numma fünf.»
Landschaft war rar geworden im großen Berlin, doch hier oben im zukünftigen Bezirk Reinickendorf gab es sie noch. Zum Beispiel den Tegeler Forst, der knapp westlich der Nordbahn seinen Anfang nahm und hinunterreichte bis nach Tegelort, dem Ende des Tegeler Sees. Doch überall wurde der Wald, wurden die einzelnen Jagen von immer neuen Siedlungen kräftig angenagt. So auch westlich von Hermsdorf beziehungsweise nördlich von Tegel, wo die Einfamilienhäuser schon die Revierförsterei erreicht hatten. Die Straßen trugen so poetische Namen wie Amselgrund, Waldfrieden oder Waldspechtweg. Der Dohnensteig, der von der Bismarckstraße abging und nach nur wenigen hundert Metern am Waldfrieden endete, grenzte unmittelbar an einen Endmoränenhügel.
«Sehr praktisch», sagte Kappe. «Wer hier oben steht, kann den Leuten direkt ins Fenster sehen. Das wird unser Täter auch getan haben - morgen früh also alles absuchen lassen!»
Galgenberg nickte. «Man kann ja nie wissen … Haste Jlück, machste dick. Wir hatten mal ’n Fall, da hat eena am Tatort kacken müssen, und der hat sich dann den Hintan mit ’ner Quittung abjewischt, wo sein Name und seine Adresse druffjestanden ham.»
Schnell hatte man herausgefunden, um wen es sich bei den Opfern handelte: um den 35-jährigen Tischlermeister Herbert Kittlitz und seine drei Jahre jüngere Verlobte Erna Reczyn, eine Kontokorrentbuchhalterin der Firma Siemens & Halske. Auch der Tatablauf war klar: Der Täter war über die Terrasse ins Haus eingedrungen und hatte das Paar im Bett überrascht.
«Dann muss alles so abgelaufen sein wie bei den vier Fällen zuvor», sagte Dr. Kniehase. «Erst erschießt er den Mann, dann vergeht er sich an der Frau, die er zum Schluss auch erschießt, um der Gefahr zu entgehen, später von ihr identifiziert zu werden.»
Dr.-Ing. Konrad Kniehase hatte als Ingenieur im kaiserlichen Heer gedient und dann lange Jahre an der Artillerie- und Ingenieurschule gelehrt, bevor man ihn gezwungen hatte, wegen einer Liebesaffäre mit der Frau eines Vorgesetzten den Militärdienst zu quittieren. Nach einigem Hin und Her war er zur Kriminalpolizei gestoßen, wo man langsam aber sicher daranging, sich bei der Aufklärung von Verbrechen auch naturwissenschaftlicher Methoden zu bedienen. Er war ein Tüftler, der mit seinen kriminaltechnischen Untersuchungsergebnissen seinen Kollegen immer wieder weiterhelfen konnte. In letzter Zeit hatte er versucht, sich auch Kenntnisse auf dem Gebiet der forensischen Medizin anzueignen.
Das Bild, das sich ihnen in dem kleinen Einfamilienhaus bot, konnte nicht anders als grausig genannt werden. Den Mann hatte die Kugel mitten in den Mund getroffen, den er wahrscheinlich zum Schrei aufgerissen hatte. Er lag inmitten einer riesigen Blutlache lang ausgestreckt auf dem Fußboden des Flures, seine Verlobte gekrümmt auf dem zerwühlten Bett, dessen Bezüge und Laken in den bizarrsten Mustern blutgetränkt waren.
Dr. Kniehase wurde später in den Zeitungen mit dem Ausspruch zitiert, ohne seine Erfahrungen an der Westfront hätte er einen solchen Anblick gar nicht ertragen können. Der Tatablauf ließ sich ohne Mühe rekonstruieren: Das Paar liegt im Bett und liebt sich, als der Täter die Tür aufreißt. Kittlitz fährt hoch, sieht ihn und stürzt ihm entgegen. Auf dem kleinen Teppich am Fußende des Bettes wird er getroffen und bricht zusammen. Der Täter schleift ihn auf die Diele hinaus und lässt ihn dort liegen. Dann kehrt er ins Schlafzimmer zurück, vergewaltigt die Frau und jagt ihr danach eine Kugel in die rechte Schläfe.
