Kitabı oku: «ad Hans Kelsen. Rechtspositivist und Demokrat»

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Horst Dreier

ad Hans Kelsen Rechtspositivist und Demokrat


E-Book (ePub)

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021

Alle Rechte vorbehalten.

Covergestaltung: Christian Wöhrl, Hoisdorf

Signet: Dorothee Wallner nach Caspar Neher »Europa« (1945)

ePub:

ISBN 978-3-86393-570-2

Auch als gedrucktes Buch erhältlich:

© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2021

Print: ISBN 978-3-86393-114-8

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter

www.europaeische-verlagsanstalt.de

Inhalt

Zur Einführung

Hans Kelsen (1881–1973)

I. Lebensstationen: Von Prag über Wien und Köln nach Berkeley

II. Das Lebenswerk: Die Reine Rechtslehre

III. Interpretationslehre und Verfassungsgerichtsbarkeit

IV. Bundesstaat, Staatslehre, Völkerrecht

V. Demokratietheorie

VI. Politikwissenschaft, Soziologie, politische Philosophie

VII. Rezeption

VIII. Wissenschaft als Heimat

Kelsens Demokratietheorie: Grundlegung, Strukturelemente, Probleme

I. Einführung

II. Sozialphilosophische Grundlegung: Individuelle Freiheit und staatliche Ordnung

III. Strukturelemente demokratischer Ordnung

IV. Ein Gegenmodell: Carl Schmitts Lehren über die Demokratie

V. Drei Nachfragen zu Kelsens Demokratietheorie

Joh 18, Wertrelativismus und Demokratietheorie

I. Zur Deutung von Joh 18: Was ist Wahrheit?

II. Zur Bedeutung von »Wertrelativismus«

III. Zur Ausdeutung von Demokratie: Freiheit in der pluralen Gesellschaft

Anmerkungen

Auswahlbibliographie der Schriften Kelsens

Literaturhinweise

Zur Einführung
I.

Hans Kelsen gilt nicht wenigen als der bedeutendste Jurist des 20. Jahrhunderts. Dieser Ruhm verdankt sich in erster Linie seiner epochalen „Reinen Rechtslehre“ (1. Aufl. 1934, 2. Aufl. 1960)1, der gewiß scharfsinnigsten und elaboriertesten Theorie des Rechtspositivismus. Darin besteht zweifelsohne das zentrale Vermächtnis Kelsens. Dennoch ist er sehr viel mehr als ein außerordentlicher Jurist und überragender Rechtstheoretiker. So war er maßgeblich an der Ausarbeitung der österreichischen Bundesverfassung von 1920 beteiligt, die zum ersten Mal in der modernen Verfassungsgeschichte die Einrichtung einer organisatorisch und funktionell selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit vorsah. Zwei Jahrzehnte später verfaßte Kelsen eine große soziologische Studie über „Vergeltung und Kausalität“ (1941), die dem Wandel der Denkstrukturen von den frühen archaischen Stammesgesellschaften über die klassische Antike bis hin zur Neuzeit und der Moderne nachspürt. Zeit seines Lebens setzte er sich kritisch mit allen denkbaren Erscheinungsformen des Naturrechts auseinander, angefangen von den griechischen Klassikern Platon und Aristoteles über die christlichen Denker des Mittelalters bis hin zu Vertretern der Sozialphilosophie der Aufklärung und der Neoscholastik. Davon legt neben vielen weiteren Schriften nicht nur seine Abschiedsvorlesung über die Frage: „Was ist Gerechtigkeit?“ (1953) Zeugnis ab, sondern auch die postum erschienene Monographie „Die Illusion der Gerechtigkeit“ (1985). Breiten Raum nimmt in seinem Gesamtwerk zudem das Völkerrecht ein, wobei er nicht nur dessen theoretische Grundlagen traktierte, sondern auch den ersten, knapp tausend Seiten starken Kommentar zur UN-Charta von 1945 verfaßte („The Law of the United Nations“, 1950). Besonders in seinen frühen Schaffensperioden hat er sich immer wieder verfassungspolitischen Fragen gewidmet, namentlich Problemen des Wahlrechts, der bundesstaatlichen Organisation und der Verfassungsreform, und diese in engagierten Beiträgen kommentiert. Vor allem aber ist Kelsen ein eminenter Demokratietheoretiker, dessen Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ (2. Aufl. 1929) auf den Prämissen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Pluralität aufbaut und schon darin ihre Modernität und Aktualität offenbart. Sie gilt zu Recht als eine der wichtigsten Demokratiebegründungsschriften überhaupt.

