Kitabı oku: «Razzia»

Yazı tipi:


Horst Bosetzky

Razzia

Kappes 20. Fall

Kriminalroman

Jaron Verlag

Horst Bosetzky alias -ky lebt in Berlin und gilt als «Denkmal der deutschen Kriminalliteratur». Mit einer mehrteiligen Familiensaga (schließend mit «Kartoffelsuppe oder Das Karussell des Lebens», 2012), zeitgeschichtlichen Spannungsromanen sowie biographischen Romanen (wie «Der König vom Feuerland. August Borsigs Aufstieg in Berlin», 2011) avancierte er zu einem der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Neben der Romanserie »Wie Berlin und Brandenburg wurden, was sie sind: Unglaubliche Geschichten aus dem Mittelalter« verfasste er in den letzten Jahren unter anderem mehrere Bände zu den Krimireihen «Es geschah in Berlin» (zuletzt «Unterm Fallbeil», 2012) und «Es geschah in Preußen» (zuletzt «Mamsellenmord in der Friedrichstadt», 2012).

Originalausgabe

1. Auflage 2013

1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH

© 2013 Jaron Verlag GmbH, Berlin Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

ISBN 9783955520205

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titelseite

Impressum

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

QUELLEN

EINS

ES WAR DIE ZEIT der Künstler. Der Hungerkünstler. Das meinte jedenfalls Hermann Kappe, als er mit seinem Kollegen Gerhard Piossek auf dem Weg zum Mittagessen war. Der hatte im Hause Turmstraße 5 einen privaten Mittagstisch ausfindig gemacht.

« Eine Treppe rechts, Preisstufe 3, netter, gemütlicher Aufenthalt, Besteck mitbringen », referierte Piossek und las von einem kleinen Zettel ab, was an diesem Tage auf der Speisekarte stand und was dafür an Lebensmittelmarken abzuliefern war: « Jägersuppe (25 Br), Gemüsetopf, bürgerlich (25 N oder 50 Br, 5 F, 200 K), Ungarischer Gulasch mit Bayerisch-Kraut (50 Fl, 10 F, 400 K), Fruchtspeise mit Sauce (10 Z, 50 N). »

So ganz hatte Kappe das System der Lebensmittelmarken noch immer nicht begriffen, da das Einkaufen Sache seiner Frau war, aber er wusste immerhin, dass Br für Brot stand, F für Fett, N für Nährmittel, Fl für Fleisch und Z für Zucker. Nur was K meinte, wollte ihm in dieser Sekunde partout nicht einfallen. Käse, Kaffee-Ersatz, Kohlen?

«Mensch, Kartoffeln!», rief Piossek, als er ihn danach gefragt hatte.

Die beiden kamen aus dem Kriminalgericht, wo man sie in einem spektakulären Mordprozess angehört hatte, war es doch ihrer Arbeit zu verdanken, dass man der beiden Täter habhaft werden konnte und sie verhaftet hatte.

«Für die gilt Sartre», sagte Piossek, als sie am gedeckten Tisch Platz genommen hatten. «Les jeux sont faits.»

«Tut mir leid», brummte Kappe, «aber bei uns in Wendisch Rietz auf der Dorfschule hatten wir nur einen Französischlehrer, der kein Französisch konnte.»

«Das Spiel ist aus», übersetzte Piossek. «Bei uns ist ja gerade das Sartre-Fieber ausgebrochen, und der Film soll wirklich gut sein.»

«Wir waren gestern im Schlosspark-Theater», sagte Kappe. «Klara mit ihrem Kulturfimmel! Drei Mann auf einem Pferd. Mir wäre eine Portion Pferdefleisch lieber gewesen.»

Piossek lachte. «Vielleicht hast du das gleich auf dem Teller, deklariert als Schweinefleisch.»

«Solange es kein Menschenfleisch ist!»

«Wer weiß …» In dieser Hinsicht gab es allerlei Gerüchte in der Stadt. Man erzählte sich, dass Leute, die noch etwas mehr Fett auf den Rippen hatten, mit irgendwelchen Tricks in fremde Wohnungen gelockt wurden – um dann für immer zu verschwinden. Menschenfleisch sollte etwas süßlich schmecken. Piossek hatte bei diesem Gedanken auch gleich einen Kannibalenwitz parat. «Was essen Katholiken am Karfreitag? – Richtig, Fisch. – Und was essen Kannibalen am Karfreitag? – Fischer!»

