Kitabı oku: «Razzia», sayfa 3

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«Wann ist denn dein erster Kampf?», wollte Hertha Börnicke von Karl-Heinz Kappe wissen.

«Nächstes Jahr vielleicht.»

«Na, da komme ich hin!»

Kappe war schon immer ein Freund des Boxsports gewesen, aber einen Kampf seines Sohnes hätte er sich gern erspart. Klara und er hatten früher davon geträumt, dass ihr Jüngster etwas Akademisches würde, Diplom-Ingenieur, Arzt oder Staatsanwalt.

«Was macht ihr’n hier?», fragte sein Sohn.

Kappe kam direkt zur Sache. «Ich suche nach jemandem, der einen gewissen Peter Rembowski gekannt hat.»

Sein Sohn grinste. «Ah, Auftrag von meiner Atze!»

«Von wem?»

«Von meinem Bruder, von Hartmut. Der darf nicht mehr im Westsektor ermitteln, und da hat er dich gebeten … Nee, du, keene Ahnung, wer den Langen auf’m Gewissen haben könnte.»

«Du hast ihn also gekannt?»

Sein Sohn nickte. «Ja, der hat mit Tabak gehandelt, und ich hab ihm mal geholfen dabei. Nicht hier, sondern hinten am Schlesischen Tor.»

«Und – weißt du was über Rembowski, das Hartmut weiterhelfen könnte?»

«Nee …» Sein Sohn hatte jetzt den Ring an der Hand seiner Tante entdeckt. «Mensch, wenn du den verscheuern willst, dann helf ich dir dabei. Zehn Prozent!»

DREI

EIN FREIES FELD. Schneebedeckt. Je schneller er laufen wollte, desto tiefer sank er ein. Ringsum gab es kleine Anhöhen. Russische Soldaten standen dort und feuerten auf ihn. Wie auf einen Hasen. Und wie ein Hase suchte er sich dadurch zu retten, dass er wilde Haken schlug. Die Russen lachten nur höhnisch und machten sich einen Spaß daraus, so zu zielen, dass die Kugeln ganz dicht an seinem Kopf vorbeipfiffen, ohne ihn aber zu treffen. Noch nicht. «Du Mörder!», schrien sie. «Mörder, Mörder!» Da durchschlug eine Kugel seine Luftröhre. Er röchelte, er war am Ersticken.

Helmut Trompale fuhr schreiend auf und tastete nach der Nachttischlampe. «Scheiße!» Immer wieder derselbe Alptraum. Es ärgerte ihn, dass er ihn nicht besiegen konnte, nicht auslöschen ein für alle Mal. Er war schließlich Boxer und hart im Nehmen. Und in Wirklichkeit hatte die feindliche Kugel ihn nur seitlich am Hals getroffen, ohne Schlagader und Luftröhre zu zerfetzen. Am Dnjepr war es gewesen, am 4. Dezember 1943. Er war danach zum

XXII. Festungs-Infanterie-Bataillon 999 gekommen und hatte das Kriegsende als Obergefreiter in der Schreibstube erlebt. Niemand war bisher gekommen, um ihn dafür anzuklagen, dass er mit seinem Kommando Hunderte von Partisanen erschossen hatte. Die Kameraden, mit denen er sprach, meinten auch, dass ihnen nichts passieren werde, es habe sich schließlich um einen Befehlsnotstand gehandelt.

Er wohnte in der Mariannenstraße, ein paar hundert Meter von der Kottbusser Brücke entfernt, also im Bezirk Kreuzberg, der wie Neukölln, Schöneberg, Tempelhof, Steglitz und Zehlendorf zum amerikanischen Sektor gehörte. Er selbst aber sprach nie von Kreuzberg, sondern immer nur von SO 36, dem Kiez zwischen dem zugeschütteten Luisenstädtischen Kanal und dem Landwehrkanal, der seinen Namen vom Postzustellbezirk Südost 36 herleitete. Man grenzte sich stets ab von jenen anderen Kreuzbergern, die im vornehmeren Zustellbezirk SW 61 zu Hause waren. Trompale war 25 Jahre alt, hatte den Beruf des Kalligraphen erlernt, arbeitete aber derzeit bei einer Schildermalerfirma in der Hobrechtstraße. Wenn er denn arbeitete. Der Handel auf dem schwarzen Markt war nämlich erheblich lukrativer.