II.

Die vorliegende Zusammenstellung von drei Aufsätzen zu Kelsen kann und will nicht den Anspruch erheben, sein riesiges und facettenreiches Gesamtwerk auch nur annähernd zu durchdringen und umfassend darzulegen. Es geht vielmehr darum, zu zentralen Elementen seines Œuvres einen ersten Zugang zu eröffnen und dadurch seine Positionen und Leistungen ansatzweise erkennbar werden zu lassen. In diesem Sinne einer Hin- und Einführung bietet der erste Beitrag („Hans Kelsen 1881–1973“) neben einer knappen biographischen Skizze einen Überblick über die wichtigsten Aspekte seines Schaffens. Im Mittelpunkt steht naturgemäß die „Reine Rechtslehre“, deren zentrale Elemente (wie die Stufenbaulehre und die Interpretationstheorie) ebenso vorgestellt werden wie die schillernde Figur der Grundnorm, die in dieser Theorie des Rechtspositivismus eine ähnliche Rolle spielt wie die volonté générale in Jean-Jacques Rousseaus „Contrat Social“.

Die beiden folgenden Beiträge konzentrieren sich auf Kelsens Demokratietheorie. Diese Schwerpunktsetzung verdankt sich zum einen der Überlegung, daß seine diesbezüglichen Schriften gerade in Deutschland sehr spät (fast noch später als seine ebenfalls lange Zeit entweder kaum beachtete oder geschmähte Rechtstheorie) rezipiert worden sind, nämlich erst in den 1980er Jahren. In der Politikwissenschaft hat es noch einmal zwei Jahrzehnte länger gedauert, bis auch dort die Bedeutung und Modernität von Kelsens pluralistisch-liberaler Demokratiekonzeption erkannt und gewürdigt wurde. Zum anderen scheint es gerade in unseren Tagen angesichts bedrohlicher antiliberaler und antidemokratischer Tendenzen selbst im Herzen Europas wichtiger denn je zu sein, sich auf die Grundlagen einer demokratischen Ordnung, ihre gedanklichen Prämissen und ihre konzeptionellen Tragpfeiler zu besinnen. Der Beitrag über „Kelsens Demokratietheorie“ entfaltet demgemäß vor allem die sozialphilosophischen Grundlagen und systemtragenden Strukturelemente von Kelsens Demokratieverständnis, die durch die Kontrastierung mit dem Gegenmodell Carl Schmitts noch einmal stärkeres Profil gewinnen.

Der dritte und letzte Beitrag widmet sich vertieft dem Wertrelativismus als einem zentralen Element in Kelsens Demokratiebegründung. Hier dient als Kontrastfolie vornehmlich die Position des überaus prominenten Wertrelativismus-Kritikers Josef Kardinal Ratzinger, des späteren Papst Benedikt XVI. Diese Gegenüberstellung liegt nicht allein deswegen nahe, weil der katholische Theologe Ratzinger sich wiederholt dezidiert kritisch zu Kelsen geäußert hat, sondern auch, weil Kelsen sich in seinen einschlägigen Schriften mehrfach auf die im 18. Kapitel des Johannes-Evangeliums geschilderte biblische Szene bezieht, in der Jesus vor dem römischen Statthalter Pontius Pilatus erscheint und dieser die berühmte Frage „Was ist Wahrheit?“ an ihn richtet. Die Pointe liegt darin, daß Kelsen aus dieser Geschichte und ihrem Fortgang ein Argument für den Wertrelativismus zu schmieden versteht.

III.