Da wollte Kappe nicht hintanstehen. «Zwei Kannibalen verspeisen einen Clown. Da sagt der eine: ‹Der schmeckt aber komisch.›»

Piossek wusste noch einen. «‹Darf ich dir meinen Arm anbieten?›, fragt der verliebte Kannibale seine Angebetete. – ‹Danke›, entgegnet sie errötend, ‹ich habe schon gegessen!›»

«Guten Appetit, die Herren!» Die Dame des Hauses servierte das, was sie ungarischen Gulasch nannte.

Die beiden Kriminalkommissare versuchten, an etwas anderes zu denken, und redeten über die Schlagzeilen der Morgenzeitungen: Der amerikanische Kongress wollte im kommenden April den Marshall-Plan verabschieden, und in der britischen Zone hatte man die Entnazifizierung abgeschlossen. Letzteres war ein Thema, das Gerhard Piossek gar nicht behagte, war er doch mit einiger Begeisterung in die NSDAP eingetreten. Zum Glück hatten ihn gnädige amerikanische Offiziere als «Mitläufer» eingestuft, und er hatte seine Laufbahn bei der Berliner Kriminalpolizei fortsetzen können. Kappe akzeptierte ihn als Kollegen, aber dass sie einmal Freunde würden, hielt er für ausgeschlossen.

Schnell kam Piossek darauf zu sprechen, was sie nach der Mittagspause im Gerichtssaal erwartete und wie hoch das Strafmaß wohl sein würde.

Im Telegraf von Dienstag, dem 6. Januar 1948, konnten dann alle Berliner nachlesen, was passiert war:

Die gestrige erste Schwurgerichtsverhandlung im neuen Jahr endete mit einem Todesurteil gegen den 44jährigen Arbeiter Paul Sendsitzky wegen Raubmordes. Der 21jährige Mittäter Günter Köhler wurde zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe verurteilt und beiden die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt.

Die 70jährige Rentnerin Marta Döring wohnte in der Müllerstraße nur wenige Häuser von Sendsitzky, dem Sohn ihrer verstorbenen langjährigen Freundin, entfernt. Sendsitzky, der den Verkehr mit «Tante Marta» weiter pflegte, hatte im Mai trotz guten Verdienstes seine Arbeit aufgegeben, um leichter «organisieren» zu können. Dabei lernte er auf dem Rummelplatz den Angeklagten Köhler, der wegen Unregelmäßigkeiten aus dem Elternhaus gewiesen war, kennen und gab ihm Unterkunft. Als Köhler ihn fragte, wie man schnell Geld verdienen könne, gab er zur Antwort: «Wir gehen einfach rauf und schlagen die Olle vor’n Kopf.» – Ein kurzer gemeinsamer Besuch am Sonntagmorgen des 8. Juni. Verabschiedend reicht die alte Frau ihre Hand dem Sendsitzky, wird dabei von diesem zu Boden gerissen und gewürgt. Köhler hält ihre Hände fest. Sein Vorschlag, ihr «eins über den Kopf» zu geben, war überflüssig, das Opfer wehrte sich nicht. Gemeinsam legten sie die Bewußtlose aufs Bett, und während Sendsitzky ihr eine Plättschnur um den Hals knotete, da Köhler befürchtete, sie sei «noch nicht ganz weg», schnitt dieser schon Brote ab, die, mit Schmalz bestrichen und mit Zucker bestreut, verzehrt wurden. Darauf packten sie alles Mitnehmenswerte ein und verkauften die Beute für 2000 RM auf dem schwarzen Markt.

Marianne Migola stand am Küchenfenster, hauchte gegen die Eisblumen, welche die Scheiben von oben bis unten bedeckten, und benutzte ihre Fingernägel als Schaber, um sich ein kleines Guckloch zu schaffen, durch das sie auf den Hof hinuntersehen konnte. Sie wollte wissen, ob der Müll endlich abgeholt worden war. Nein, auch heute noch nicht, obwohl sich Unrat und Abfälle schon so hoch um die schweren eckigen Mülltonnen stapelten, dass diese kaum noch zu erkennen waren. Zwei Ratten suchten sogar jetzt am helllichten Tag in dem Haufen nach etwas Essbarem. Als ob die Berliner Essen wegwarfen!