Heute am Montag hatte er noch weniger Lust, zur Arbeit zu gehen, als sonst. Er brauche eine Frau, die ihm bei Bedarf in den Hintern treten würde, sagten seine Freunde schon seit langem, doch er hatte die Richtige erst letzten Herbst kennengelernt: Marianne. Die würde ihn schon an die Kandare nehmen und dafür sorgen, dass er regelmäßig zur Arbeit und zum Training ging.

Ein Blick auf seinen Wecker zeigte ihm, dass es bereits elf Uhr geworden war. Nun hatte es auch keinen Sinn mehr, in die Firma zu gehen. Sein Chef lag ohnehin im Krankenhaus. Er traf sich lieber wieder mit Karl-Heinz Kappe und half dem bei seinen Geschäften. Aber das hatte noch Zeit. So drehte er sich wieder zur Seite, um noch eine Runde zu schlafen.

Die Klingel im Flur ließ ihn zusammenfahren. Gott, die Polizei! Nein, es war die Chefin. Ihre Stimme war unverkennbar und nicht zu überhören. «Helmut, bitte kommen Sie in die Werkstatt, da ist ein dringender Auftrag zu erledigen!»

Was bei der dringend war, das wusste er. Aber mit ihr jetzt zu pimpern, das konnte er Marianne nicht antun. Die Zeiten waren vorüber. Endgültig. Also rief er ihr nur zu, dass ihm schlecht sei, er aber bis Mittag in der Hobrechtstraße sein würde. Grummelnd zog sie wieder ab.

Er ging in die Küche, um sich über dem Ausguss zu rasieren. Lange betrachtete er sein Gesicht im Spiegel. Sah so ein Mörder aus? Nein. Die Rasur verlief nicht ohne Verletzungen, denn die Seife war schlecht und die Rasierklinge stumpf. Einen Alaunstift hatte er nicht. Nun gut. Er röstete sich zum Frühstück zwei Scheiben klitschigen Brotes auf seiner Kochplatte und bestrich sie mit Melasse. Dann machte er sich auf den Weg zur Arbeit. Weit hatte er es nicht. Die Mariannenstraße mündete in den Kottbusser Damm. Die Notbrücke über den Landwehrkanal war zur überqueren, die alte war in den letzten Kriegstagen gesprengt worden und lag noch immer im Wasser. Ein paar hundert Meter ging es nun das Maybachufer entlang. Dort am Steg überwinterte der Ausflugsdampfer, mit dem er schon öfter zur Woltersdorfer Schleuse gefahren war. Wenn er wieder einmal an Bord ging, dann mit Marianne.

Mariandl-andl-andl,

aus dem Wachauer Landl-Landl.

Dein lieber Name klingt

schon wie ein liebes Wort.

Mariandl-andl-andl,

du hast mein Herz am Bandl-Bandl.

Du hältst es fest und lässt

es nie mehr wieder fort.

Diese Zeilen gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf, obwohl er sonst lieber im AFN Amerikanisches hörte, Jazz, Moonlight Serenade, In the Mood oder Chattanooga Choo Choo von Glenn Miller zum Beispiel.

Die Chefin fiel ihm um den Hals, als er in der Werkstatt erschien. Ohne ihn hätte Hannelore Patschek ihren Laden zumachen können. Sie hatte zwar noch einen Lehrling, aber der war herzlich unbegabt, «zum Scheißen zu dämlich», wie Herbert Patschek es einmal ausgedrückt hatte.

Dringend zu malen war das Ladenschild für die Kleine Melodie, das Tanzcafé mit Barbetrieb und Weinstube in der Skalitzer Straße 95. Es war schon eine Kunst, die Buchstaben so schwungvoll hinzubekommen, dass es nach Lebensfreude und Genuss aussah. Doch er schaffte es bis zum Feierabend und konnte das Schild mit dem Lehrling zusammen rechtzeitig anliefern und an der Hauswand befestigen.

Dann musste er sich sputen, um sein Rendezvous mit Marianne nicht zu verpassen. Um achtzehn Uhr wollte sie auf dem U-Bahnhof Rathaus Neukölln stehen und auf ihn warten. Von der Kleinen Melodie war es nur ein kurzes Stück bis zur U-Bahnstation Görlitzer Bahnhof, immer an der Hochbahntrasse entlang und an der Emmaus-Kirche vorbei. Hallesches Tor musste er umsteigen von der Linie BII in die Linie CI Richtung Grenzallee. Pünktlich konnte er Marianne in die Arme schließen. So eng umschlungen, wie es gerade noch schicklich war, stiegen sie hinauf zur Karl-Marx-Straße. Vor der Ruine des Rathauses überquerten sie die Fahrbahn. Vom Kiehl’schen Bauwerk von 1908 waren zwar die Innenräume zum großen Teil ausgebrannt und der Dachstuhl völlig zerstört, aber die Außenmauern waren erhalten geblieben. Im Gegensatz dazu war das alte Amtshaus an der Ecke Erkstraße nur noch ein einziger Trümmerhaufen. Sie gingen in das Café, das gegenüber dem Kaufhaus Friedland aufgemacht hatte. Marken für zwei Stücken Kuchen hatte er. Doch die richtige Stimmung mochte nicht aufkommen, auch nicht, nachdem sie eine Art Grog getrunken hatten.