Einführungen in die Werke bedeutender Autoren wollen erste Einblicke gewähren, aber vor allem auch zu vertieftem weiteren Studium anregen. Diesem Zweck dienen zum einen die Anmerkungen zu den drei Beiträgen, zum anderen die Auswahlbibliographie Kelsens sowie die Hinweise zur Sekundärliteratur. Dieses Material findet sich am Ende des vorliegenden Büchleins und soll eine gezielte Vertiefung ermöglichen. Besondere Hervorhebung verdient hierbei die jüngste dort verzeichnete Publikation, nämlich die 2020 erschienene, rund tausend Seiten starke Biographie Kelsens von Thomas Olechowski („Hans Kelsen – Biographie eines Rechtswissenschaftlers“)2. Für Leben und Werk Hans Kelsens stellt dieses maßstabsetzende Buch mit seiner geschickten Verschränkung von Lebens- und Werkgeschichte eine unerschöpfliche Fundgrube dar. Kelsen war ein langes, ein bewegtes – und auch bewegendes – Leben beschieden. Es war ein weiter Weg vom Wien des fin de siecle bis nach Kalifornien in Zeiten von flower power. Allein die Spanne seiner Publikationen erstreckt sich über mehr als sechs Jahrzehnte: die erste Veröffentlichung erschien 1905, die letzte 1968. Diese sechs Jahrzehnte sind durch gewaltige politische Zäsuren und tiefgreifende gesellschaftliche Wandlungsprozesse gekennzeichnet. Im Rückblick erstaunt nicht zuletzt angesichts des phasenweise unsteten Schicksals und der Unsicherheit von Kelsens akademischer Position der hohe Grad an thematischer Kontinuität seines wissenschaftlichen Werkes und die ausdauernde Beharrlichkeit seiner Arbeit daran. Auch wenn man ihn nicht als den Juristen des 20. Jahrhunderts ansehen mag – ein Jahrhundertjurist war er ohne jeden Zweifel.

1 Die genauen bibliographischen Angaben zu den im folgenden genannten Werken finden sich in der Auswahlbibliographie Kelsens am Ende dieses Bandes.

2 Vgl. dazu meine Rezension: Das Recht, so wie es ist, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 194 vom 21. August 2020, S. 10.

Hans Kelsen (1881–1973)
I. Lebensstationen: Von Prag über Wien und Köln nach Berkeley