Sie hatte Hunger. Wie sollte es auch anders sein! Seit sie nicht mehr als Trümmerfrau arbeitete, bekam sie schlechtere Lebensmittelkarten. Dafür hatte sie jetzt nicht mehr den ganzen Tag zu schuften und konnte morgens ausschlafen. Jetzt war es elf, und langsam musste sie frühstücken. Aber was? Im Küchenschrank lag nur der Rest eines Kommissbrotes, noch immer klitschig, aber wenigstens nicht verschimmelt. Davon konnte sie sich zwei Scheiben rösten. Als Belag hätte sie sich norwegischen Räucherlachs, Schwarzwälder Schinken, ungarische Salami und holländischen Käse gewünscht, doch was sie hatte, war lediglich ein letzter Zipfel Fleischwurst und ein Rezept, aus einer Zeitung ausgerissen:

Kartoffelwurstaufstrich

150 g gekochte, geriebene Kartoffeln, 1–2 Eßl. Milch, Salz, 1 Zwiebel,

25–50 g Wurst. Wurst sehr gut zerkleinern, ohne Fett rösten, feingeschnittene Zwiebel mitdünsten. Die Masse unter die gekochten Kartoffeln geben, Milch hinzufügen, abschmecken.

Sie murmelte «In der Not frisst der Teufel Fliegen» und machte sich ans Werk. Zum Glück funktionierte ihr Gasherd, während der Strom schon seit acht Uhr abgestellt war. Da sie ein paar gekochte Kartoffeln auf dem Fensterbrett liegen hatte, war ihr Brotauf strich schnell zubereitet, ebenso wie ihr Muckefuck. Nicht gerade zufrieden mit dem Leben, aber doch guter Dinge, saß sie dann am Küchentisch und frühstückte. Ihr Wohnzimmer war nicht geheizt, nur in der Küche, wo sie im Herd ab und an Feuer machte und wo auch ihre Nähmaschine stand, konnte sie sich längere Zeit aufhalten, ohne sich Frostbeulen an den Füßen zu holen. Natürlich nur, wenn sie zwei Hosen übereinander trug und über ihren dünnen Pullover noch ihren Rollkragenpullover streifte.

Gerade hatte sie die letzten Krümel mit der angefeuchteten Spitze ihres rechten Zeigefingers vom Teller in den Mund befördert, da klingelte es. Einmal lang, einmal kurz. Sie fuhr zusammen, denn so hatte Gerhard geklingelt, ihr Verlobter, bevor er an der Westfront gefallen war.

Marianne Migola sprang auf, lief auf den Korridor und sah durchs Guckloch. Draußen stand Edda Damaschke, die Freundin, mit der sie zusammen gelernt und bei einem Zwischenmeister am Hausvogteiplatz gearbeitet hatte. Sie zog die Kette ab und öffnete die Wohnungstür. «Herein, wenn’s keine Schneiderin ist!»

Edda lachte. «Ist es aber. Darf ich trotzdem?»

«Aber nur, wenn du wieder Bohnenkaffee im Rucksack hast …»

«Habe ich!», rief Edda. «Wer beim Richtigen die Beine breit macht, der hat alles.» Das war eine Anspielung darauf, dass sie regelmäßig mit John Drake ins Bett ging, einem US-Sergeanten aus Columbus, Ohio. Von vielen Menschen wurde sie deswegen mit scheelen Blicken angesehen, von manchen auch gehasst. Ihr war es egal, denn wie sagte ihre Mutter immer? Ist der gute Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert. Dass ihre Freundin Marianne so ehrpusselig war, konnte sie nicht recht verstehen. Bevor der nächste Krieg kam, musste man mitnehmen, was mitzunehmen war.

Marianne Migola holte ihre Kaffeemühle aus dem Schrank, schüttete die von Edda mitgebrachten Bohnen hinein und drehte geradezu andachtsvoll die Kurbel, bis das Mahlwerk alles zerkleinert hatte. Das Wasser kochte schon, und schnell war der Kaffee aufgebrüht. Marianne Migola geriet ins Schwärmen. «Schon allein der Geruch!»

Edda Damaschke staunte. «Bringt dir dein Süßer nie was mit nach Hause? Den hab ich doch auch schon auf dem schwarzen Markt gesehen.»

«Nee, der spart alles, der will sich ja selbständig machen.»

«Ach ja, die Männer!» Edda Damaschke stöhnte auf und begann dann zu singen:

Die Männer sind alle Verbrecher,

ihr Herz ist ein finsteres Loch,

hat tausend verschied’ne Gemächer,

aber lieb, aber lieb sind sie doch.