«Du bist ja so bedrückt heute», sagte er.

«Du aber auch», kam es zurück.

Er seufzte. «Ja, weil … Bei der Razzia gestern haben sie mir alles abgenommen.»

«Du sollst doch endlich aufhören mit deinen Schiebereien!», zischte sie.

«Das mach ich doch nur deinetwegen. Damit du deinen Modesalon aufmachen kannst und ich mein Geschäft für Schilder, Stempel, Sportpokale und so. Das ist mein großer Traum, und du bist meine große Liebe.»

Theodor Trampe konnte mit Fug und Recht als sozialdemokratisches Urgestein bezeichnet werden. Er war gelernter Elektroinstallateur, hatte sich aber noch zu Zeiten von Kaiser Wilhelm II. der Politik und der Gewerkschaftsarbeit verschrieben und bald den Lötkolben gegen den Federhalter eingetauscht, das heißt sein Brot mit journalistischer Arbeit zu verdienen begonnen. Der Widerstand gegen Hitler hatte ihn ins KZ gebracht, er war aber mit dem Leben davongekommen. Wahrscheinlich hatte sein Freund Hermann Kappe mit seinen Beziehungen das Schlimmste verhindert. Nun war er Wirtschaftsdezernent im Bezirksamt Neukölln, also Stadtrat. Oft saß er in seinem kargen und schlecht geheizten Büro in den Resten des Rathauses und ließ an sich vorüberziehen, was seit April 1945 in Neukölln geschehen war …

Am 28. April 1945 hatte die Rote Armee nach dreitägigen Kämpfen das letzte Aufgebot von Waffen-SS und Volkssturm niedergerungen und den Bezirk erobert, am 11. September hatte ihn die amerikanische Besatzungsmacht übernommen. Von den rund 18 000 Gebäuden waren 11 000 völlig oder zumindest so sehr zerstört, dass sie nicht wiederhergerichtet werden konnten, was aber im Vergleich zu einigen Innenstadtbezirken wenig war. Relativ schnell war das zivile Leben wieder in Gang gekommen, hatten die öffentlichen Betriebe und die Verwaltung wieder funktioniert: BVG, Post, BEWAG, Wasserwerke, Krankenhäuser, Meldestellen, Bezugsscheinstellen. Schon im August 1945 hatte man das Amt «Neues Leben» eingerichtet, das sich um Chorgruppen, Laienmusiker, Briefmarkensammler, Schachspieler und Laienspielgruppen kümmerte. Die Devise hatte gelautet: Ärmel aufkrempeln, zupacken, aufbauen! Die Trümmerfrauen hatten Heroisches geleistet. Steine, die noch zu gebrauchen waren, hatten sie mit ihren Werkzeugen vom Mörtel befreit und sauber aufgeschichtet. Die nicht mehr zu verwendenden Ziegelbrocken und der abgeschlagene Mörtel waren in Kipploren geschippt und auf eigens verlegten Gleisen mit kleinen Dampflokomotiven in den Jahnpark geschafft worden, wo ein gewaltiger Trümmerberg entstanden war. Der Kältewinter 1946/47 hatte viele Opfer gefordert. Wärmestuben waren eingerichtet worden, und wer ins Kino gegangen war, hatte sich heiße Ziegelsteine mitgenommen, damit ihm die Zehen nicht abfroren. 1947 hatte die Kinderlähmung Angst und Schrecken verbreitet. Mit der Wirtschaft hatte es nach Kriegsende ganz schlecht ausgesehen, denn viele Betriebe, auch mittlere und kleine, waren demontiert worden.