Mehr als zehn Ehrendoktorate, darunter die der Universitäten Utrecht (1936), Harvard (1936), Chicago (1941), Berkeley (1952), Berlin (1961), Wien (1961), Paris (1963), Salzburg (1967) und Straßburg (1972); hohe und höchste Auszeichnungen, darunter das Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst (1961) sowie der Ehrenring der Stadt Wien (1966); Übersetzungen der eigenen Werke in weit über 20 Sprachen, darunter englisch, französisch, italienisch, spanisch, portugiesisch, schwedisch, ungarisch, tschechisch, hebräisch, japanisch, koreanisch, chinesisch; drei ihm gewidmete Festschriften; geläufige und häufige Charakterisierung als der „Jurist des 20. Jahrhunderts“ – als Hans Kelsen am 19. April 1973 nahe der amerikanischen Pazifikküste starb, war er ohne Zweifel ein berühmter, vielgeehrter und in aller Welt hoch geachteter Mann der Wissenschaft1. Vorgezeichnet war ihm dieser Weg zweifelsohne nicht, als er am 11. Oktober 1881 in Prag als Sohn eines jüdischen Lampenhändlers geboren wurde, und auch nicht, als die Familie nach Wien übersiedelte, wo er nach der Matura 1900 und nach dem Studium der Rechtsund Staatswissenschaften an der Wiener Universität 1906 promoviert wurde2. Der eigenem Bekunden zufolge religiös indifferente Kelsen trat 1905, um sich eine akademische Karriere nicht zu verbauen, zum römisch-katholischen Glauben, 1912 kurz vor seiner Heirat mit Margarete Bondi wie diese wiederum zum evangelischen Glauben (Augsburger Bekenntnis) über3. Den Grundstein für seinen wissenschaftlichen Ruhm legte er dann 1911 mit seiner Habilitationsschrift4. Das grundlegend Neue dieser Arbeit blieb den Zeitgenossen nicht verborgen5, und in den nächsten Jahrzehnten erarbeitete Kelsen mit einer Vielzahl von Einzelpublikationen eine vollständige Neukonzeption der Rechtswissenschaft, die in dem 1934 erschienenen und „Reine Rechtslehre“ betitelten Werk ihre erste gültige Zusammenfassung finden sollte6. Doch liegen zwischen diesen beiden Jahreszahlen (1911, 1934) nicht nur wesentliche weltgeschichtliche Ereignisse, sondern auch wichtige Etappen im Leben und im Wirken Kelsens. Während des Ersten Weltkrieges war er krankheitsbedingt im Kanzleidienst tätig, vor allem im Kriegsministerium, wo er zuletzt als Referent des Kriegsministers Stöger-Steiner als Verfassungsexperte wirkte7. Staatskanzler Dr. Karl Renner zog ihn 1918 zur Mitarbeit am Entwurf einer neuen Verfassung heran. Kelsens verbreitete Charakterisierung als (gar alleiniger) „Schöpfer“ der österreichischen Bundesverfassung von 1920 geht sicher zu weit; man wird seiner Bedeutung eher gerecht, wenn man ihn als einen der wesentlichen Mitgestalter oder vielleicht als Architekten dieses Staatsgrundgesetzes apostrophiert8. Eine wesentliche Rolle hat er zweifelsohne bei der Etablierung einer Verfassungsgerichtsbarkeit gespielt, und zwar in Gestalt eines besonderen, institutionell verselbständigten Gerichtshofes mit der Kompetenz zur abstrakten und konkreten Normenkontrolle von Landes- und Bundesgesetzen9. Diesem Verfassungsgerichtshof gehörte er dann auf einen überparteilichen Vorschlag hin seit 1920 als „auf Lebenszeit“ gewählter Richter (und einer der wenigen ständigen Referenten) an10. Freilich führten in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre eskalierende politische Konflikte dazu, daß es bei der Bestellung auf Lebenszeit nicht blieb. Stein des Anstoßes vor allem für die konservativen Kräfte war die maßgeblich von Kelsen geprägte und verantwortete liberale Haltung des Gerichtshofs in der Frage der sog. Dispensehen11. In der Folge kam es zu einer unter der Flagge der Entpolitisierung segelnden Ablösung aller Verfassungsrichter; für eine Neuwahl (allein) auf Vorschlag der SPD stand Kelsen nicht zur Verfügung.

Auch in seinem akademischen Hauptamt kam es zu maßgeblichen Veränderungen. Er war seit 1919 als Nachfolger seines akademischen Lehrers, Edmund Bernatzik, ordentlicher Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Wien; mit einigen seiner Kollegen hatte er sich in jenen Jahren zum Teil heftige wissenschaftliche Dispute geliefert12. Zudem dürften ihn die Anwürfe speziell aus katholischen Kreisen sowie die allgemein wachsende antisemitische Stimmung bedrückt haben. So nimmt er denn am 15. Oktober 1930 den Ruf auf den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Allgemeine Staatslehre und Rechtsphilosophie der Universität Köln (damals nach Berlin die zweitgrößte Preußens) an – ganze acht Monate nach seiner Entsetzung als Richter des Verfassungsgerichtshofs. Ungeachtet der auch bei dieser Berufung nicht ausgebliebenen Querelen13 folgt eine wissenschaftlich fruchtbare und befriedigende Phase14. Sie endet jäh. Während seiner Amtszeit als Dekan wird er am 12. April 1933 als einer der ersten Betroffenen auf Grund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 entlassen, wovon er aus der Zeitung erfährt15. Es beginnen schwierige Jahre. Zunächst lehrt er in Genf am „Institut universitaire des hautes études internationales“, ab 1936 hat er dann zusätzlich das Ordinariat für Völkerrecht an der Deutschen Universität in Prag inne, wo es jedoch bald zu antisemitischen Propagandaaktionen der Studentenschaft kommt, so daß seine dortige Lehrtätigkeit mit dem Ende des Wintersemesters 1937/38 endet16. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges emigriert er, mittlerweile 60jährig und der englischen Sprache kaum mächtig, im Juni 1940 in die USA17. Dort kann er zunächst als Lecturer an der Harvard Law School, zwei Jahre später als Lecturer in Political Science in Berkeley unterkommen, wo er bis an sein Lebensende blieb. Von 1945 bis zu seiner Emeritierung 1952 wirkt er als Full Professor am Political Science Department in Berkeley für „International law, jurisprudence, and origin of legal institutions“. Seine Abschiedsvorlesung widmet er der Frage der Gerechtigkeit18. Die Zeit der Pensionierung ist gekennzeichnet durch unvermindert rege und intensive wissenschaftliche Tätigkeit bei gleichzeitiger Pflege internationaler Kontakte. Vielfache Ehrungen und Einladungen führen ihn rund um die Welt, auch nach Deutschland und Österreich, ohne ihn dort in irgendeiner Weise wieder heimisch werden zu lassen. Seine Heimat war einzig die Wissenschaft. Im hohen Alter von über 90 Jahren stirbt er am 19. April 1973 in der Nähe von Berkeley und folgt damit seiner wenige Monate zuvor verschiedenen Frau Margarete nach, mit der er über 60 Jahre verheiratet war.