So wurde es ein schöner Vormittag. Als sie schon fast wieder am Gehen war, kam Edda Damaschke auf den eigentlichen Grund ihres Besuches zu sprechen. Sie hatte von ihrem GI ein großes Stück taubengrauen Stoff geschenkt bekommen. Sie holte es aus ihrem Rucksack. «Nadelstreifen-Gabardine, und daraus sollst du mir ein schickes Kostüm schneidern. Ich hab das alles verlernt und auch keine richtige Nähmaschine.»

«Ja, gern. Der Stoff reicht aber mindestens für zwei Kostüme.»

«Den Rest kannst du behalten.»

«Mensch, du! Danke!» Marianne Migola fiel der Freundin um den Hals.

Kaum war Edda Damaschke gegangen, holte Marianne Migola ihre Schnittmusterbögen aus der Schublade, rollte den Stoffballen auf dem Fußboden ab und markierte mit Schneiderkreide die einzelnen Teile des Kostüms, wie sie später auszuschneiden waren. Als sie sich sicher war, wie viel Stoff sie für das Kostüm brauchen würde, nahm sie eine Schere und trennte den Teil ab, von dem Edda Damaschke meinte, dass sie ihn behalten konnte. Schnell war der Stoff zusammengelegt und in ihrem Rucksack unterge bracht. Wenn sie den auf dem schwarzen Markt verscheuerte, hatte sie endlich wieder etwas Vernünftiges zu essen.

So machte sie sich auf den Weg zum Schlesischen Tor, wo sie den Stoff am besten gegen Butter, Wurst und Speck eintauschen konnte. Als sie unten auf der Fuldastraße stand, überlegte sie, ob sie mit der Straßenbahn bis zum Halleschen Tor fahren und dort in die U-Bahn umsteigen – oder das Geld sparen und laufen sollte. Sie schätzte, dass es knapp anderthalb Kilometer zu Fuß sein würden. Das schaffte sie in weniger als einer halben Stunde, zumal es bis jetzt noch kein richtiges Winterwetter gegeben hatte und die Bürgersteige eisfrei waren.

Ruinen gab es auf ihrer Route nicht viele. Die Martin-Luther-Kirche auf der gegenüberliegenden Straßenseite war wie die Gebäude kurz vor der Ossastraße zerstört worden, aber im weiteren Verlauf fehlte nur noch ab und an ein Haus. Um den Bayerischen Platz herum, wo die Engländer und die Amerikaner mit ihren Flächenbombardements alles in Schutt und Asche gelegt hatten, sah es anders aus. Es war ein trüber Tag, und die Straßen waren ziemlich leer. Auf dem Weichselplatz spielten keine Kinder, und rechts davon lag tief und schmutzig der Neuköllner Schifffahrtskanal. Schwäne gab es keine, die waren wohl schon lange in der Pfanne gelandet. Sie ging über die Brücke und kam in die Lohmühlenstraße und damit vom Bezirk Neukölln, gelegen im amerikanischen Sektor, in den Bezirk Treptow, der zum sowjetischen Sektor gehörte. Doch niemand kontrollierte sie. Es war überhaupt menschenleer in dieser Gegend. Wenn jetzt jemand aus den Büschen kam und über sie herfiel … Sie ging unwillkürlich etwas schneller und atmete auf, als sie kurz vor der Kiefholzstraße eine Brücke erreichte, die hinüber zum Görlitzer Ufer führte. Damit war sie in Kreuzberg und wieder im amerikanischen Sektor. Irgendwie fühlte sie sich hier sicherer. Über die Görlitzer kam sie zur Cuvrystraße. Die wollte sie hochgehen bis zur Schlesischen Straße, um dann zum Schlesischen Tor zu gelangen. Schon kamen ihr die ersten Schieber entgegen.

Mittelpunkt des schwarzen Marktes am Schlesischen Tor war das Restaurant Hackepeter an der Schlesischen Straße, Ecke Cuvrystraße. Hierher kamen auch viele Bewohner des sowjetischen Sektors, vor allem aus Friedrichshain über die nahe Oberbaumbrücke. Da der Schwarzhandel verboten war und man immer Angst vor einer plötzlichen Razzia haben musste, hielt man seine Waren nicht wie auf einem gewöhnlichen Markt feil, sondern benahm sich wie ein ganz normaler Spaziergänger und sprach leise vor sich hin, was man anzubieten hatte.