Theodor Trampe erinnerte sich noch ganz genau an seine ersten Tage in Neukölln im Juli 1945 in der Sonderabteilung «Entnazifizierung von Industrie und Handwerk». Alle sogenannten Mitläufer hatten mit nur geringen Einschränkungen eine neue Gewerbegenehmigung bekommen, was ihm sehr contre cœur gegangen war, nur bei Naziaktivisten waren Treuhänder eingesetzt worden. Die Nordkabel AG, Eternit, Hasse & Wrede, NCR, die kleine Schuhfabrik Reh & Predel und Gaubschat hatten ihre Arbeit wiederaufgenommen. Wenn er an Gaubschat dachte, bekam er noch immer Bauchschmerzen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte man diesen Namen für immer und ewig aus dem Handelsregister löschen müssen, denn Gaubschat hatte ab 1942 die berüchtigten Gaswagen hergestellt, Spezial-LKWs, in denen Häftlinge mit eingeleiteten Abgasen getötet worden waren. Sein Lieblingskind war dagegen die Kindl-Brauerei, in der nach ihrer Demontage im November 1947 endlich wieder das erste Bier gebraut werden konnte. Ein Biersiphon stand auf dem kühlen Fensterbrett und wartete auf Theodor Trampes Freund Hermann Kappe.

«Den großen Autopreis von Argentinien gewann der Italiener Giuseppe Farina auf Maserati. Zweiter wurde sein Landsmann Achille Varzi auf Alfa Romeo. Den dritten Platz belegte der Franzose Jean-Pierre Wimille. » Hermann Kappe hatte die Sportseite des Telegraf aufgeschlagen und wollte seinen Kollegen Gerhard Piossek, der als großer Freund des Autorennsports galt, mit dieser Nachricht erfreuen.

Doch der winkte nur ab. «Heute ist ganz was anderes wichtig.»

Kappe blätterte demonstrativ in der Zeitung. «Was denn? Etwa, dass Willy Brandt vom SPD-Vorstand in Hannover zu dessen neuem Berliner Vertreter bestimmt wurde?»

Ihr Gespräch wurde unterbrochen, als der Polizeireporter des RIAS in der Tür stand und fragte, ob es im Mordfall Peter Rembowski etwas Neues gäbe.

Kappe stöhnte auf. Seine Cousine musste also etwas ausgeplaudert haben. «Nein, nicht dass ich wüsste.»

Der Reporter ließ nicht locker. «Er soll viele Freundinnen gehabt haben, auch welche aus den Westsektoren.»

«Keine Ahnung. Ich führe die Ermittlungen nicht.» Kappe gab sich so abweisend wie möglich.

«Aber Ihr Sohn …»

Der Journalist bekam aber keine weitere Antwort und zog wieder ab.

Kappe hatte keine Lust mehr, sich in die Akten mit den ungelösten Fällen zu vertiefen, und beschloss, Feierabend zu machen. Er verabschiedete sich von Piossek, hüllte sich in Schal und Mantel und lief zur Ecke Grunewaldstraße und Martin-Luther-Straße, von wo aus er mit der Straßenbahn zum Rathaus Neukölln fahren konnte.

Kappe und Theodor Trampe begrüßten sich mit alter Herzlichkeit und feierten den Umstand, dass Krieg und Naziherrschaft vorüber waren, mit ein paar Gläsern Kindl-Bier aus Neukölln.

«Kommst du noch mit ins Kino?», fragte Theodor Trampe, als der Siphon geleert war. «Ich habe durch meine Beziehungen zwei Karten für heute Abend bekommen.»

«Was gibt’s denn?», wollte Kappe wissen.

« Film ohne Titel. »

«Wie?» Kappe fühlte sich veräppelt.

Theodor Trampe erklärte ihm die Sache. «Es geht um eine Liebesgeschichte, um Christine und Martin. Vor dem Krieg ist er ganz oben, nach dem Krieg sie. Der Regisseur, der Drehbuchautor und die Schauspieler können sich nicht einigen, was für eine Art Film es werden soll, und einen Titel können sie auch nicht finden. Den sollen wir Zuschauer uns nun ausdenken. Nach der Vorstellung bekommen wir alle einen Zettel in die Hand gedrückt und sollen einen Titelvorschlag aufschreiben. Der Gewinner bekommt dreitausend Mark.»

«Nicht schlecht», sagte Kappe, ohne so recht begeistert zu sein. Erst als er hörte, dass Hildegard Knef eine der beiden Hauptrollen spielte, war er Feuer und Flamme.

VIER

DEN ANDEREN stockte der Atem, als Max Kallweit seine Sauer 38H aus der Hosentasche zog und zielte. «Das Schwein knall ich jetzt ab!»

Edeltraut Wollay fasste sich an den Kopf. «Bist du verrückt, den Knall hört man doch noch hinten in Brodowin. Nimm den Vorschlaghammer!»