II. Das Lebenswerk: Die Reine Rechtslehre

Zeit seines Lebens hat Kelsen an einer Theorie des Rechts gearbeitet, der er im Laufe der Jahre den Namen „Reine Rechtslehre“ gegeben hat. Grundgelegt wurde sie in seiner Habilitation von 1911, sodann in zahlreichen Aufsätzen und Monographien fortentwickelt19, monographisch in der ersten Auflage von 1934 und der im Umfang mehr als vervierfachten Auflage von 1960 in eine konsolidierte Gestalt gebracht20, ohne daß Kelsen danach seine Bemühungen um weitere Verbesserung, Korrektur oder Vertiefung seines Konzepts eingestellt hätte. Nur folgerichtig befaßt sich Kelsens letzte zu Lebzeiten publizierte Veröffentlichung in sehr detaillierter Weise mit kritischen Einwänden gegenüber seiner Lehre21. Auch nach 1960 hat er an seinem Theoriegebäude kleinere und größere Umbauten vorgenommen. Davon legt insbesondere die postum erschiene Studie über eine allgemeine Normentheorie22 Zeugnis ab, die zu einigen, zum Teil als gravierend einzuschätzenden Revisionen bestimmter Theorieelemente geführt hat23. Im folgenden kann es nur holzschnittartig um zentrale Aspekte und wesentliche Grundzüge gehen.

1. Das Wissenschaftsprogramm

Mit der Reinen Rechtslehre intendiert Kelsen, wie es im Vorwort zur ersten Auflage programmatisch heißt, die „Jurisprudenz auf die Höhe einer echten Wissenschaft, einer Geistes-Wissenschaft zu heben“ und die Rechtswissenschaft dem „Ideal aller Wissenschaft, Objektivität und Exaktheit, soweit als irgend möglich anzunähern“24. Gefährdungspotential für dieses Wissenschaftsprogramm25 erblickt Kelsen zum einen in der Vermengung von Aussagen über das Recht mit (rechts-)politischen Auffassungen und persönlichen Wertungen bis hin zu der tief eingewurzelten „Gewohnheit, im Namen der Wissenschaft vom Recht […] politische Forderungen zu vertreten“. Die Nähe zu Max Webers Konzept der Werturteilsfreiheit ist unverkennbar26. Genauso wie jener erhebt er insofern nicht die Forderung, auf Werturteile zu verzichten, sondern lediglich, wissenschaftliche Aussagen und politische Meinung voneinander zu trennen27. Und ebensowenig wie jener leugnet Kelsen keineswegs die politischen, ökonomischen, sozialen und sonstigen Kausalfaktoren bei der Entstehung und Durchsetzung des Rechts28. Kelsen propagiert nicht die Reinheit des Rechts im Sinne seiner illusionären Enthobenheit von realen gesellschaftlichen Prozessen. Gefordert wird vor dem Hintergrund eines in neukantianischer Tradition29 scharf herausgearbeiteten Dualismus von Sein und Sollen vielmehr die Reinheit der rechtswissenschaftlichen Behandlung des Rechts. Die Reine Rechtslehre will nicht Lehre des reinen (guten, richtigen, gerechten) Rechts, sie will vielmehr reine (unverfälschte, objektive) Lehre des Rechts sein30. Die Entpolitisierungsforderung bezieht sich allein auf die Wissenschaft vom Recht, nicht auf das Recht selbst, um dessen wertungsabstinente Rekonstruktion und Darstellung es geht.