Inzwischen war auch Ernst Gennat eingetroffen, der zwar mit anderen Fällen beschäftigt war und Kappe die Federführung bei der Fahndung nach dem Nordberliner Liebespaarmörder übertragen hatte, sich aber trotzdem einen Überblick verschaffen wollte.
«Die Frau hatte gerade eine Torte gebacken», sagte er und leckte sich ostentativ die Lippen. «Aber es ist doch sicher Leichenfledderei, wenn ich mir jetzt ein Stück davon nehme und es esse?» Kappe suchte ihn zu beruhigen. «Nein, auf keinen Fall. Es muss doch geprüft werden, ob sie nicht vergiftet war.»
«Sie sagen es, junger Mann! Aber es bleibt doch irgendwie pietätlos …»
«Ach was!» Auch Galgenberg wollte Gennats Bedenken zerstreuen. «Wie hat meine Mutta imma jesagt? ‹Spaß muss sein bei der Leiche, sonst jeht keena mit.›»
Derart mit einem reinen Gewissen versorgt, machte sich Gennat daran, die Torte zu probieren. Gleichzeitig sprach er mit den Beamten über den anliegenden Fall.
«Der Doppelmord hier am Drohnensteig unterscheidet sich ein wenig von den vorangegangenen», begann er.
«Ohne R», korrigierte ihn Dr. Kniehase.
«Was denn, es war doch ein Mord und kein Mod?»
«Eine Drohne, eigentlich: ein Drohn, ist eine männliche Biene, eine Dohne jedoch eine Schlinge zum Vogelfang, gefertigt aus Pferdehaar, befestigt an einem gebogenen Zweig. Oft hat man Dohnen in großer Zahl an Waldpfaden befestigt, das waren dann die Dohnensteige.»
«Hier jehts aba ums Vögeln und nich um Vögel», brummte Galgenberg.
«Heben wir mal ein bisschen das Niveau», rügte Gennat, während er sich an seiner Torte gütlich tat. «Noch einmal von vorn: Fällt Ihnen auf, meine Herren, worin sich der letzte Fall ein wenig von den anderen unterscheidet?»
Dr. Kniehase war etwas aufgefallen. «Ja, die Abstände zwischen den Taten werden immer kürzer. Betrugen sie anfangs noch ein Jahr und mehr, so sind von Oktober letzten Jahres bis heute gerade einmal drei Monate vergangen. Aber das wird von Serienmördern öfter berichtet, dass sie die Zufuhr an höchster Erregung in immer kürzeren Abständen benötigen, weil bei ihnen ein gewisser Abstumpfungseffekt eingesetzt hat. Das ist etwa so wie bei der Trunksucht.»
«Dem würde ich voll zustimmen», sagte Gennat. «Aber noch etwas …»
«Ja, der Täter ist hier am Dohnensteig zum ersten Mal nicht im Freien aktiv geworden ist, sondern hat ein Paar in seinem Haus überfallen.»
«Welche Frau liegt denn ooch jerne mitm nackten Arsch im Schnee!», rief Galgenberg. «Aba bis zum Mai hat er ja nich mehr warten können, wie der Doktor eben ausjeführt hat.»
«Galgenberg, denken Sie immer daran, woher Ihr Name kommt!», mahnte Gennat. «Können Sie auch einmal was Vernünftiges von sich geben?»
«Zu Befehl! Allet spricht dafür, det der Täter aus einer der Ortschaften kommt, die hier ringsum liegen: Tegel, Heiligensee, Sandhausen, Schulzendorf, Hermsdorf, Stolpe, Frohnau, Waidmannslust, Lübars … Da sollten wa uns mal umhören.»
«Zunächst einmal müssen hier überall Mordplakate kleben, damit die Leute auf alles achten. Die Anwohner hier am Dohnensteig befragen wir gleich jetzt, bei der Aufregung können die heute sowieso nicht schlafen.»
Kappe zog los, um mit den Nachbarn der Ermordeten zu reden. Trotz der Kälte standen sie an den Gartenzäunen oder hatten die Haustüren geöffnet, um miteinander zu reden, Dampf abzulassen und sich gegenseitig Mut zuzusprechen.
«Haben Sie denn keine Schüsse gehört?», war Kappes erste Frage.
Nein. Die einen hatten Karten gespielt und dabei ziemlichen Lärm gemacht, die anderen vierhändig auf dem Klavier gespielt.
«Sind Ihnen heute oder in den vergangenen Tagen irgendwie verdächtige Personen aufgefallen?»