Sekunden später hatte man Jolanthe getötet. Das Stichmesser fuhr ihr in den Hals und wurde in der Wunde gedreht. Das Blut quoll aus der Wunde. Der Metzger kniete auf dem Tier. Der Bauer, dem Jolanthe gehörte, kam mit der Blutschüssel und hielt sie unter die Einstichstelle.

Die beiden Berliner, Max Kallweit und Edeltraut Wollay, erlebten nicht zum ersten Mal ein solches Schauspiel. Schwarzschlachten war zwar streng verboten, aber in ganz Deutschland an der Tagesordnung.

Vor einem Jahr hatte Max Kallweit die Dreistigkeit gehabt, in Mecklenburg mit einer gefälschten Bescheinigung des Bezirksamtes Pankow unter Umgehung der geltenden Bestimmungen für lächerliches Geld Vieh aufzukaufen und es dann in abgelegenen Gehöften schwarz schlachten zu lassen. Auf dem Berliner Schwarzmarkt hatte er das Fleisch dann zu horrenden Preisen verkauft. Dieser Trick funktionierte 1948 nicht mehr, aber es gab genügend Bauern in Brandenburg und in Mecklenburg, die weiterhin mit ihm zusammenarbeiteten, obwohl der, den man beim Schwarzschlachten erwischte, eine hohe Geldstrafe zu zahlen hatte und mitunter auch im Gefängnis landete. Fleischbeschau und Trichinenuntersuchung entfielen natürlich. Allerdings gab es regelmäßige Kontrollen durch die Behörden, und illegal geschlachtete Tiere führten zu Fehlbeständen, wenn eine Viehzählung durchgeführt wurde.

«Was machst du denn, wenn morgen gezählt wird, und Jolanthe fehlt bei dir im Stall?», fragte Kallweit seinen Bauern.

Der lachte. «Dann borg ich mir bei meinem Bruder nebenan eine Sau aus, die so alt ist wie Jolanthe.»

Die Berliner sahen nun zu, wie das Tier gerüsselt wurde, das heißt, der Metzger schnitt ein Loch in den Rüssel, um das Schwein beim Brühen und Hären besser halten zu können. Beim Brühen wurden Borsten und Haut mit heißem Wasser gelöst, so dass sie abgekratzt werden konnten, das Hären war eine Art Rasieren, bei dem aufgepasst werden musste, dass die Schwarte nicht verletzt wurde. Es folgten das Lösen und Ausschneiden der Zunge und das Aufflechsen der Hinterfüße. Dann wurde das tote Tier an den Hinterbeinen aufgehängt, ausgeweidet und gespalten.

«Manchmal denke ich, dass ich auch nicht anders aussehen würde, wenn ich da hänge.» Max Kallweit hatte etwas von einem Komiker an sich, und manchmal ging der mit ihm durch, so wie vorhin, als er auf den Kopf des Schweins gezielt hatte.

«Wollen wir nicht nach Berlin zurück?», fragte Edeltraut Wollay. «Wir haben doch Fleisch genug zum Mitnehmen.»

«Ich will aber noch warten, bis sie mit der Leber- und der Blutwurst fertig sind, die bringen eine Menge Geld.»

Kurz nach Einbruch der Dämmerung saßen sie dann in ihrem dunkelblauen Kübelwagen und fuhren durch den Choriner Forst Richtung Eberswalde.

Der 11. Februar 1948 war ein Mittwoch, der Aschermittwoch. In den Schlagzeilen der Tageszeitungen ging es um den Nahen Osten:

Bedrohung des Friedens. Palästina braucht UN-Streitmacht – Feuergefecht in Jerusalem. Im Lokalteil des Telegraf nahm der Bericht über den Kottbusser Damm den größten Raum ein. Der sei bei den Bombenangriffen relativ gut davongekommen und auch heute wieder eine belebte Geschäftsstraße, nur sei leider die gesprengte Kottbusser Brücke noch nicht wiederaufgebaut. Man war dabei, die Trümmer abzutragen, konnte aber wegen des darunterliegenden U-Bahn-Tunnels keine großen Sprengladungen anbringen. Des Weiteren ging es um die Städtische Oper, wo die Belegschaft gegen den neuen Intendanten Front machte. Im Rathaus Steglitz hatte man eine 41-jährige Frau niedergeschlagen und ihrer Handtasche beraubt. Das alles fand Hermann Kappe nur mäßig spannend, erst die Überschrift Raabe schildert Bluttat ließ ihn richtig wach werden.