«Stoff», murmelte Marianne Migola. «Nadelstreifen-Gabardine …» Sie kam sich dabei vor wie ein Kind, das von seiner Mutter losgeschickt worden war und auf den Weg zum Kaufmann ständig wiederholte, was es einkaufen sollte. Doch niemand interessierte sich für ihr Angebot, so dass sie sich schließlich entschied, ihr Glück in der Gaststätte zu versuchen. Das Hackepeter war gut besucht, doch hinten an der Tür zur Toilette konnte sie noch einen freien Zweiertisch entdecken. Die Männer blickten ihr hinterher, offensichtlich in der Hoffnung, dass sie sich für einen Packen Butter und Speck selbst anbieten würde. Das war ihr furchtbar peinlich, und sie verfluchte ihre Idee, hier in der Gaststätte nach einem Interessenten für ihren Stoff zu suchen. Sie entschloss sich, das Lokal wieder zu verlassen, drehte sich um – und prallte gegen einen Mann, der gerade aufgestanden war, um die Toilette aufzusuchen. Sie schrie auf.

«Gott, habe ich Ihnen weh getan?»

«Nein, nein», stammelte sie, «es ist nur …» Dass er ihrem Gerhard, ihrem verstorbenen Verlobten, zum Verwechseln ähnlich sah, wollte sie dem Fremden nicht auf die Nase binden.

«Gestatten Sie, Peter Rembowski, Herrenausstatter. Ich bitte vielmals um Entschuldigung für mein kleines Missgeschick.» Er verbeugte sich mit einer Eleganz, die einem Willy Fritsch alle Ehre gemacht hätte. «Darf ich Sie als Wiedergutmachung zu einem Glas Glühpunsch einladen?»

Und führe mich nicht in Versuchung … Doch Marianne Migola hörte nicht auf ihre innere Stimme und folgte dem Mann an seinen Tisch. Als Herrenausstatter hatte er sicherlich Interesse an ihrem Stück Nadelstreifen-Gabardine.

Komm, Karlineken,

komm, Karlineken, komm,

Wir woll’n zu Pankow gehen,

da ist es wunderschön!

Während sie das Treppenhaus fegte, sang Frieda Kopisch mit Inbrunst dieses Lied. Sie hätte es sicherlich nicht gesungen, wenn sie gewusst hätte, dass ein gewisser Adolf Spahn es 1888 komponiert hatte – denn jeder, der Adolf hieß, war ihr grundsätzlich suspekt.

Herr Göritz, der einarmige Lehrer aus dem vierten Stock, der gerade vom Unterricht nach Hause kam, störte sich hingegen an etwas anderem.

« Nach Pankow, Frau Kopisch, nicht zu Pankow.»

«Nee, Sie, da wette ick jede Summe druff, det et zu Pankow heißen tut.»

«Heißt, nicht heißen tut.» Göritz konnte nicht anders.

Frieda Kopisch überhörte die erneute Verbesserung. «Mein Mann is ja aus Bremen jekommen, und da sagen se: Ick jehe nach Karstadt und nich wie wir zu Karstadt, also is det doch jehuppt wie jesprungen. Ach ja, mein Karl-Heinz mit seine Ausdrücke: Wurzeln zu Mohrrüben und Feudel zu Wischlappen. Und wenn wa spazierjegangen sind, eenmal um’t Karree rum, hatta jesagt: Um’m Pudding rum.» Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. Ihr Mann war in den letzten Kriegstagen ums Leben gekommen, als sich der Volkssturm im Bereich Prenzlauer Promenade und Binzstraße verschanzt hatte, um die Rote Armee an der Einnahme Berlins zu hindern.

Göritz hatte seinen rechten Arm bei einer Schlacht am Dnjepr verloren, klagte aber nicht weiter darüber, weil er der Meinung war, dass dieser «Heimatschuss» ihm das Leben gerettet habe. Und zum Glück war er Linkshänder. Dass er nun amtlich als Krüppel geführt wurde, störte ihn auch nicht weiter, und er zeigte gern auf seinen leeren rechten Ärmel und erzählte dabei seinen Lieblingswitz. Auch die Portiersfrau bekam ihn heute zu hören. «Ein Soldat hat seinen linken Arm und beide Beine verloren. Als er von der Front nach Hause kommt, sieht er, dass sein Wohnhaus in Schutt und Asche liegt, und erfährt, dass seine Frau und seine drei Kinder bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen sind. Da reißt er seinen verbliebenen Arm zum Hitlergruß hoch und ruft: ‹Hauptsache, Danzig ist deutsch!›»

Frieda Kopisch konnte darüber nicht so recht lachen, zumal sie wusste, dass Herr Göritz in der SED war. «Det is ma zu hoch», sagte sie dann auch.