Nein, niemand hatte Beobachtungen gemacht, die ihnen weiterhelfen konnten.
«Der Mörder wird sich von hinten durch den Wald angeschlichen haben», meinte Kittlitz’ Nachbar zur Linken. «Auf der Straße fällt man zu sehr auf, so einsam, wie das abends hier draußen ist.» Seine Frau begann, auf die Polizei zu schimpfen. «Das geht nun seit bald drei Jahren so, dass bei uns die Liebespaare ermordet werden. Was machen Sie eigentlich am Alexanderplatz? Wahrscheinlich pausenlos Torte essen.»
Kappe nahm es gelassen hin, er konnte die Wut der Leute verstehen. Aber sollte er zugeben, dass sie im Falle des Liebespaarmörders im Moment wirklich hilflos waren? Irgendwann würde der Täter einen Fehler machen, irgendwann würde der Zufall ihnen helfen. Aber wann? Erst nach der zehnten Tat?
«Was sollen wir machen? Wir können nur die Leute ermahnen, Vorsicht walten zu lassen …»
«Nun hören Sie mal!», rief die Frau. «Der Kittlitz und die Reczyn haben schließlich nicht im Wald und auf der Heide dran glauben müssen, sondern bei sich zu Hause im Schlafzimmer. Wo ist man denn hier seines Lebens noch sicher?»
«Es gibt ganz einfache Schutzmaßnahmen», sagte Kappe mit dem drastischen Humor, den er sich von Galgenberg abgeguckt hatte. «Man unterlässt jeden Geschlechtsverkehr oder ruft, wenn es denn unbedingt sein muss, vorher bei uns an, damit wir einen Beamten vorbeischicken.»
«Dann kommen Se ma jleich zu mir rüber!», rief einer der jüngeren Nachbarn von gegenüber. «Wir wollten jerade …»
«Hau ihm lieber eene uffs Maul!», rief ihm ein anderer zu.
«Det sind doch allet Schmarotzer.»
«Ich schwöre Ihnen, dass wir alles tun, um den Täter zu kriegen.» Kappe zog sich sicherheitshalber ein paar Meter zurück, denn es war nicht auszuschließen, dass einer der Männer die Beherrschung verlor und sich auf ihn stürzte. Die Liebe der Berliner zu ihrer Polizei war nicht eben ausgeprägt. «Wenn es Sie beruhigt: Der Täter wird sich hüten, am selben Ort zweimal zuzuschlagen.» Da flogen ihm hartgebackene Schneebälle um die Ohren, und nach einem Volltreffer gegen die Stirn flüchtete er sich in den Windfang des Tatorts.
«Na, haste ’ne kleene Schneeballschlacht jemacht?», fragte Galgenberg, der schon zurück war, aber auch nichts Brauchbares erfahren hatte.
«Die Leute geben uns die Schuld, dass das hier passiert ist, weil wir den Täter noch immer nicht haben», brummte Kappe.
«Und irgendwie haben sie ja auch gar nicht mal so unrecht.»
«Een Kind ohne Kopp is eben ’n Krüppel zeitlebens», sagte Galgenberg.
Dr. Kniehase kam hinzu. «Trampelt mal so wenig wie möglich draußen herum, vielleicht finden wir morgen, wenn es hell ist, doch noch eine Spur, die uns weiterbringt.»
Die Leute mit den Zinksärgen kamen, um die beiden Opfer in die Gerichtsmedizin zu bringen. Stumm und deprimiert saßen die Beamten in der Küche.
Einen Lichtblick sollte es aber doch noch geben. Gerade als sie zum Alexanderplatz zurückkehren wollten, erschien ein Schutzmann der Tegeler Wache, um zu melden, dass es noch ein drittes Opfer geben würde.
«Wie?», fragte Galgenberg mit nicht geringem Erstaunen.
«Ham die hier zu dritt …?»
«Nein, ein Elektriker aus Hermsdorf hat Schüsse gehört und wollte den Leuten hier zur Hilfe kommen, ist aber von dem Täter fast erschlagen worden. Ein gewisser Friedrich Schulz. Er konnte gerade noch fliehen. Auf der Bismarckstraße ist er zusammengebrochen, und ein Mann mit Hund hat ihn gefunden. Sie haben ihn in die Charité gebracht, weil er so schwere Kopfverletzungen davongetragen hat, dass die Ärzte hier nicht helfen können. Wenn er nur durchkommt!»