Der zweite Tag des Prozesses gegen den 25jährigen Zahnarzt Dr. Werner Raabe, der sich wegen Tötung des amerikanischen Korporals Claycomb vor dem Oberen amerikanischen Militärgericht zu verantworten hat, war reich gefüllt mit dramatischen Momenten. Der Angeklagte, der bislang eine gleichgültige Miene zur Schau getragen und häufig sogar Zeugen angelächelt hatte, brach beim Anblick seiner Mutter, die von der Verteidigung in den Zeugenstand gerufen wurde, in bitteres Schluchzen aus und verbarg sein Gesicht in den Händen.

Frau Gertrud Raabe, die Mutter, sagte aus, sie habe den später getöteten Korporal Claycomb gekannt und auch gewußt, dass er mit ihrem Sohn umfangreiche Schwarzhandelsgeschäfte betrieb. «Werner war sehr jähzornig», erklärte sie auf Befragen des Verteidigers. «Einmal habe ich ihm am Telefon Vorhaltungen darüber gemacht, dass er in letzter Zeit soviel Alkohol trank. Später erfuhr ich, dass er nach dieser Unterhaltung das Telefon zertrümmert und aus dem Fenster geworfen habe.» Die unglückliche Mutter war infolge seelischer Erschütterung nicht in der Lage, weitere Aussagen zu machen, und brach zusammen.

Rechtsanwalt Zellner erklärte, der Angeklagte habe den Korporal in Notwehr nach vorausgegangenem Streit erschlagen. Dieser Streit sei anläßlich eines Schwarzhandelsgeschäftes um 312 Büchsen Schokoladensirup entstanden. Raabe schilderte eingehend die Vorgänge am 22. und 23. Dezember. «Längere Zeit vor Weihnachten hatte ich Claycomb, mit dem ich häufig Geschäfte betrieb, darum gebeten, mir einen Posten Schokoladenstreifen zu besorgen, die ich vor dem Fest günstig abzusetzen hoffte. Claycomb bestellte für 150 Dollar Schokolade aus den Vereinigten Staaten, die indessen nicht eintraf. Dafür brachte er eine Kiste mit 312 Büchsen Schokoladensirup, die für 140 RM je Büchse verkauft werden sollten. Der Preis erschien mir zu hoch und wir einigten uns für 100 RM je Büchse. Nachdem ich Claycomb bis zum 16. Dezember bereits 9000 RM für die Lieferung bezahlt hatte, holte er sich am 22. Dezember weitere 21 000 RM ab. Am 23. Dezember war ich gerade dabei, mit dem Beil Holz klein zu machen, weil ich im Ofen Feuer anzünden wollte, als Claycomb kam. Er forderte ein Nachzahlung von 12 000 RM. Ich lehnte ab, verharrte auch auf meiner Weigerung, als sich Claycomb mit der Hälfte dieser Summe einverstanden erklärte. Es entstand ein heftiger Wortwechsel. Als Claycomb eine Schnapsflasche ergriff, und ich glaubte, dass er sie als Waffe gegen mich gebrauchen wollte, sprang ich mit einem einzigen Satz auf den Sessel zu, aus dem er sich gerade erheben wollte, und schlug ihn nieder.»

So weit war Hermann Kappe gekommen, als die Bürotür aufgestoßen wurde und seine Kollegen eintraten, um ihm zum sechzigsten Geburtstag zu gratulieren, an der Spitze Bruno Bliemeister, der Sektorassistent für Neukölln, Kreuzberg, Tempelhof, Schöneberg, Steglitz und Zehlendorf. Er sprach ein paar hehre Worte und überreichte Kappe neben einem kleinen Blumenstrauß eine Urkunde. «Ihre Ernennung zum Kriminaloberkommissar. Sie haben es verdient!»

Es war ein wunderbares Geschenk, die Kollegen klatschten Beifall. Hermann Kappe bekam feuchte Augen.

«Besser eine Beförderung in ein höheres Amt als ins Jenseits», sagte Gustav Galgenberg, der Kappe umarmte. «Wachse, blühe und gedeihe, mein Lieber! Weiter so!»

Die Kollegen hatten gesammelt und schenkten Kappe einen neuen «Kronleuchter», das heißt eine Deckenlampe, denn seit sie zu Hause ausgebombt worden waren, hatten sie immer nur eine nackte Glühbirne über dem runden Esszimmertisch hängen gehabt.

Kappe befand sich in einem Zustand, «als wennste träumst», wie es bei den Berlinern hieß. Auch ging ihm als Preußenliebhaber durch den Kopf, was der Prinz von Homburg ausgerufen hatte: Träum ich? Wach ich? Leb ich? Bin ich bei Sinnen? Unfassbar, dass er schon sechzig war! Dabei war er doch gerade erst gestern nach Berlin gekommen … Und was hatte er neulich bei Theodor Fontane gelesen?