Bei der Bewältigung dieser Aufgabe befindet sich Kelsen in einer doppelten Frontstellung31 einerseits gegenüber den Kausalwissenschaften, insbesondere der Rechtssoziologie, andererseits gegenüber allen Strömungen, die das positive Recht einer höheren, nichtjuristischen Normsphäre unterwerfen wollen, wie das vor allem für das Naturrecht gilt. Kelsen hält auf der einen Seite die Sollensdimension des Rechts gegen alle Versuche fest, rechtswissenschaftliche Normbeschreibung durch Explikation kausaler Zusammenhänge zu ersetzen oder zu verdrängen. „Die Faktizität sagt juristisch eben gar nichts.“32 Das Recht ist ein normatives Deutungsschema realer Vorgänge, das diesen einen bestimmten Sinn verleiht. Deswegen lehnt Kelsen auch „realistische“ Konzeptionen ab, die – wie beispielsweise der skandinavische Rechtsrealismus33 – die Sollenskomponente letztlich leugnen bzw. in psychische Zwangsvorstellungen auflösen wollen. Speziell der Rechtssoziologie wird freilich die Existenzberechtigung nicht abgesprochen, doch besteht Kelsen auf klarer Abgrenzung der verschiedenen Disziplinen mit entsprechendem Bewußtsein für deren je spezifische Methoden sowie ihre unterschiedliche Erklärungsweite und -richtung. „Rechts- und Staatssoziologie sind durch Kelsens Theorie nicht ausgeschlossen, sie sind nur als Soziologie zu betreiben.“34

Komplettiert wird das Bemühen um die Reinheit rechtswissenschaftlicher Erkenntnis durch die Ablehnung des Naturrechts. Ungeachtet der Vielfalt von Aussagen und Argumenten, die Kelsen im Laufe seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Naturrecht vorgebracht hat, steht auch hier der Gedanke im Vordergrund, das Erkenntnisobjekt so klar wie möglich zu erfassen. Resultierte die Gefährdung durch die Kausalwissenschaften aus einem drohenden Verlust der Sollenssphäre, so resultiert sie nun aus der Überlagerung der Rechtssphäre durch eine andere, als höherrangig angesehene Sollenssphäre eines wie auch immer näher begründeten und ausgeformten Naturrechts. Einer solchen Vermengung normativer Welten und Systeme hält Kelsen die Position entgegen, daß die Rechtswissenschaft das positive, vom Menschen gesetzte Recht ohne relativierende oder korrigierende Beimischung anderer Normensysteme zu erkennen und zu erfassen habe, worin zugleich ein Antidot gegen ideologische Aufladungen des Rechts gesehen wird35. Es geht, dem Objektivitätsideal der Wissenschaft entsprechend, um das Recht, wie es ist, nicht, wie es sein sollte. Rechtswissenschaft soll das Recht weder billigen noch mißbilligen, sondern erkennen und beschreiben36. Auch das fehlerhafte, unsittliche Recht gehört dem Normensystem Recht an und kann – und muß unter Umständen – vom Standpunkt der Ethik und der Moral kritisiert werden. Die Qualifizierung einer effektiven Zwangsordnung menschlichen Verhaltens als Rechtsordnung sagt Kelsen zufolge über deren Dignität und Anerkennungswürdigkeit nichts aus, schon gar nicht ziehen die Rechtsnormen eine Gehorsamspflicht nach sich37. Die Frage, ob das Recht zu befolgen ist oder ob man dagegen revoltieren sollte, kann nicht vom positiven Recht selbst beantwortet werden. Diese Antwort überläßt die Reine Rechtslehre der autonomen Entscheidung eines jeden Einzelnen und seiner religiösen, weltanschaulichen, politischen oder sonstwie geprägten Werthaltung.

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