«Dann man noch einen schönen Tag!», sagte Herr Göritz, während er seinen Weg nach oben fortsetzte.

«Ihnen ooch.» Die Hauswartsfrau sah ihm hinterher, griff wieder zu Handfeger und Müllschippe und arbeitete sich Treppenstufe für Treppenstufe langsam nach unten. Als sie auf dem Podest der ersten Etage angekommen war, hörte sie, wie unten die Haustür aufgestoßen wurde und Kinder lachten. Sie ahnte, was nun kommen würde, denn ein Lieblingsspiel der Jungen war «die Alte ärgern» – also sie. Und dies nur deshalb, weil sie tat, wozu sie da war: die Bengel vom Innenhof jagen, wenn sie dort auf den Mülltonnen spielten und lärmten. Eine Stinkbombe flog in den Hausflur, und der ätzende Qualm zwang sie, nach oben zu laufen und eines der schmalen Fenster aufzureißen, trotz der Kälte draußen. «Aasbande!», schrie sie nach unten. Wie man Stinkbomben baute, wusste sie von ihrem Enkel: Man nahm einen alten Rollfilm, den man den Eltern geklaut hatte, wickelte ihn in Zeitungspapier, so dass er aussah wie ein Knallbonbon, den man zu Silvester gebrauchte. Man zündete das Ganze an, warf es auf den Boden und trat es so schnell aus, dass es gewaltige Rauchwolken erzeugte.

Als sich der Qualm verzogen hatte, wollte Frieda Kopisch ihre Arbeit fortsetzen, doch da kam die Heinze die Treppe hoch, dieses aufgetakelte Ami-Flittchen. Die machte jetzt auf große Dame, dabei war sie die erste Mieterin gewesen, die im letzten Winter, als alle Abflussrohre eingefroren waren, auf Zeitungspapier gekackt und das stinkende Paket dann aus dem Fenster in den Hof geworfen hatte. Eine Ladung war dicht neben Frieda Kopischs Füßen gelandet. «Vor dem Haus unten ist es glatt, da muss einer was ausgekippt haben!», rief ihr die Heinze nun zu. «Sie sollten wieder mal wischen!»

«Nee, ick warte, bis Sie sich de Beene jebrochen ham», murmelte Frieda Kopisch, wusste aber, dass die Heinze recht hatte. Also machte sie sich auf den Weg in den Keller, um sich einen Eimer voll Asche zu holen und auf dem Bürgersteig vor ihrem Mietshaus zu verteilen. Sie hasste das, denn die Leute trugen ihr hinterher die ganze hellbraune Scheiße ins Treppenhaus, doch ihr Sand war schon aufgebraucht. Der Hauseigentümer war zu geizig, davon mehr anliefern zu lassen, und so gab es nur noch Asche zum Streuen.

Gewiss, sie hatte Haare auf den Zähnen und fürchtete weder Gott noch den Teufel, doch vor dem Gang in den Keller hatte sie doch einen ziemlichen Bammel. Wie oft hatte sie im Krieg bei Fliegeralarm hier unten gesessen, zitternd, weil sie einen Volltreffer erwartete. Das war jetzt schon drei Jahre her, aber noch immer roch es hier unten nach Todesangst. Dazu kam die Dunkelheit. Elektrisches Licht gab es nicht, denn die Leute klauten andauernd die Glühbirnen. Sie wusste das und hatte sich eine Kerze und eine Schachtel Streichhölzer in die Schürzentasche gesteckt. Sie zog die Kellertür auf und kramte danach. Um sich Mut zu machen, begann sie wieder zu singen:

Beim ersten Mal, da tut’s noch weh,

da meint man noch, dass man es nie verwinden kann.

Doch mit der Zeit, so peu à peu,

gewöhnt man sich daran.

Als sie mit dem Text nicht weiter wusste, pfiff sie nur – zwar nicht so schön wie Ilse Werner, aber immerhin. Endlich hatte sie alles gefunden, das Streichholz flammte auf, die selbstgegossene Kerze brannte, wenn auch nicht gerade hell. Frieda Kopisch machte sich auf den Weg. Links und rechts von ihr lagen die Keller der einzelnen Mieter, die im Grunde nur Bretterverschläge waren, jeder gesichert mit mindestens einem Vorhängeschloss. Die Kiste mit der Asche stand am Ende des Kellers in einer kleinen Nische. Als sie die erreicht hatte, prallte sie zurück, und ihr Schrei hallte hinauf bis ins oberste Stockwerk. «Hier liegt’n Tota! Hier ham se eenen erschlagen! Hülfe!»