Immer enger, leise, leise

Ziehen sich die Lebenskreise,

Schwindet hin, was prahlt und prunkt,

Schwindet Hoffen, Hassen, Lieben,

Und ist nichts in Sicht geblieben

Als der letzte dunkle Punkt.

Gustav Galgenberg fühlte, was ihn bedrückte, und versetzte ihm einen Stoß in die Rippen. «Mensch, Hermann, aufwachen!» Er solle sich nicht länger in seinem Elend suhlen, sondern froh und glücklich sein, dass er noch gesund und munter war. «Die Nazis haben ausgespielt, wat willste noch mehr? Alles geht aufwärts jetzt! Also Schluss mit Trübsal blasen!»

Das half, und Kappe fing sich wieder. In der Wartburgstraße gab es auch genug zu tun, denn sie hatten beschlossen, zu Hause zu feiern und nicht in einem teuren Etablissement, wo man Lebensmittelmarken, die für ein paar Monate gereicht hätten, abzuliefern hatte, wenn man einigermaßen gut essen und trinken wollte.

Die Einladungsliste war lang. Kappes Mischpoke war inzwischen so groß geworden, dass er manchmal witzelte, sie sollten sich endlich einen großen Stammbaum malen lassen und Fotos der Betreffenden an die Äste hängen, damit er in seinem hohen Alter noch wisse, wer wohin gehöre. Für siebzehn Familienmitglieder waren schließlich Tischkärtchen zu bemalen, und mit Theodor Trampe und Gustav Galgenberg kamen noch zwei alte Freunde dazu. Um die alle unterzubringen, musste man sich einen Tisch und ein Dutzend Stühle von den Nachbarn borgen. Klara wollte unbedingt, dass Kappe zur Feier des Tages noch den Korridor tapezierte und vor allem die Decke strich, die sähe ganz schwärzlich aus.

«Nicht mit mir.» Kappe wagte die Befehlsverweigerung.

«Dann such dir jemanden, der es macht!»

«Ja, Ludwig Latzke käme in Frage. Aber der ist leider tot.» Wie so viele andere galt sein alter Freund aus Wendisch Rietz seit März 1945 als vermisst.

Kappe hatte darauf bestanden, dass sein sechzigster Geburtstag auch wirklich am 11. Februar gefeiert wurde und nicht erst am Sonnabend danach, wie es so Sitte war, damit alle am nächsten Morgen länger ausschlafen konnten. Da alle 48 Stunden in der Woche arbeiteten, konnte man an einem Werktag allerdings erst um halb sieben abends mit dem Feiern beginnen, das Kaffeetrinken musste also ausfallen.

Als aufgetischt wurde, was Küche und Keller hergaben, riefen alle, dass sei ja fast so reichhaltig wie vor dem Kriege, und das war in diesen Jahren wohl das höchste Lob. Kein Wunder, Kappes Bruder Albert aus Wendisch Rietz hatte für die Fischsuppe am Anfang des Menüs gesorgt, sein Sohn Karl-Heinz für das Hauptgericht, einen wunderbaren Schweinebraten, sein Bruder Oskar für den Nachtisch und seine Schwester Pauline für den Wein. Wobei nur klar war, wie Albert an die Fische gekommen war – die anderen schwiegen lieber über ihre Quellen, schließlich waren drei Kripoleute in der Wohnung.

Nach der Suppe klopfte Bertha Kappe mit dem Rücken ihres Messers gegen ihr Glas und erhob sich, um das Festgedicht vorzutragen. Das war ein Ritual, das alle kannten und das ihnen sehr gefehlt hätte, sosehr sie auch über die Dichtkunst der alten Dame lästerten: «Reim mich, oder ich fress dich.» In Kurzform gab sie das ganze Leben ihres Sohnes wieder und endete schließlich mit den Worten:

Du bist ein Mann aus ganz besonderem Holz,

Von den Verbrechern gefürchtet, von uns allen geliebt,

Bist unser ganzer Stolz,

Sei weiterhin gesund und glücklich, wir beten dafür,

dass Dir unser Herrgott dies alles noch gibt.

Kappe dankte ihr mit einem Küsschen auf die Wange und umarmte sie. Er hatte in der Tat eine wunderbare Mutter.

Die obligatorische Rede zu halten war dem ältesten seiner Kinder zugefallen, und Hartmut hatte seit Weihnachten fast jeden Tag an seinem Text gesessen. Er war rhetorisch nicht sonderlich begabt und hatte sich daher jedes Wort vorher aufgeschrieben. Es war auch äußerste Vorsicht angebracht, denn er wollte seinen Vater an dessen Ehrentag nicht kränken, auch liebte er ihn auf eine stille und zurückgenommene Art und Weise, aber dennoch war er nicht ganz zufrieden mit ihm. Gut, er hatte sich die ganzen Jahre über seinen aufrechten Gang bewahrt und war nicht Mitglied der NSDAP geworden, aber so richtig im Widerstand gegen Hitler, wie Theodor Trampe etwa, war er auch nicht gewesen. Auch dass er nun in die SPD eingetreten war, ging dem SED-Genossen gegen den Strich. Zwischen Suppe und Braten war es an ihm, aufzustehen und sein Manuskript aus dem Jackett zu ziehen. «Lieber Vater, blickst du auf dein Leben zurück, so kannst du laut ausrufen: Welch Wandel der Epochen! Als du in Wendisch Rietz das Licht der Welt erblickt hast, war Wilhelm I. an der Macht, dann folgten 1888 Friedrich III. und schließlich Wilhelm zwo, unser letzter Kaiser. Es kamen die Weimarer Republik, die Herrschaft der Faschisten mit ihren Verbrechen und der Zweite Weltkrieg. Und jetzt leben wir in zwei Welten, die immer mehr auseinanderdriften.» Nach diesem historischen Exkurs kam er auf die Familie zu sprechen und dankte seinem Vater für seine Rolle als treusorgenden Familienvater, was in der NS-Zeit unsagbar schwer gewesen sei. «Und damit komme ich zu dem, was ich an dir so ganz besonders schätze: dass du nie ein Nazi gewesen bist und in deinem Beruf immer darauf aus warst, das Schlimmste zu verhindern. Viele Menschen hast du mit deiner aufrechten Haltung vor dem Tod im KZ und dem Fallbeil gerettet.»

Theodor Trampe begann zu klatschen, und alle fielen ein. Kappe war gerührt. Er selbst fand seine Haltung während der Hitlerzeit alles andere als beispielhaft, da war es wunderschön, wenn andere ihn viel positiver sahen.

Die Rede seines Sohnes endete damit, dass alle ihn hochleben ließen.

«Sto lat!», rief Hertha Börnicke und übersetzte das aus dem Polnischen. Bald sangen dann alle mit ihr:

Hundert Jahre, Hundert Jahre,

möge er leben, leben mit uns.

Hundert Jahre, Hundert Jahre,

möge er leben, leben mit uns.

Noch einmal, noch einmal, möge er leben, möge er leben,

Möge er für uns leben.

Während des Festmahls hatte man sich eine Menge zu erzählen. Wie man sich so durchs Leben schlug, wie man sich aus einem alten Militärmantel ein schickes Kostüm schneiderte, wie man ohne ein Gramm Fett einen Kuchen backte. Kappes Schwiegertochter Ingeborg berichtete von ihren Erlebnissen als Straßenbahnschaffnerin und über die, die das Fahrgeld nicht bezahlen wollten. Sein Bruder Oskar referierte über das, was alles als Tabakersatz herhalten musste: «Die Blätter von Ahorn, Brombeere, Eiche oder Kirsche, manche schneiden auch ihre Matratze auf.» Kappes Schwägerin Friedel hatte als Trümmerfrau viel erlebt, seine Schwester Pauline mit ihrer gerade ausgeheilten Tbc und seine Cousine Hertha bei einer Reportage über die deutschen Frolleins, die mit ihrem GI in die Staaten gehen wollten. Seine Enkelin Marlies, sieben Jahre alt, wollte sich auch am Gespräch beteiligen und schwärmte von ihrer Schulspeisung: «Grießbrei mit Aprikosen, und Nachschlag hat es auch gegeben.»

Kappes Neffe Otto, als Kriminalkommissar beim englischen Sektorassistenten am Kaiserdamm angesiedelt, überraschte die Gesellschaft mit der Mitteilung: «Der Schuft ist tot!»

«Welcher?», kam die Frage. «Es sind doch noch viele übrig geblieben.»

Otto Kappe meinte Gustav Schuft, den Olympiasieger im Mannschaftsturnen von 1896 in Athen. «Das war noch mein Trainer bei der Turngemeinde in Berlin.»

«Wer hat ihn denn ermordet?», wollte Albert Kappe wissen.

«Wieso denkst du, dass er ermordet wurde?»

«Na, weil du doch bei der Mordkommission bist …»

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