Hartmut Kappe saß am Frühstückstisch und schmierte sich eine Schmalzstulle. Zu Weihnachten hatten sie ein sehr nahrhaftes Paket von seinem Onkel aus Wendisch Rietz erhalten, und noch reichten die Vorräte. Seine Frau war schon in aller Herrgottsfrühe zur Arbeit gegangen. Sie war Schaffnerin bei der Straßenbahn. So konnte er jetzt in aller Ruhe die Berliner Zeitung vom 15. Januar studieren. Obwohl durch und durch ein politischer Mensch, überflog er die erste Seite nur. Westliche Mißklänge. Die Diskussion um den imperialistischen Marshall-Plan der US-Amerikaner kannte er, und auch die anderen Überschriften reizten ihn nicht, sich in die Materie zu vertiefen. Holland pocht auf Eroberungsrecht. Die Kolonialpolitik der Niederlande in Indonesien interessierte in wenig. Trumans «Kriegshaushaltsplan». Dass die Amerikaner Unsummen in die Rüstung steckten, war bekannt. Libyen als USA-Sprungbrett. Man musste kein Prophet sein, um zu erahnen, was sich da global zusammenbraute. Schnell blätterte er weiter und kam zu den Berliner Seiten. US-Soldaten werden gesucht – Hundert Angehörige der Besatzung desertiert. Und nun regten sich die Amis auf, dass sie im sowjetischen Sektor kontrolliert wurden. Evakuierung Berlins schreitet fort. Immer mehr Firmen ließen ihre Betriebsausrüstungen per Schiff in den Westen bringen, auch die Möbeltransporte nahmen zu. Einbruch bei der Polizei. Bei seiner Dienststelle, also bei der Kriminalpolizei in der Dircksenstraße, hatten Einbrecher den Tresor der Asservatenkammer geknackt und Gegenstände von mehreren hunderttausend Mark mitgehen lassen. Sturmschäden verursachten Todesopfer. Der heftige Sturm am Mittwochabend hatte überall Ruinen zusammenfallen lassen, und in der Grünberger Straße hatte eine einstürzende Zimmerdecke eine Frau und ein Kind getötet. Das war tragisch. Eher schmunzeln aber ließ ihn, was in der Rubrik Notizbuch für Hausfrauen zu lesen war: In Kreuzberg gab es 500 Gramm Gemüse- oder Heringssalat für alle Männer über siebzig Jahre, und in Spandau konnte man beim «Amt für Aufbau» bis zum 11. Februar Anträge auf Fensterverglasung einreichen.

Seine Gedanken schweiften ab, denn am 11. Februar hatte sein Vater Geburtstag, da wurde er sechzig Jahre alt. «Mein Gott!» Er zuckte bei seinem Ausruf unwillkürlich selbst zusammen: Als Kommunist brachte man Gott besser nicht ins Spiel. Er wusste, das waren Überbleibsel bürgerlichen Denkens. Es reichte schon, dass sein Vater Hermann hieß – obwohl man ja bei seiner Geburt im Jahre 1888 kaum an Hermann Göring gedacht haben konnte.

Ehe er sich auf den Weg in die Dircksenstraße machte, warf er noch schnell einen Blick auf die hinteren Seiten der Zeitung. Raparations-Saboteure. Er stutzte, ehe er bemerkte, dass es sich hier um einen Druckfehler handelte. In Nürnberg standen fünf Angestellte der Chillingworth-Werke vor einem amerikanischen Militärgericht, weil sie in einem geheimen Keller wertvolle Maschinen eingemauert hatten, um sie der Demontage zu entziehen. Schiebungen von Großformat – Rauschgiftschmuggel, weiße Sklaven und Schwarzmarkt auf Interzonenbasis. Ein alter Nazioffizier, Angehörige der US-Armee und die Tochter eines deutschen Großindustriellen hatten sich in Bayern zu einem Schmugglerring zusammengeschlossen. Die deutschen Behörden waren ihm auf die Schliche gekommen, als die tizianrote Königin der Unterwelt ermordet und verstümmelt aufgefunden worden war. Im Westen waren wieder einmal herrliche Zeiten angebrochen!

Hartmut Kappe beendete seine Zeitungslektüre und machte sich auf zum Dienstantritt. Seit Oktober 1946 war auch die Berliner Polizei in Sektoren aufgeteilt, und die Verfolgung von Straftaten war weithin dezentralisiert, obwohl in der Dircksenstraße noch immer eine zentrale Dienststelle der Kripo existierte. Doch die lag im sowjetischen Sektor, was die Westalliierten mit großem Misstrauen erfüllte, hatten es doch die Kommunisten von Anfang an verstanden, die Leitungsfunktionen der Kripo ausschließlich ihren Leuten zu übertragen. Davon hatte auch Hartmut Kappe profitiert, der in Stalingrad als Leutnant in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten und nach dem Besuch einer Antifa-Schule zum Nationalkomitee Freies Deutschland gestoßen war. Paul Markgraf, den amtierenden Berliner Polizeipräsidenten, kannte er seit dieser Zeit persönlich, sehr gut sogar.

Man hatte Hartmut Kappe und seiner Frau eine Altbauwohnung in der Fruchtstraße zugewiesen, gleich an der Frankfurter Allee. Das hatte ihn sehr gefreut, denn in diesem Kiez hatte er gelebt, bei seinen Eltern noch, ehe er eingezogen worden war. Ein Stückchen weiter hin zum Alexanderplatz war das gewesen, in der Großen Frankfurter Straße, wo jetzt alles in Schutt und Asche lag.

Er hatte sich vorgenommen, zur Dircksenstraße zu laufen. Als er aber vor die Haustür getreten war, ging gerade ein kräftiger Schneeregenschauer nieder. Bei diesem Sauwetter nahm er doch lieber die U-Bahn. Er rannte zum Bahnhof Memeler Straße. Als er am Alexanderplatz ausstieg, wurde er von einem Kollegen angepflaumt.

«Na, Genosse Kappe, hart wie Kruppstahl scheinst du aber nicht zu sein, obwohl du vor Stalingrad gekämpft hast!» Es war Erich Mielke, der ihn da angesprochen hatte, der Leiter der Polizeiinspektion Lichtenberg.

Es entspann sich ein Gespräch über Mielkes Weigerung, ehemalige Polizeiangehörige wiedereinzustellen. «Ich will mir keine neuen Sozialdemokraten ins Haus holen, wir haben schon genug damit zu tun, die alten loszuwerden», erklärte er und warf Hartmut Kappe einen Blick zu, der einer Maßregelung gleichkam. «Dein Vater ist gerade in die SPD eingetreten, habe ich gehört?»

Hartmut Kappe senkte den Blick. «Ich habe in nächtelangen Gesprächen versucht, ihn davon abzubringen, aber vergeblich. Bitte lasten Sie es mir nicht an, dass er nun bei den Speichelleckern des Kapitalismus gelandet ist.»

Im Büro angekommen, wurde Hartmut Kappe schon von seinem engsten Mitarbeiter erwartet, dem Kriminalhauptwachtmeister Heinz Rösler, einem alten Spanienkämpfer, der ein wenig an Ernst Busch erinnerte, zumal wenn er sang: Wir sind die Moorsoldaten / Und ziehen mit dem Spaten ins Moor.

«Mord in Pankow», meldete Rösler, «Wolfshagener Straße. Die Hauswartsfrau hat einen gewissen Peter Rembowski tot im Keller aufgefunden.»

«Dann auf in den hohen Norden!»

Das alte Gennat’sche Mordauto gab es nicht mehr, aber wenigstens stand ihnen für ihre dienstlichen Zwecke ein betagter Mercedes zur Verfügung. Zwar mussten die beiden hinteren Türen mit einem Bindfaden verschlossen werden, aber immerhin. Die Trümmerwüste des Alexanderplatzes war schnell passiert, dann ging es die Prenzlauer Allee hinauf. Sie kamen über die Danziger Straße zur Schönhauser Allee und fuhren auf der Berliner Straße weiter nach Pankow. Die Wolfshagener Straße zog sich gleich hinter der Pfarrkirche Zu den vier Evangelisten, die auf dem Dorfanger in der Breite Straße hoch aufragte, in nordöstlicher Richtung durch ein Wohngebiet, das man als gutbürgerlich bezeichnen konnte. Die Kollegen vom örtlichen Revier, die schon alles abgesperrt und organisiert hatten, führten die beiden zum Fundort der Leiche.

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23 aralık 2023
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